»Vielleicht erschießen sie bei uns die nicht, die zurückbleiben«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Ahasver mit trübem Spott.»Sie werden sie mit Fleisch füttern und neu einkleiden und ihnen Auf Wiedersehen winken.«
509 sah ihn an. Ahasver war völlig ruhig. Ihn konnte wenig mehr schrecken.»Da kommt Lebenthal«, sagte Berger.
Lebenthal setzte sich neben sie.»Hast du drüben noch was gehört, Leo?«fragte 509.
Leo nickte.»Sie wollen soviel wie möglich von dem Transport loswerden. Lewinsky hat es von dem rothaarigen Schreiber auf der Schreibstube. Wie sie sie loswerden wollen, wußte er noch nicht genau. Aber es soll bald sein; sie können die Toten dann absetzen als gestorben durch die Folgen des Transports.«Einer der Neuen fuhr aus dem Schlaf empor und schrie. Dann sank er wieder zurück und schnarchte mit weit offenem Munde.»Wollen sie nur Leute vom Transport erledigen?«
»Lewinsky wußte bloß das. Aber er läßt uns sagen, wir sollten aufpassen.«»Ja, wir müssen aufpassen.«509 schwieg einen Augenblick.»Das heißt, daß wir die Schnauzen halten sollten. Das ist es, was er damit meint. Oder nicht?«»Klar. Was sonst?«
»Wenn wir die Neuen warnen, werden sie vorsichtig werden«, erklärte Meyer.»Und wenn die SS eine bestimmte Anzahl erledigen will und sie nichts findet, wird sie den Rest von uns nehmen.«
»Stimmt.«509 blickte auf Sulzbacher, dessen Kopf schwer an Bergers Schulter lag.
»Also, was wollen wir machen? Schnauzen halten?«
Es war eine schwere Entscheidung. Wenn ausgesiebt wurde und sich nicht genug Neue fanden, war es leicht möglich, daß die Zahl mit Leuten vom Kleinen Lager ausgefüllt wurde; um so mehr, als die Neuen nicht so herunter waren wie die anderen.
Sie schwiegen lange.»Sie gehen uns nichts an«, sagte Meyer dann.»Wir müssen erst für uns sorgen.«
Berger rieb seine entzündeten Augen. 509 zerrte an seiner Jacke. Ahasver drehte sich zu Meyer hinüber. Das fahle Licht blinkte in seinen Augen.»Wenn die uns nichts angehen«, sagte er,»dann gehen auch wir niemanden was an.«
Berger hob den Kopf.»Du hast recht.«
Ahasver saß ruhig an der Wand und antwortete nicht. Sein alter, ausgemergelter Schädel mit den tief liegenden Augen schien etwas zu sehen, was keiner sonst sah.
»Wir werden es den beiden hier sagen«, erklärte Berger.»Sie können dann die anderen warnen.
Mehr können wir nicht tun. Wir wissen ja nicht, was noch wird.«
Karel kam von der Baracke herüber.»Einer ist tot.«509 stand auf.»Laßt uns ihn 'rausbringen.«
Er wandte sich zu Ahasver.»Komm mit, Alter. Du bleibst dann gleich drin zum Schlafen.«
XII
Die Blocks standen angetreten auf dem Appellplatz des Kleinen Lagers. Scharführer Niemann wiegte sich behaglich in den Knien. Er war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit einem schmalen Gesicht, abstehenden, kleinen Uhren und einem fliehenden Kinn. Sein Haar war sandfarben, und er trug eine Brille ohne Ränder. Ohne Uniform hätte man ihn für einen typischen kleinen Büroangestellten halten können.
Das war er auch gewesen, bevor er in die SS eingetreten und ein Mann geworden war.
»Achtung!«Niemann hatte eine hohe, etwas gequetschte Stimme.»Neuer Transport heraustreten, marsch, marsch!«
»Vorsicht!«murmelte 509 zu Sulzbacher.
Die Doppelreihe formte sich vor Niemann.»Kranke und Invalide rechts heraus!«kommandierte er.
Die Reihe bewegte sich; aber niemand trat zur Seite. Die Leute waren mißtrauisch; sie hatten ähnliches schon früher mitgemacht.
»Los! Los! Wer sich zum Arzt und zum Verbinden melden will, rechts heraus!«
Zögernd traten einige Häftlinge zur Seite. Niemann ging zu ihnen hinüber.»Was hast du?«fragte er den ersten.
»Wunde Füße und eine gebrochene Zehe, Herr Scharführer.«
»Und du?«
»Doppelten Leistenbruch, Herr Scharführer.«
Niemann fragte weiter. Dann schickte er zwei Mann zurück. Das war ein Trick, um die Häftlinge zu täuschen und sicher zu machen. Es wirkte. Sofort meldete sich eine Anzahl Neuer. Niemann nickte flüchtig.»Herzkranke vortreten! Leute, die zu schwerer Arbeit untauglich sind, aber noch Strümpfe stopfen und Schuhe reparieren können.«
Wieder meldeten sich einige. Niemann hatte jetzt ungefähr dreißig Mann beisammen und sah, daß er nicht mehr bekommen würde.»Ihr anderen scheint ja tadellos in Schuß zu sein!«bellte er ärgerlich.»Wir wollen das mal feststellen! Rechts um! Laufschritt – marsch, marsch!«
Die Doppelreihe lief um den Appellplatz. Sie lief keuchend an den übrigen Insassen vorbei, die in strammer Haltung dastanden und wußten, daß auch sie in Gefahr waren. Wenn einer von ihnen umfiel, war es möglich, daß Niemann ihn ohne weiteres als Zugabe mitnahm. Niemand wußte außerdem, ob er die Alten nicht noch besonders vornehmen würde.
Die Laufenden kamen zum sechsten Male vorbei. Sie stolperten bereits; aber sie hatten begriffen, daß man sie nicht rennen ließ, um herauszufinden, ob sie zu schwerer Arbeit untauglich seien. Sie liefen um ihr Leben. Ihre Gesichter trieften von Schweiß, und in ihren Augen war die verzweifelte, wissende Todesangst, die kein Tier haben kann; nur der Mensch.
Auch die, die sich gemeldet hatten, wußten jetzt, was vorging. Sie wurden unruhig.
Zwei versuchten sich der Reihe der Laufenden anzuschließen. Niemann sah es.
»Zurück! Marsch, da hinüber!«
Sie hörten nicht auf ihn. Taub vor Angst, rannten sie los. Sie trugen Holzschuhe, die sie sofort verloren. Mit bloßen, blutenden Füßen liefen sie weiter; sie hatten keine Strümpfe am Abend vorher erhalten. Niemann ließ sie nicht aus den Augen. Eine Zeitlang liefen sie mit. Als sich dann in ihren entstellten Gesichtern langsam eine gierige Hoffnung zeigte, entkommen zu sein, ging Niemann ruhig ein paar Schritte vorwärts, und als sie dicht an ihm vorbeistolperten, stellte er ihnen ein Bein.
Sie stürzten und wollten sich erheben. Er warf sie mit zwei Tritten wieder um. Sie versuchten zu kriechen.»Aufstehen!«schrie er mit seinem Quetschtenor.»Marsch, da hinüber!«
Er hatte während dieser Zeit den Rücken zu Baracke 22 gehabt. Das Todeskarussell war im Laufschritt weitergegangen. Vier weitere Leute waren gefallen. Sie lagen am Boden. Zwei waren bewußtlos. Einer trug eine Husarenuniform, die er am Abend vorher erhalten hatte; der andere ein Damenhemd mit billiger Spitze unter einer Art abgeschnittenem Kaftan. Der Kammerkapo hatte die Sachen aus Auschwitz mit Humor unter die Häftlinge verteilt. Es gab noch ein paar Dutzend mehr, die wie zu einem Karneval gekleidet waren.
509 hatte Rosen halbgebückt weiterstolpern und zurückbleiben sehen. Er wußte, daß er in wenigen Sekunden völlig erschöpft sein und stürzen würde. Es geht mich nichts an, dachte er, nichts. Ich will keine Dummheiten machen. Jeder muß allein für sich sorgen. Die Reihe kam wieder nahe an der Baracke vorbei. 509 sah, daß Rosen jetzt der letzte war. Rasch blickte er auf Niemann, der der Baracke immer noch den Rücken zugedreht hatte, und dann rundum. Keiner von den Barackenaltesten achtete auf ihn. Alle blickten zu den beiden hinüber, denen Niemann das Bein gestellt hatte. Handke war sogar mit gerecktem Kopf einen Schritt vorgetreten. 509 ergriff den vorübertaumelnden Rosen am Arm, zog ihn heran und hinter sich durch die Reihe.»Schnell! Durch! In die Baracke! Versteck dich!«Er hörte Rosen hinter sich keuchen und sah aus den Augenwinkeln etwas wie eine Bewegung, und dann hörte er das Keuchen nicht mehr. Niemann hatte nichts gesehen. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht. Auch Handke hatte nichts bemerkt. 509 wußte, daß die Tür der Baracke offenstand. Er hoffte, daß Rosen ihn verstanden hatte. Und er hoffte, daß er, wenn er trotzdem erwischt wurde, ihn nicht verraten würde. Er mußte wissen, daß er ohnehin verloren gewesen wäre. Die Neuen waren von Niemann nicht abgezählt worden, und er hatte jetzt eine Chance. 509 fühlte, daß seine Knie zitterten und seine Kehle trocken wurde. Das Blut brauste ihm plötzlich in den Ohren. Vorsichtig blickte er zu Berger hinüber. Berger beobachtete unbewegt den normenden Haufen, in dem mehr und mehr Leute stürzten. Sein angestrengtes Gesicht zeigte, daß er alles gesehen hatte. Dann hörte 509 hinter sich Lebenthal flüstern:»Er ist drin.«Das Zittern seiner Knie wurde stärker. Er mußte sich gegen Bucher lehnen. Die Holzschuhe, die ein Teil der Neuen empfangen hatte, lagen überall um«Kor. Die Leute waren nicht gewohnt, sie zu tragen, und hatten sie verloren. Nur zwei Leute klapperten noch verzweifelt in ihnen weiter. Niemann putzte seine Brille. Sie war angelaufen. Es kam von der Wärme, die er spürte, wenn er die Todesangst sah, während die Häftlinge stürzten, sich wieder aufrafften, stürzten, sich aufrafften und weitertaumelten. Es war eine Wärme im Magen und hinter den Augen. Er hatte sie zum ersten Male gespürt, als er seinen ersten luden getötet hatte. Er hatte es eigentlich gar nicht gewollt; aber dann war es über ihn gekommen. Er war immer ein gedrückter, verschubster Mensch gewesen, und er hatte sich anfangs fast gefürchtet, auf den Juden einzuschlagen. Als er ihn dann aber vor sich am Boden rutschen und um sein Leben betteln sah, hatte er plötzlich gespürt, wie er ein anderer wurde, kraftvoller, mächtiger, er hatte sein Blut gefühlt, der Horizont war weiter geworden, die demolierte, bürgerliche Vierzimmerwohnung des kleinen jüdischen Konfektionärs mit ihren grünen Ripsmöbeln hatte sich in die asiatische Wüste Dschingis Khans verwandelt, der Handlungsgehilfe Niemann war auf einmal Herr über Leben und Tod gewesen, Macht war dagewesen, Allmacht, ein scharfer Rausch, der sich ausbreitete und höher stieg, bis dann der erste Schlag ganz von selbst kam auf den weich nachgebenden Schädel mit dem spärlichen, gefärbten Haar. -»Abteilung halt!«Die Häftlinge glaubten es fast nicht. Sie hatten erwartet, bis zum Tode weiterrennen zu müssen. Baracken, Platz und Menschen wirbelten in einer Sonnenfinsternis vor ihnen. Sie hielten sich aneinander. Niemann setzte seine geputzte Drille wieder auf. Er hatte es plötzlich eilig.»Bringt die Leichen hier herüber.«Sie starrten ihn an. Es waren bis jetzt noch keine Leichen da.»Die Umgefallenen«, verbesserte er sich.»Die, die liegengeblieben sind.«Sie wankten hin und packten die Liegenden an Armen und Beinen. An einer Stelle lag ein ganzes Knäuel von Menschen. Sie waren dort übereinandergestürzt. 509 sah Sulzbacher im Durcheinander. Er stand und trat, gedeckt durch andere vor ihm, einem Mann, der auf dem Boden lag, gegen die Schienbeine und zerrte ihn an den Haaren und an den Ohren. Dann bückte er sich und riß ihn auf die Knie. Der Mann fiel bewußtlos zurück. Sulzbacher stieß ihn wieder, schob ihm die Hände unter die Arme und versuchte, ihn aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er schlug jetzt wie verzweifelt mit den Fäusten auf den Bewußtlosen ein, bis ein Blockältester ihn wegschob. Sulzbacher drängte wieder hinüber. Der Blockälteste gab ihm einen Tritt. Er glaubte, Sulzbacher habe eine Wut auf den Bewußtlosen und wolle sie noch an ihm auslassen.»Du verdammtes Mistvieh!«knurrte er.»Laß ihn doch in Ruhe. Er geht sowieso hops.«Der Kapo Strohschneider kam mit dem flachen Lastwagen, auf dem sonst die Leichen transportiert wurden, durch die Drahtverhaupforte gefahren. Der Motor knatterte wie ein Maschinengewehr. Strohschneider fuhr an den Haufen heran. Die Gefallenen wurden aufgeladen. Einige versuchten noch zu entkommen. Sie waren wieder bei Bewußtsein. Aber Niemann paßte jetzt auf; er ließ keinen mehr fort, auch niemand von denen, die sich freiwillig gemeldet hatten.»Wegtreten, wer nicht hierher gehört!«schrie er.»Die, die sich krank gemeldet haben, den Rest aufladen!«Die Leute stürzten fort, in die Baracken, so rasch sie konnten. Die Bewußtlosen wurden aufgeladen. Dann gab Strohschneider Gas. Er fuhr so langsam, daß die Freiwilligen zu Fuß folgen konnten. Niemann ging nebenher.»Eure Leiden sind jetzt zu Ende«, sagte er mit veränderter, fast freundlicher Stimme zu seinen Opfern.»Wo werden sie hingebracht?«fragte einer von den Neuen in Baracke 22.»Block 46 wahrscheinlich.«»Was passiert da?«»Ich weiß es nicht«, erwiderte 509. Er wollte nicht sagen, was man im Lager wußte – daß Niemann eine Kanne Benzin und ein paar Injektionsspritzen in einem Räume des Versuchsblocks 46 hatte und daß keiner von den Gefangenen wiederkommen würde. Strohschneider würde sie abends zum Krematorium bringen.»Weshalb hast du den einen noch so geprügelt?«fragte 509 Sulzbacher. Sulzbacher sah ihn an und erwiderte nichts. Er würgte, als müsse er einen Klumpen Watte schlucken, und ging dann fort.»Es war sein Bruder«, sagte Rosen. Sulzbacher erbrach sich, ohne daß etwas anderes aus seinem Munde kam als ein bißchen grünlicher Magensaft.