Der Mann, der neben ihm stand, griff nach seinem Bauch und fiel vornüber. Es waren keine Bombensplitter; es war die SS, die schoß. Die Schüsse waren nicht zu hören gewesen.»Der Keller!«rief Goldstein durch den Lärm Werner zu.»Dort der Keller! Sie werden uns nicht verfolgen!«Sie starrten auf den Eingang. Er schien größer zu werden. Die Dunkelheit darin war kühle Rettung. Sie war ein schwarzer Strudel, dem zu widerstehen. fast unmöglich schien. Die Häftlinge starrten wie hypnotisiert hin. Ihre Reihen wankten. Werner hielt Goldstein fest.»Nein!«Er starrte selbst auf den Keller und schrie durch den Lärm.»Nein! Nicht! Alle würden erschossen werden! Nein! Stehenbleiben!«Goldsteins graues Gesicht drehte sich ihm zu. Die Augen lagen wie flache, glänzende Schieferstücke darin. Der Mund war vor Anstrengung verzerrt.»Nicht verbergen«, stieß er hervor.»Fliehen! Hindurch! Da ist ein Ausgang nach hinten!«Es traf Werner wie ein Schlag in den Magen. Er zitterte plötzlich. Nicht seine Hände oder seine Knie zitterten; tief in ihm zitterten die Adern. Das Blut bebte. Er wußte, daß die Flucht nur sehr schwer gelingen konnte; aber der Gedanke allein war Versuchung genug: wegzulaufen, in irgendeinem Hause Kleider zu stehlen und im Durcheinander zu entkommen.»Nein!«Er glaubte zu flüstern, aber er schrie es durch das Getöse.»Nein!«Es war nicht nur für Goldstein, es war für ihn selbst.»Jetzt nicht mehr! Nein, jetzt nicht mehr!«Er wußte, daß es Wahnsinn war; alles, was bis jetzt erreicht worden war, würde dadurch gefährdet werden. Kameraden würden getötet werden, zehn für jeden, der zu entkommen versuchte, ein Blutbad in der gedrängten Menge hier, neue Maßnahmen im Lager – und trotzdem, da gähnte und lockte -»Nein!«rief Werner und hielt Goldstein fest, und sich selbst dadurch, daß er Goldstein hielt. Die Sonne! dachte Lewinsky. Diese verdammte Sonne! Sie gab alles unbarmherzig preis. Warum schoß man nicht die Sonne aus? Es war, als stände man nackt unter riesigen Scheinwerfern, fertig für die Zielvorrichtungen der Flugzeuge. Wenn nur eine Wolke käme, einen Augenblick nur! Schweiß strömte ihm in Bächen den Körper entlang. Die Mauern zitterten. Eine ungeheure Erschütterung nahebei donnerte, und in das Donnern fiel langsam ein Stück Mauer, mit einem leeren Fensterrahmen darin, nach vorn. Es sah kaum gefährlich aus, als es über die Häftlinge schlug. Das Stück war etwa fünf Meter breit gewesen. Nur der Häftling, über den das leere Fensterviereck gefallen war, stand noch und starrte ohne Verständnis um sich. Er begriff nicht, warum er plötzlich bis an den Magen im Schutt stand und noch lebte. Neben ihm schlugen Beine, die aus dem niedergestürzten Haufen ragten, einige Male auf und nieder und wurden still. Langsam ließ der Druck nach. Es war fast unmerklich im Anfang, nur die Klammer um Gehirn und Ohren lockerte sich etwas. Dann begann Bewußtsein hindurchzufiltern wie schwaches Licht in einem Schacht. Der Lärm tobte noch wie vorher; aber trotzdem wußten alle auf einmal: es war vorüber. Die SS kroch aus ihrem Keller. Werner sah auf die Mauer vor sich. Es wurde allmählich wieder eine gewöhnliche Mauer, die von der Sonne beleuchtet war, mit einem ausgeschaufelten Kellereingang darin; nicht mehr ein greller Block Hohn, in dem ein Wirbel dunkler Hoffnung raste. Er sah auch wieder das tote Gesicht mit dem Bart vor seinen Füßen; und er sah die Beine seiner verschütteten Kameraden. Dann hörte er durch das abflauende Feuer überraschend das Klavier noch einmal durchkommen. Er preßte die Lippen fest zusammen. Befehle erschollen. Der gerettete Häftling, der im Fensterrahmen stand, kletterte aus dem Schutthaufen. Sein rechter Fuß war verdreht. Er zog ihn hoch und stand auf einem Bein. Er wagte nicht, sich fallen zu lassen. Einer der SS-Leute kam heran.»Los! Grabt die hier aus!«Die Gefangenen rissen Schutt und Steine beiseite. Sie arbeiteten mit Händen, Schaufeln und Picken. Es dauerte nicht lange, bis sie die Kameraden freigelegt hatten.
Es waren vier. Drei waren tot. Einer lebte noch. Sie hoben ihn heraus. Werner suchte nach Hilfe. Er sah die Frau mit der roten Bluse aus dem Toreingang kommen. Sie war nicht zum Luftschutzkeller gelaufen. Behutsam trug sie eine Blechschale mit Wasser und ein Handtuch. Ohne sich um etwas zu kümmern, brachte sie das Wasser an der SS vorbei und stellte es neben den Verletzten. Die SS-Leute blickten sich unschlüssig an, sagten aber nichts. Sie wusch das Gesicht frei. Der Verletzte brach blutigen Schaum. Die Frau wischte ihn weg. Einer der SS-Leute begann zu lachen. Er hatte ein unausgereiftes, zusammengeworfenes Gesicht, mit so hellen Wimpern, daß die blassen Augen nackt erschienen. Das Flakfeuer hörte auf. In der Stille dröhnte wieder das Klavier. Werner sah jetzt, woher es kam; aus einem Fenster im ersten Geschoß des Kolonialwarenladens. Ein blasser Mann mit einer Brille spielte dort an einem aufrechten braunen Klavier immer noch den Chor der Gefangenen. Die SS grinste. Einer tippte sich auf die Stirn. Werner wußte nicht, ob der Mann gespielt hatte, um für sich über das Bombardement hinwegzukommen, oder ob er etwas anderes gewollt hatte. Er entschloß sich, zu glauben, daß es eine Botschaft gewesen sei. Er glaubte immer das Bessere, wenn es ohne Risiko war. Es machte das Dasein einfacher. Leute kamen herangelaufen. Die SS wurde militärisch. Kommandos erschollen. Die Häftlinge formierten sich. Der Zugführer befahl einem SS-Mann, bei den Toten und Verletzten zu bleiben; dann kam der Befehl, im Laufschritt die Straße entlangzurennen. Die letzte Bombe hatte einen Luftschutzkeller getroffen. Die Gefangenen sollten ihn ausgraben. Der Krater stank nach Säuren und Schwefel. Ein paar Bäume standen mit offenen Wurzeln schräg am Rande. Das Gitter der Rasenanlagen starrte losgerissen in den Himmel. Die Bombe hatte den Keller nicht direkt getroffen; sie hatte ihn seitlich eingedrückt und verschüttet. Die Häftlinge arbeiteten über zwei Stunden an dem Eingang. Stufe auf Stufe legten sie die Treppe frei. Sie war schiefgedrückt worden. Alle arbeiteten, so rasch sie konnten; sie arbeiteten, als seien es ihre eigenen Kameraden, die verschüttet waren. Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Eingang frei. Sie hörten Schreie und Wimmern lange vorher. Der Keller mußte irgendwoher noch Luft bekommen. Das Schreien schwoll an, als sie die erste Öffnung machten. Ein Kopf schob sich hindurch und schrie, und zwei Hände erschienen direkt unter dem Kopf und kratzten im Schutt, als wollte ein riesiger Maulwurf sich durcharbeiten.»Vorsicht!«schrie ein Vorarbeiter.»Es kann noch einstürzen.«Die Hände arbeiteten weiter. Dann wurde der Kopf von hinten zurückgerissen, und ein anderer erschien schreiend. Auch er wurde weggerissen. Die Leute kämpften drinnen in einer Panik um den Platz am Licht.»Stoßt sie zurück! Sie werden verletzt! Das Loch muß größer gemacht werden. Stoßt sie zurück!«Sie stießen in die Gesichter. Die Gesichter bissen nach ihren Fingern. Sie rissen mit den Picken den Zement los. Sie arbeiteten, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Dann war die Öffnung groß genug, daß der erste hindurchkriechen konnte. Es war ein kräftiger Mann. Lewinsky erkannte ihn sofort. Es war der Mann mit dem Schnurrbart, der im Kolonialwarengeschäft gestanden hatte. Er hatte sich an die erste Stelle gearbeitet und schob und ächzte, um durchzukommen. Sein Bauch blieb stecken. Die Schreie drinnen wurden stärker; er verdunkelte den Keller. Man zerrte an seinen Beinen, um ihn zurückzureißen.»Hilfe!«stöhnte er mit einer hohen, pfeifenden Stimme.»Hilfe! Helft mir 'raus! 'raus hier! 'raus! Ich will euch -ich gebe euch -«Seine kleinen schwarzen Augen quollen aus dem runden Gesicht. Der Hitlerschnurrbart zitterte.
»Hilfe! Meine Herren! Bitte! Meine Herren!«Er wirkte wie ein eingeklammerter Seehund, der sprechen konnte.
Sie packten ihn unter die Arme und bekamen ihn endlich durch. Er fiel, sprang auf und rannte ohne ein Wort davon. Sie preßten ein Brett gegen den Eingang und erweiterten ihn. Dann traten sie zurück.