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XV

Die zweihundert Mann des neuen Bergungskommandos waren in einer langen Reihe über die Straße verteilt. Es war das erste Mal, daß sie innerhalb der Stadt zum Aufräumen eingesetzt wurden. Bisher hatte man sie nur in den eingestürzten Fabriken der Vororte beschäftigt. Die SS hatte die Ausgänge der Straße besetzt und außerdem Mannschaften der Länge nach über die linke Seite als Wachen verteilt. Die Bomben hatten hauptsächlich die rechte Seite getroffen; Mauern und Dächer waren über den Fahrdamm gestürzt und machten fast jeden Verkehr unmöglich. Die Häftlinge hatten nicht genug Schaufeln und Hacken; sie mußten zum Teil mit den bloßen Händen arbeiten. Die Kapos und Vorarbeiter waren nervös; sie wußten nicht, ob sie prügeln und antreiben oder sich zurückhalten sollten. Zivilisten war es zwar untersagt, die Straße zu benutzen; aber die Mieter, die in den heilgebliebenen Häusern wohnten, konnten nicht hinausgeworfen werden. Lewinsky arbeitete neben Werner. Beide hatten sich mit einer Anzahl gefährdeter politischer Gefangener zum Bergungskommando gemeldet. Die Arbeit war schwerer als anderswo; aber sie waren auf diese Weise tagsüber dem Zugriff der SS im Lager entzogen; abends, nach dem Einrücken, wenn es dunkel war, konnten sie sich dann bei Gefahr leichter unsichtbar machen und unauffindbar bleiben.»Hast du gesehen, wie die Straße heißt?«fragte Werner leise.»Ja.«Lewinsky grinste. Die Straße hieß Adolf-Hitler-Straße.»Heiliger Name. Hat aber gegen Bomben nichts genützt.«

Sie schleppten einen Balken fort. Die Rücken ihrer gestreiften Jacken waren dunkel von Schweiß. An der Sammelstelle trafen sie auf Goldstein. Er war trotz seines schwachen Herzens mit zum Kommando gekommen, und Lewinsky und Werner hatten nichts dagegen gesagt – er gehörte zu den gefährdeten Häftlingen. Sein Gesicht war grau. Er schnupperte.»Es stinkt hier. Nach Leichen. Nicht nach frischen – hier müssen noch alte Leichen liegen.«»Stimmt.«Sie kannten das. Sie wußten genau, wie Leichen rochen. Sie schichteten jetzt losgebrochene Steine neben einer Mauer auf. Der Mörtel wurde in kleinen Wagen fortgeschafft. Hinter ihnen, auf der anderen Seite der Straße, befand sich ein Kolonialwarenladen. Die Fenster waren geplatzt; aber einige Plakate und Kartons waren schon wieder in die Auslage hineingestellt worden. Ein Mann mit einem Schnurrbart schaute hinter ihnen hervor. Er hatte eines der Gesichter, die man 1933 in Mengen bei Demonstrationen hinter Schildern mit der Aufschrift:»Kauft nicht bei Juden«gesehen hatte. Der Kopf schien durch die Rückwand des Schaufensters abgeschnitten zu sein – ähnlich wie bei billigen Fotografien auf Rummelplätzen, wo die Klienten ihre Köpfe über gemalte Kapitänsuniformen halten. Dieser stand über leeren Schachteln und verstaubten Plakaten; es schien zu ihm zu passen. In einem unzerstörten Torweg spielten Kinder. Neben ihnen stand eine Frau in einer roten Bluse und blickte auf die Gefangenen. Ein paar Hunde brachen plötzlich aus dem Torweg und rannten über die Straße zu den Sträflingen hinüber. Sie schnupperten an ihren Hosen und Schuhen, und einer wedelte und sprang an dem Sträfling Nr. 7105 hoch. Der Kapo, der diesen Abschnitt beaufsichtigte, wußte nicht, was er tun sollte. Der Hund war ein Zivilhund und kein Mensch; trotzdem schien es ungebührlich, daß er freundlich zu einem Sträfling war, besonders in Gegenwart der SS. 7105 wußte noch weniger Rat. Er tat das einzige, was ein Gefangener tun konnte; er stellte sich, als sei das Tier nicht da. Aber der Hund folgte ihm; er hatte eine rasche Zuneigung zu ihm gefaßt. 7105 bückte sich und arbeitete mit angestrengtem Eifer. Er war besorgt; der Hund konnte seinen Tod bedeuten.»Weg da, Lauseköter«, schrie der Kapo endlich und hob einen Knüppel. Er hatte seinen Entschluß gefaßt; es war immer besser, scharf zu sein, wenn die SS zusah. Aber der Hund kümmerte sich nicht um ihn; er sprang und tanzte wieder um 7105 herum. Es war ein großer, braunweißer deutscher Vorstehhund. Der Kapo hob Steine und warf nach ihm. Der erste Stein traf 7105 am Knie; erst der dritte traf den Hund quer gegen den Bauch. Das Tier heulte auf, sprang beiseite und bellte den Kapo an. Der Kapo hob den nächsten Brocken.»Scher dich weg, du Aas!«Der Hund wich aus, aber er lief nicht weg. Geschickt machte er einen Bogen und sprang den Kapo an. Der Mann stürzte über einen Haufen Mörtel, und der Hund stand sofort knurrend über ihm.»Hilfe!«schrie der Kapo und verhielt sich still. Die SS-Leute in der Nähe lachten. Die Frau in der roten Bluse kam herangelaufen. Sie pfiff dem Hund.»Hierher! Sofort hierher! O dieser Hund! Bringt einen noch ins Unglück!«Sie zerrte ihn hinweg, in den Torbogen hinein.»Er ist 'rausgelaufen«, sagte sie ängstlich zu dem nächsten SS-Mann.»Bitte! Ich habe es nicht gesehen! Er ist weggelaufen! Er wird Prügel dafür kriegen!«Der SS-Mann grinste.»Dem da hätte er ruhig ein Stück von seiner dämlichen Fresse wegbeißen können.«Die Frau lächelte schwach. Sie hatte geglaubt, der Kapo gehöre zur SS.»Danke! Danke vielmals! Ich werde ihn gleich anbinden!«Sie zog den Hund am Halsband fort, aber streichelte ihn plötzlich. Der Kapo klopfte sich den Kalkstaub ab. Die SS-Wachen grinsten immer noch.»Warum hast du ihn nicht gebissen?«rief einer dem Kapo zu.

Der Kapo antwortete nicht. Das war immer besser. Er klopfte noch eine Zeitlang an sich herum. Dann stapfte er ärgerlich zu den Häftlingen hinüber. 7105 bemühte sich gerade, ein Klosett aus dem Haufen von Steinen und Mörtel hervorzuziehen.»Los, fauler Hund!«zischte der Kapo und gab ihm einen Tritt in die Kniekehle. 7105 fiel nieder und hielt sich mit den Armen am Klosettdeckel fest. Alle Häftlinge beobachteten den Kapo aus den Augenwinkeln. Der SS-Mann, der mit der Frau gesprochen hatte, schlenderte jetzt heran. Er ging auf den Kapo zu und stieß ihn von hinten mit dem Stiefel an.»Laß den da in Ruhe! Der ist nicht schuld. Beiß lieber den Hund, du Nachteule!«Der Kapo drehte sich überrascht um. Die Wut schwand aus seinem Gesicht und wich einer dienstfertigen Grimasse.»Jawohl! Ich wollte nur -«»Los!«Er bekam einen zweiten Stoß in den Bauch, stand halbwegs stramm und trollte sich. Der SS-Mann schlenderte zurück.»Hast du das gesehen?«flüsterte Lewinsky Werner zu.»Zeichen und Wunder. Vielleicht hat er es wegen der Zivilisten gemacht.«Die Häftlinge beobachteten verstohlen weiter die andere Seite der Straße, und die andere Seite der Straße beobachtete sie. Sie waren nur wenige Meter voneinander getrennt; aber es war weiter, als wenn sie auf zwei verschiedenen Erdteilen gelebt hätten. Die meisten der Gefangenen sahen zum ersten Male, seit sie eingesperrt waren, die Stadt so nahe. Sie sahen wieder Menschen ihren täglichen Gewohnheiten nachgehen. Sie sahen es wie Dinge auf dem Mars. Ein Dienstmädchen in einem blauen Kleid mit weißen Punkten putzte in einer Wohnung die heilgebliebenen Fenster. Es hatte die Ärmel aufgekrempelt und sang. Hinter einem anderen Fenster stand eine alte, weißhaarige Frau. Die Sonne fiel auf ihr Gesicht und auf die offenen Vorhänge und die Bilder des Zimmers. An der Ecke der Straße befand sich eine Apotheke. Der Apotheker stand vor der Tür und gähnte. Eine Frau in einem Pelzmantel aus Leopardenfell ging sehr nahe an den Häusern entlang über die Straße. Sie trug grüne Handschuhe und Schuhe. Die SS an der Ecke hatte sie durchgelassen. Sie war jung und trippelte geschmeidig über die Schutthaufen. Viele Gefangene hatten seit Jahren keine Frau mehr gesehen. Alle bemerkten sie; aber niemand sah ihr nach, außer Lewinsky.»Paß auf!«flüsterte Werner ihm zu.»Hilf hier.«Er zeigte auf ein Stück Stoff, das unter dem Mörtel hervorkam.»Da liegt jemand.«Sie scharrten den Mörtel und die Steine beiseite. Ein völlig zerschmettertes Gesicht mit blutigem, kalkverschmiertem Vollbart kam darunter hervor. Eine Hand war dicht daneben; der Mann hatte sie wahrscheinlich zum Schutz erhoben, als das Gebäude einstürzte. Die SS-Leute auf der anderen Seite der Straße riefen der zierlich kletternden Person in dem Leopardenmantel aufmunternde Witze zu. Sie lachte und kokettierte. Plötzlich begannen die Sirenen zu heulen. Der Apotheker an der Ecke verschwand in seinem Laden. Die Frau im Leopardenfell erstarrte und rannte dann zurück. Sie fiel über die Schutthaufen; ihre Strümpfe zerrissen, und ihre grünen Handschuhe wurden weiß vom Kalkstaub. Die Häftlinge hatten sich aufgerichtet.»Stehenbleiben! Wer sich rührt, wird erschossen!«Die SS von den Straßenecken rückte heran.»Aufschließen! Gruppen formieren, marsch, marsch!«Die Häftlinge wußten nicht, welchem Kommando sein gehorchen sollten. Ein paar Schüsse fielen bereits. Die SS-Wachen von den Straßenecken trieben sie schließlich zu einem Haufen zusammen. Die Scharführer berieten, was sie tun sollten. Es war erst die Vorwarnung; aber alle blickten unruhig jeden Augenblick nach oben. Der strahlende Himmel schien heller und düsterer zugleich geworden zu sein. Die andere Straßenseite wurde jetzt lebendig. Leute, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, kamen aus den Häusern. Kinder schrieen. Der Kolonialwarenhändler mit dem Schnurrbart schoß mit giftigen Blicken aus seinem Laden und kroch wie eine fette Made über die Trümmer. Eine Frau in einem karierten Umhängetuch trug sehr vorsichtig einen Bauer mit einem Papagei weit ausgestreckt vor sich her. Die weißhaarige Frau war verschwunden. Das Dienstmädchen rannte mit hochgehobenen Röcken aus der Tür. Lewinskys Augen folgten ihr. Zwischen ihren schwarzen Strümpfen und der prallen blauen Hose schimmerte das weiße Fleisch ihrer Beine. Hinter ihr kletterte eine dünne, alte Jungfer wie eine Ziege über die Steine. Es war plötzlich alles umgekehrt; die friedliche Ruhe auf der Seite der Freiheit war jäh zerstört; angstvoll stürzten dort die Menschen aus ihren Wohnungen und liefen um ihr Leben zu den Luftschutzkellern. Die Häftlinge auf der gegenüberliegenden Seite dagegen standen jetzt schweigend und ruhig vor den zerstörten Mauern und sahen die Fliehenden an. Einem der Scharführer schien das aufzufallen.»Ganze Abteilung kehrt!«kommandierte er. Die Sträflinge starrten jetzt auf die Ruinen. Die Trümmer waren grell von der Sonne bestrahlt. Nur in einem der gebombten Häuser war ein Durchgang zu einem Keller freigeschaufelt worden. Dort sah man Stufen, ein Eingangstor, einen dunklen Korridor und in dem Dunkel einen Streifen Licht von einem nach hinten führenden Ausgang. Die Scharführer waren unschlüssig. Sie wußten nicht, wohin mit den Sträflingen. Keiner dachte daran, sie in einen Luftschutzkeller zu führen; die Keller waren ohnehin voll von Zivilisten. Aber die SS hatte auch kein Interesse daran, selbst ungeschützt zu bleiben. Einige von ihnen durchsuchten rasch die nächsten Häuser. Sie fanden einen betonierten Keller. Der Ton der Sirenen wechselte. Die SS lief auf den Keller los. Sie ließ nur zwei Posten im Hauseingang und je zwei an den Straßeneingängen zurück.»Kapos, Vormänner, aufpassen, daß keiner sich muckst! Wer sich bewegt, wird erschossen!«Die Gesichter der Häftlinge spannten sich. Sie blickten auf die Mauern vor sich und warteten. Es war ihnen nicht befohlen worden, sich hinzulegen; die SS konnte sie stehend besser überwachen. Stumm standen sie, zu einem Haufen gedrängt, umkreist von den Kapos und Vormännern. Zwischen ihnen lief der Vorstehhund umher. Er hatte sich losgerissen und suchte 7105. Als er ihn fand, sprang er an ihm hoch und versuchte, sein Gesicht zu lecken. Für einen Augenblick verstummte der Lärm. In die unerwartete Stille, die wie ein luftleerer Raum war und an allen Nerven riß, klangen plötzlich die Töne eines Klaviers. Sie klangen laut und klar und waren nur kurze Zeit deutlich hörbar; Werner erkannte trotzdem, in der ungeheuren Bereitschaft des Lauschens, daß es der Chor der Gefangenen aus Fidelio war, der gespielt wurde. Es konnte kein Radio sein; das spielte keine Musik bei Fliegeralarm. Es mußte ein Grammophon sein, das vergessen wurde, abzustellen, oder aber es war jemand, der bei offenem Fenster Klavier spielte. Der Lärm setzte wieder ein. Werner klammerte sich mit aller Konzentration an die wenigen Töne, die er gehört hatte. Er preßte die Kiefern zusammen und versuchte, sie im Gedächtnis weiterzuführen. Er wollte nicht an Bomben und Tod denken. Wenn es ihm gelang, die Melodie zu finden, würde er gerettet werden. Er schloß die Augen und fühlte die harten Knoten der Anstrengung hinter der Stirn. Er durfte nicht jetzt noch sterben. Nicht auf diese sinnlose Weise. Er wollte nicht einmal daran denken. Er mußte die Melodie finden; die Melodie dieser Gefangenen, die befreit wurden. Er ballte die Fäuste und versuchte, die Töne des Klaviers weiter zu hören; aber sie waren ertrunken im metallischen Toben der Angst. Die ersten Explosionen erschütterten die Stadt. Das Gellen der stürzenden Bomben schnitt durch das Sirenengeheul. Der Boden zitterte. Von einer Mauer fiel langsam ein Stück Gesims. Einige der Gefangenen hatten sich in den Schutt geworfen. Vorarbeiter rannten heran.»Aufstehen! Aufstehen!«Man hörte ihre Stimmen nicht. Sie zerrten an den Leuten. Goldstein sah, wie einem Gefangenen, der sich hingeworfen hatte, der Schädel brach und Blut heraussprudelte.

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