Ahasver richtete sich langsam vom Boden auf. Er starrte noch einen Augenblick benommen vor sich hin; dann erinnerte er sich. Er flüsterte etwas.
Berger drehte sich um.»Ich bin schuld«, krächzte der Alte plötzlich.»Ich – mein Bart – dadurch ist er hergekommen! Sonst wäre er drüben geblieben. Oi -«
Er begann mit beiden Händen an seinem Bart zu zerren. Tränen stürzten ihm übers Gesicht. Er war zu schwach, um sich die Haare auszureißen. Er saß auf dem Boden und zerrte seinen Kopf hin und her.
»Geh in die Baracke«, sagte Berger scharf.
Ahasver starrte ihn an. Dann ließ er sich vornüber aufs Gesicht fallen und heulte.
»Wir müssen gehen«, sagte 509.
»Wo ist der Zahn?«fragte Lebenthal.
509 griff in die Tasche und hielt ihn Lebenthal hin.»Hier -«
Lebenthal nahm ihn. Er zitterte.»Dein Gott!«stammelte er und machte eine vage Bewegung zur Stadt und der ausgebrannten Kirche hinunter.»Deine Zeichen! Deine Feuersäule!«509 tastete wieder nach seiner Tasche. Er hatte das Stück Brot gefühlt, während er den Zahn herausnahm.
Was hatte es nun genützt, daß er es nicht gegessen hatte. Er hielt es Lebenthal hin.
»Iß es selbst«, sagte Lebenthal wütend und hilflos.»Es ist deins.«
»Für mich hat es keinen Zweck mehr.«
Ein Muselmann hatte das Brotstück gesehen. Er stolperte rasch heran, den Mund weit offen, umklammerte den Arm von 509 und schnappte danach. 509 stieß ihn weg und schob das Brotstück in die Hand von Karel, der die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden hatte. Der Muselmann griff nach Karel. Der Junge trat ihm ruhig und genau gegen das Schienbein. Der Muselmann schwankte, und die anderen stießen ihn weg.
Karel sah 509 an.»Werdet ihr vergast?«fragte er sachlich.
»Hier gibt es keine Gaskammern, Karel. Du solltest das wissen«, sagte Berger ärgerlich.
»Das haben sie uns in Birkenau auch gesagt. Wenn sie euch Handtücher geben und euch sagen, ihr sollt baden, dann ist es Gas.«
Berger schob ihn beiseite.»Geh und iß dein Brot, sonst nimmt es dir ein anderer weg.«
»Ich passe schon auf.«Karel stopfte das Brot in den Mund. Er hatte gefragt, wie man nach einem Reiseziel fragt, und hatte nichts Böses gemeint. Er war in Konzentrationslagern aufgewachsen und kannte nichts anderes.
»Kommt -«sagte 509.
Ruth Holland begann zu weinen. Ihre Hände hingen wie Vogelkrallen am Stacheldraht. Sie fletschte die Zähne und stöhnte. Sie hatte keine Tränen.
»Kommt -«sagte 509 noch einmal. Er ließ die Augen über die Zurückbleibenden gleiten. Die meisten waren schon gleichgültig in die Baracken zurückgekrochen. Nur die Veteranen und ein paar andere standen da. Es schien 509 plötzlich, als habe er noch etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen, etwas, von dem alles abhinge. Er mühte sich mit aller Kraft, aber er konnte es nicht in Gedanken und Worte bringen.»Vergeßt dies nicht«, sagte er schließlich nur.
Keiner erwiderte etwas. Er sah, daß sie es vergessen würden. Sie hatten ähnliches schon zu oft gesehen. Bucher hätte es vielleicht nicht vergessen, er war jung genug; aber der mußte mit.
Sie stolperten den Weg entlang. Sie hatten sich nicht gewaschen. Das war ein Witz Webers gewesen; das Lager hatte nie genug Wasser. Sie gingen vorwärts. Sie sahen sich nicht um. Sie kamen durch die Stacheldrahtpforte, die das Kleine Lager abtrennte.
Die Krepierpforte. Wassja schmatzte. Die drei Neuen gingen wie Automaten. Sie kamen an den ersten Baracken des Arbeitslagers vorbei. Die Kommandos waren längst ausgerückt. Die Baracken waren leer und trostlos; aber sie schienen 509 jetzt das Begehrenswerteste der Welt zu sein. Sie waren plötzlich Geborgenheit, Leben und Sicherheit. Er hätte hineinkriechen und sich verstecken mögen, fort von diesem erbarmungslosen Gang in den Tod. Zwei Monate zu früh, dachte er stumpf. Vielleicht nur zwei Wochen zu früh. Alles umsonst. Umsonst.
»Kamerad«, sagte plötzlich jemand neben ihm. Es war vor Baracke 13. Der Mann stand vor der Tür und hatte ein Gesicht, das schwarz mit Bartstoppeln war.
509 blickte auf.»Vergeßt das nicht«, murmelte er. Er kannte den Mann nicht.
»Wir werden es nicht vergessen«, erwiderte der Mann.»Wohin geht ihr?«
Die Leute, die im Arbeitslager zurückgeblieben waren, hatten Weber und Wiese gesehen. Sie wußten, daß das etwas Besonderes bedeuten mußte.
509 blieb stehen. Er sah den Mann an. Auf einmal war er nicht mehr stumpf. Er fühlte wieder das Wichtige, das er noch zu sagen hatte, das, was nicht verlorengehen durfte.
»Vergeßt es nicht«, flüsterte er eindringlich.»Nie! Nie!«
»Nie!«wiederholte der Mann mit fester Stimme.»Wohin müßt ihr?«
»In ein Hospital. Als Versuchskaninchen. Vergeßt es nicht. Wie heißt du?«
»Lewinsky, Stanislaus.«
»Vergiß es nicht, Lewinsky«, sagte 509. Es war ihm, als habe es mehr Kraft mit dem Namen.
»Lewinsky, vergiß es nicht.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
Lewinsky rührte mit der Hand an die Schulter von 509. 509 spürte es weiter als nur bis zur Schulter. Er sah Lewinsky noch einmal an. Lewinsky nickte. Sein Gesicht war nicht wie die Gesichter im Kleinen Lager. 509 fühlte, daß er verstanden worden war.
Er ging weiter.
Bucher hatte auf ihn gewartet. Sie erreichten die Gruppe der vier anderen, die weitergetrottet waren.»Fleisch«, murmelte Wassja.»Suppe und Fleisch.«
Die Schreibstube roch nach kaltem Mief und Lederwichse. Der Kapo hatte die Papiere vorbereitet. Er sah die sechs ausdruckslos an.»Ihr sollt das hier unterschreiben.«509 blickte auf den Tisch. Er verstand nicht, was da zu unterschreiben war. Gefangene wurden gewöhnlich kommandiert, und damit fertig. Dann spürte er, daß ihn jemand ansah. Es war einer der Schreiber, der hinter dem Kapo saß. Er hatte feuerrotes Haar.
Als er sah, daß 509 ihn bemerkte, bewegte er fast unmerklich den Kopf von 'rechts nach links.
Weber kam herein. Alles stand stramm.»Weitermachen!«kommandierte er und nahm die Papiere vom Tisch.»Noch nicht fertig? Los, unterschreibt das!«
»Ich kann nicht schreiben«, sagte Wassja, der am nächsten stand.
»Dann mach drei Kreuze.«
Wassja machte drei Kreuze.»Der Nächste!«
Die drei Neuen traten einer nach dem anderen heran. 509 versuchte sich krampfhaft zu sammeln.
Es schien ihm, als müßte irgendwo noch ein Ausweg sein. Er sah wieder zu dem Schreiber hinüber; aber der blickte nicht mehr auf.»Jetzt du!«knurrte Weber.
»Los! Träumst wohl, was?«509 nahm den Zettel auf. Seine Augen waren trübe. Die paar Schreibmaschinenzeilen wollten nicht stillstehen.»Lesen auch noch!«Weber gab ihm einen Stoß.
»Unterschreib, Lausehund!«509 hatte genug gelesen. Er hatte die Worte»hiermit erkläre ich freiwillig -«gelesen.
Er ließ das Blatt auf den Tisch fallen. Da war die verzweifelte, letzte Gelegenheit! Das hatte der Schreiber gemeint.
»Los, du Zitterbock! Soll ich dir die Hand führen?«
»Ich melde mich nicht freiwillig«, sagte 509.
Der Kapo starrte ihn an. Die Schreiber hoben die Köpfe und duckten sie sofort wieder über ihre Papiere. Es wurde einen Moment sehr still.
»Was?«fragte Weber dann ungläubig.
509 holte Atem.»Ich melde mich nicht freiwillig.«
»Du weigerst dich, zu unterschreiben?«
»Ja.«
Weber leckte sich die Lippen.»So, du unterschreibst das nicht?«Er nahm die linke Hand von 509, drehte sie und riß sie ihm über dem Rücken hoch. 509 fiel nach vorn auf den Boden. Weber hielt die verdrehte Hand weiter fest, zog 509 daran hoch, wippte und trat ihm auf den Rücken. 509 schrie und wurde still.
Weber nahm ihn mit der anderen Hand am Kragen und stellte ihn wieder auf. 509 fiel um.
»Schwächling!«knurrte Weber. Dann öffnete er eine Tür.»Kleinen! Michel!
Nehmt den Jammerkerl mal nach drüben und macht ihn munter. Laßt ihn da. Ich komme 'rüber.«
Sie schleppten 509 hinaus.»Jetzt du!«sagte Weber zu Bucher.»Unterschreib!«