Das Haus, vor dem die Kutsche schließlich hielt, war ein niedriges Gebäude, von einer dicken Mauer umgeben. Bolitho hielt es für eines der ältesten Häuser Rios. Es besaß den zusätzlichen Luxus eines großen Gartens und einer gepflegten Auffahrt.
Ein farbiger Diener empfing Bolitho ohne das geringste Zeichen von Überraschung und führte ihn in eine große, kreisrunde Eingangshalle, in der Marmorvasen voll Blumen standen, wie Bolitho sie auch im Garten gesehen hatte, und einige Plastiken, die in ihren Nischen wie verliebte Wachtposten in Schilderhäuschen wirkten.
Bolitho blieb in der Mitte der Halle zögernd stehen, ungewiß, was er als nächstes tun solle. Ein weiterer Diener ging vorbei, schaute auf irgendeinen fernen Punkt und ignorierte den Brief in Bolithos Hand.
Stockdale grollte.»Ich werde die Burschen auf Trab bringen, Sir!»
Eine Tür öffnete sich geräuschlos, und Bolitho bemerkte einen schmächtig gebauten Mann in weißer Kniehose und plissiertem Hemd, der ihn musterte.
Er fragte:»Sind Sie vom Schiff?»
Bolitho staunte, denn der Mann war Engländer.»Ja, Sir. Ich bin Leutnant Richard Bolitho von Seiner Britannischen.»
Der Mann trat mit ausgestreckter Hand näher und begrüßte ihn.
«Ich kenne den Names des Schiffes, Leutnant. Ganz Rio kennt ihn inzwischen.»
Er führte ihn zu einem von Bücherregalen umsäumten Raum und bot ihm einen Stuhl an. Als die Tür von einem unsichtbaren Bediensteten geschlossen wurde, sah Bolitho, daß Stockdale auf dem gleichen Platz stand, wo er ihn verlassen hatte, bereit, ihn zu beschützen und — wenn er irgendeinen Verdacht schöpfte — das Haus Stein für Stein niederzureißen.
«Mein Name ist Jonathan Egmont. «Der Hausherr lächelte höflich.»Das wird Ihnen nichts sagen, denn Sie sind noch sehr jung für Ihren Rang.»
Bolitho ließ die Arme auf den Stuhllehnen ruhen. Es war ein schön geschnitzter Lehnstuhl, er mußte hier — wie das ganze Haus — schon lange stehen.
Eine weitere Tür öffnete sich, und ein Diener wartete darauf, daß Egmont ihn bemerkte.»Etwas Wein, Leutnant?»
Bolithos Mund war wie ausgedörrt.»Ein Glas würde ich gern annehmen, Sir.»
«Ruhen Sie sich aus, während ich lese, was Ihr Kommandant mir mitzuteilen hat.»
Bolitho sah sich im Raum um, als Egmont zu einem Tisch hinüberging und Dumaresqs Brief mit einem goldenen Stilett aufschlitzte. Rundherum Bücher über Bücher, und auf dem Boden einige wertvolle Teppiche. Es war schwierig, Einzelheiten zu erkennen, weil seine Augen noch vom Sonnenlicht geblendet waren; außerdem waren die
Fenster so dicht verhängt, daß es fast zu dunkel war, um den Gastgeber näher zu betrachten. Ein intelligentes Gesicht, dachte Bolitho. Der Mann schien um die Sechzig zu sein, aber die Menschen in diesem Klima alterten schneller. Es war schwierig zu erraten, was Egmont hier tat und wie Dumaresq ihn entdeckt hatte.
Egmont legte den Brief sorgsam auf den Tisch und schaute zu Bo-litho hinüber.
«Ihr Kommandant hat Ihnen nichts über den Inhalt erzählt?«Er sah Bolithos Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf.»Nein, natürlich nicht. Es war falsch, Sie danach zu fragen. «Bolitho sagte:»Er befahl mir, den Brief unverzüglich zu überbringen. Das ist alles.»
«Verstehe. «Einen Augenblick schien er unsicher, sogar besorgt. Dann sagte er:»Ich werde tun, was ich kann. Es wird selbstverständlich einige Zeit dauern, aber da der Vizekönig nicht in der Residenz ist, wird Ihr Kommandant sicherlich noch bleiben.»
Bolitho öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, als die Tür sich öffnete und eine Frau mit einem Tablett eintrat. Er sprang auf und schämte sich sogleich seines zerknitterten Hemdes und seiner schweißverklebten Haare. Denn er kam sich wie ein Vagabund vor im Vergleich zu dieser Gestalt; sie war das schönste Wesen, das er je gesehen hatte.
Ganz in Weiß gehalten war ihr Gewand, in der Taille durch einen schmalen goldenen Gürtel zusammengerafft. Ihr Haar glänzte pechschwarz wie seines und fiel, obwohl im Nacken durch ein Band gebändigt, üppig auf ihre Schultern, deren Haut wie Seide glänzte.
Sie musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, wobei sie den Kopf leicht auf die Schulter neigte.
Egmont war aufgestanden und sagte förmlich:»Das ist meine Frau, Leutnant Bolitho.»
Bolitho verbeugte sich.»Es ist mir eine Ehre, Madam. «Er wußte nicht, was er weiter sagen sollte. Ihre Erscheinung bewirkte, daß er sich unbeholfen vorkam und unfähig, auch nur einen Satz herauszubringen; aber auch sie hatte noch nichts zu ihm gesagt.
Sie setzte das Tablett auf einen Tisch und hielt ihm die Hand entgegen.
«Seien Sie uns willkommen hier, Leutnant. Sie dürfen meine Hand küssen.»
Bolitho ergriff die Hand, fühlte ihre weiche Haut und roch ihr Parfüm, das ihm vollends den Kopf verdrehte.
Ihre Schultern waren nackt, und trotz des Zwielichts im Raum sah er, daß sie violette Augen hatte. Sie war schön, ja, mehr als das. Auch ihre Stimme, als sie ihm die Hand geboten hatte, war aufregend. Wie kam es, daß sie Egmonts Frau war? Sie mußte beträchtlich jünger sein, Spanierin oder Portugiesin, gewiß keine Engländerin. Bolitho hätte sich nicht gewundert, wenn sie direkt vom Mond heruntergestiegen wäre.
Er stammelte:»Richard Bolitho, Madam.»
Sie trat einen Schritt zurück und hielt eine Hand vor den Mund. Dann lachte sie.»Bo-li-tho! Ich glaube, es ist leichter für mich, wenn ich Sie nur mit >Leutnant< anrede. «Ihr Gewand schwang herum, als sie sich ihrem Mann zuwandte.»Später, denke ich, darf ich Sie einfach Richard nennen.»
Egmont sagte:»Ich werde einen Brief schreiben, den Sie mitnehmen können, Leutnant. «Er schien hinter seine Frau, ja, durch sie hindurchzuschauen, als ob sie nicht da wäre.»Ich werde tun, was ich kann.»
Sie wandte sich wieder Bolitho zu.»Bitte kommen Sie uns besuchen, so lange Sie in Rio sind. «Sie deutete einen kleinen Knicks an, und ihre Augen ruhten dabei auf seinem Gesicht. Dann sagte sie mit weicher Stimme:»Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen.»
Dann war sie verschwunden, und Bolitho sank in seinen Stuhl, als ob ihm die Beine weggezogen worden wären.
Egmont sagte:»Es wird einen Augenblick dauern. Genießen Sie den Wein, während ich Tinte und Papier hole.»
Schließlich war es geschafft, und als Egmont den Umschlag mit feuerrotem Siegellack verschloß, bemerkte er kühl:»Erinnerungen wirken lange nach. Ich lebe hier nun schon viele Jahre und war nur selten — außer in geschäftlichen Angelegenheiten — verreist. Und dann kommt eines Tages ein Schiff des Königs, befehligt von dem Sohn eines Mannes, der mir einst sehr nahestand, und plötzlich ist alles verändert. «Er hielt ihm den Brief hin.»Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.»
Stockdale betrachtete Bolitho neugierig, als er die Bibliothek verließ.»Alles erledigt, Sir?«Bolitho hielt inne, weil sich eine andere Tür öffnete und er Mrs.
Egmont dastehen sah. Sie sagte nichts und lächelte nicht einmal, sondern schaute ihn lediglich an — als ob sie sich etwas Unbekanntem ausliefere, dachte Bolitho. Dann bewegte sich ihre Hand und hob sich einen Augenblick an ihre Brust. Bolitho fühlte, daß sein Herz so heftig schlug, als wollte es sich zu ihrer Hand drängen.
Die Tür schloß sich, und Bolitho glaubte fast, er habe sich alles nur eingebildet oder der Wein sei zu stark gewesen. Als er aber Stockdales Gesicht sah, wußte er, daß es kein Trugbild gewesen war.
«Wir kehren besser zum Schiff zurück, Stockdale.»
Stockdale folgte ihm hinaus ins Sonnenlicht. Keinen Augenblick zu früh, dachte er.
Es war Dämmerung, als das Boot, das sie von der Landungsbrücke abgeholt hatte, an den Rüsteisen festmachte. Bolitho kletterte zur Fallreepspforte hinauf, mit seinen Gedanken noch bei der wunderschönen Frau im weißen Gewand.
Rhodes wartete auf ihn mit den Fallreepsgasten und flüsterte ihm schnell zu:»Der Erste Offizier erwartet Sie, Dick.»