Breuer sah ihn nachdenklich an.»Du bist mein ältester Gast, Lübbe. Sechs Monate, wie?«
Das Gespenst vor ihm schwankte.»Wie?«wiederholte Breuer. Das Gespenst nickte.
»Eine schöne Zeit«, erklärte Breuer.»Lange. So was verbindet direkt. Du bist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Das ist komisch, aber es ist tatsächlich so ähnlich. Ich habe ja persönlich nichts gegen dich, das weißt du -«»Das weißt du«, wiederholte er nach einer Pause.»Oder nicht?«Das Gespenst nickte wieder. Es wartete auf die nächste Folter.
»Es geht einfach gegen euch alle. Der einzelne ist piepegal.«Breuer nickte gewichtig und schenkte sich Kognak ein.»Piepegal. Schade, ich dachte, du hättest durchgestanden. Wir hatten nur noch Aufhängen an den Füßen und eine Kürübung, dann wärest du durch gewesen und 'rausgekommen, das weißt du?«
Das Gespenst nickte. Es wußte es nicht genau; aber es stimmte, daß Breuer manchmal Gefangene entließ, für die nicht ausdrücklich Todesbefehl vorlag, nachdem sie alle Foltern durchgestanden hatten. Er hatte da eine Art von Bürokratie; wer durchkam, hatte eine Chance. Es hing mit einer widerwilligen Bewunderung dafür zusammen, daß der Gegner so viel aushielt. Es gab Nazis, die so dachten, und die sich deshalb für sportlich und für Gentlemen hielten.
»Schade«, sagte Breuer.»Ich hätte dich eigentlich ganz gern laufenlassen. Du hast Courage gehabt.
Schade, daß ich dich trotzdem erledigen muß. Weißt du, warum?«
Lübbe antwortete nicht. Breuer zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster.
»Darum.«Er horchte einen Augenblick.»Hörst du es?«Er sah, daß Lübbes Augen ihm verständnislos folgten.»Artillerie«, sagte er.»Feindliche Artillerie. Sie kommen näher. Deshalb!
Deshalb wirst du heute nacht umgelegt.«
Er schloß das Fenster.»Pech, was?«Er grinste ein schiefes Lächeln.»Gerade ein paar Tage, bevor sie euch hier «herausholen können. Richtiges Pech, was?«
Er freute sich über seinen Einfall. Es gab dem Abend Finesse; ein Stück seelischer Folter als Abschluß.»Wirklich, verdammtes Pech, was?«
»Nein«, flüsterte Lübbe.
»Was?«
»Nein.«
»Bist du so lebensmüde?«
Lübbe schüttelte den Kopf. Breuer sah ihn überrascht an. Er spürte, daß nicht ganz dasselbe Wrack mehr vor ihm saß wie vor einer Minute. Lübbe sah plötzlich aus, als habe er einen Tag Ruhe gehabt.»Weil sie euch jetzt holen werden«, flüsterte er mit zerrissenen Lippen.»Alle.«
»Quatsch! Quatsch!«Breuer war einen Moment wütend. Er merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Anstatt Lübbe zu quälen, hatte er ihm einen Dienst erwiesen.
Wer konnte auch ahnen, daß der Kerl so wenig an seinem Leben hing?»Bilde dir nur nichts ein!
Ich habe dir was vorgeschwindelt. Wir verlieren nicht! Wir räumen hier nur! Die Front wird verlegt, das ist alles!«
Es wirkte nicht überzeugend. Breuer wußte es selbst. Er nahm einen Schluck. Ist auch gleich, dachte er und trank noch einmal.»Denk, was du willst«, sagte er dann.»Ist trotzdem dein Pech.
Zwingt mich, dich umzulegen.«
Er spürte den Alkohol.»Schade für dich, und schade für mich. War ein| schönes Leben. Na ja, für dich nicht, wenn man gerecht sein will.«
Lübbe beobachtete ihn trotz seiner Schwäche.»Was mir an dir gefällt«sagte Breuer,»ist, daß du nicht klein beigegeben hast. Aber ich muß dich umlegen, damit du nichts erzählst. Gerade dich, den ältesten Gast. Dich zuerst. Die anderen kommen auch ran«, fügte er begütigend hinzu.»Keine Zeugen hinterlassen. Alte nationalsozialistische Parole.«
Er holte einen Hammer aus der Tischschublade.»Ich will es kurz machen mit dir.«Er legte den Hammer neben sich. Im selben Moment torkelte Lübbe vom Stuhl hoch und versuchte, mit den verbrannten Händen nach dem Hammer zu greifen. Breuer stieß ihn mit der Faust leicht beiseite.
Lübbe fiel.»Sieh da«, sagte Breuer gutmütig.»Immer noch mal ein Versuch! Hast ganz recht.
Warum nicht? Bleib nur auf dem Boden sitzen. Ich habe dich da besser zur Hand.«Er hielt die Hand ans Ohr.»Was? Was sagst du?«»Sie werden euch alle – alle genauso -«
»Ach Unsinn, Lübbe. Das möchtest du wohl. Die machen so was nicht. Sind viel zu fein dazu. Ich werde auch vorher weg sein. Und von euch wird keiner mehr reden.«Er nahm wieder einen Schluck.»Willst du noch eine Zigarette?«fragte er plötzlich.
Lübbe sah ihn an.»Ja«, sagte er.
Breuer steckte ihm eine Zigarette zwischen die blutenden Lippen.»Hier!«
Er zündete ihm die Zigarette an und mit demselben Streichholz auch sich eine.
Beide rauchten und schwiegen. Lübbe wußte, daß er verloren war. Er horchte zum Fenster hinüber. Breuer trank sein Glas aus. Dann legte er die Zigarette weg und griff nach dem Hammer.
»Also, los jetzt.«
»Sei verflucht!«flüsterte Lübbe. Die Zigarette fiel ihm nicht aus dem Mund. Sie klebte an seiner blutigen Oberlippe fest. Breuer schlug einige Male mit der stumpfen Seite des Hammers zu. Es war ein Kompliment für Lübbe, der langsam zusammensank, daß er nicht die spitze Seite genommen hatte.
Eine Weile saß Breuer und brütete vor sich hin. Dann fiel ihm ein, was Lübbe gesagt hatte. Er fühlte sich in einer unklaren Weise betrogen. Lübbe hatte ihn betrogen. Er hätte jammern sollen.
Aber Lübbe hätte nie gejammert; auch nicht, wenn er ihn langsam getötet hätte. Er hätte gestöhnt; aber das galt nichts, das war nur der Körper.
Es war wie lautes Luftholen, nicht mehr. Breuer hörte wieder das Rollen hinter dem Fenster. Irgend jemand mußte noch einmal jammern, diese Nacht, sonst brach alles kaputt. Das war es; er wußte es jetzt. Es konnte nicht so aufhören, mit Lübbe. Lübbe hätte sonst gewonnen gehabt. Schwerfällig stand er auf und ging zur Zelle 4. Er hatte Glück. Eine entsetzte Stimme begann bald zu heulen, zu betteln, zu schreien, zu jammern, und erst nach langer Zeit wurde sie leiser und leiser und verstummte endlich ganz. Breuer kam befriedigt in sein Zimmer zurück.»Siehst du! Wir haben euch doch noch in der Gewalt«, sagte er zur Leiche Lübbes und stieß sie mit dem Fuße an. Der Stoß war nicht heftig; aber irgend etwas in Lübbes Gesicht bewegte sich. Breuer beugte sich hinab; ihm war, als habe Lübbe ihm eine graue Zunge herausgestreckt. Dann entdeckte er, daß die Zigarette im Munde des Toten weitergebrannt hatte bis auf die Lippen; die kleine Aschensäule war durch den Stoß heruntergefallen. Breuer war plötzlich müde. Er hatte keine Lust mehr, den Toten hinauszuschleifen; er schob ihn deshalb mit den Füßen unter das Bett. Es hatte Zeit bis morgen. Eine dunkle Spur blieb auf dem Fußboden. Breuer grinste schläfrig. Und ich konnte mal kein Blut sehen, als ich klein war, dachte er; zu komisch!
XXIII
Die Toten lagen zu Haufen geschichtet. Der Leichenwagen war nicht mehr gekommen, sie abzuholen. Regentropfen hingen silbern an ihren Haaren und Wimpern und Händen. Das Grollen am Horizont war verstummt. Die Häftlinge hatten das Mündungsfeuer bis Mitternacht gesehen und die Abschüsse gehört – dann war alles still geworden. Die Sonne ging auf. Der Himmel war blau und der Wind sanft und warm. Auf den Chausseen außerhalb der Stadt war nichts zu sehen; nicht einmal mehr Flüchtlinge. Die Stadt lag schwarz und ausgebrannt da; der Fluß, schlängelte sich hindurch wie eine riesige, glitzernde Schlange, die sich an ihrer Verwesung sättigte. Nirgendwo waren Truppen. Es hatte nachts eine Stunde lang geregnet, einen weichen, schüttenden Regen, und ein paar Wasserlachen waren davon stehengeblieben. 509 hockte neben einer davon und sah zufällig sein Gesicht darin gespiegelt. Er beugte sich tiefer über die flache, klare Pfütze. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal in einen Spiegel geschaut hatte; es mußte viele Jahre her sein. Im Lager hatte er nie einen gesehen; und das Gesicht, das ihm jetzt entgegenstarrte, kannte er nicht. Die Haare waren weißgraue Stoppeln. Sie waren vor dem Lager voll und braun gewesen. Er wußte, daß sie die Farbe geändert hatten, er hatte das gesehen, wenn beim Haarschneiden die Büschel zu Boden gefallen waren; aber loses Haar auf dem Boden schien nichts mehr mit einem zu tun zu haben. Im Gesicht erkannte er kaum etwas; nicht einmal die Augen. Was da über einem schadhaften Gebiß und über zu großen Nasenlöchern in zwei Höhlen flackerte, war nur etwas, das ihn von den Toten unterschied. Das bin ich? dachte er. Er sah sich wieder an. Er hätte sich denken sollen, daß er ähnlich aussah wie alle anderen, aber er hatte es nie wirklich gedacht. Er hatte die anderen gesehen, Jahr für Jahr, und bemerkt, wie sie sich verändert hatten; aber da er sie jeden Tag gesehen hatte, war es ihm weniger aufgefallen als jetzt, wo er sich seit so langer Zeit zum ersten Male selber sah. Es hatte nichts damit zu tun, daß sein Haar grau und unregelmäßig und daß sein Gesicht nur noch ein Hohn auf das kräftige, fleischige seiner Erinnerung war – was ihn bestürzte, war, daß das, was er vor sich sah, ein alter Mann war. Er saß eine Weile sehr still. Er hatte viel gedacht in diesen letzten Tagen; doch nie daran, daß er alt war. Zwölf Jahre Zeit waren nicht sehr viel. Zwölf Jahre eingesperrt sein, war mehr. Und zwölf Jahre KZ – wer konnte wissen, wieviel das später sein würde? Hatte er Kraft genug behalten? Oder würde er zusammenbrechen, wenn er hinauskam, wie ein von innen morscher Baum, der in der Windstille noch gesund erscheint, aber beim ersten Sturm stürzt? Denn eine Windstille, eine große, entsetzliche, einsame, höllische – aber trotz allem, eine Windstille war dieses Lagerleben gewesen. Kaum ein Laut von der Welt draußen war hineingedrungen. Was würde werden, wenn der Stacheldraht fiel? 509 starrte noch einmal in die blanke Pfütze. Das sind meine Augen, dachte er: Er beugte sich tief, um sie genau zu sehen. Unter seinem Atem kräuselte sich das Wasser, und das Bild verschwamm. Das sind meine Lungen, dachte er, und sie pumpen noch. Er tauchte die Hand in die Lache und spritzte das Wasser auseinander – und das sind meine Hände, die dieses Bild zerstören können – Zerstören, dachte er. Aber aufbauen? Hassen. Aber kann ich noch anders? Haß allein ist wenig. Man braucht mehr als Haß zum Leben.