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Die Menschen kletterten hinaus. Frauen, Kinder, Männer – manche eilig, blaß, schwitzend, einem Grabe entkommend, andere hysterisch, schluchzend, schreiend, fluchend -, und dann langsam und schweigend die, die nicht von der Panik gepackt worden waren.

Sie rannten und kletterten an den Gefangenen vorbei.

»Meine Herren«, flüsterte Goldstein.»Habt ihr das gehört? Bitte, meine Herren! Der Mann meinte uns -«

Lewinsky nickte.»Ich gebe euch -«, wiederholte er die Worte des Seehundes.»Gar nichts«, fügte er hinzu.»Abgehauen ist er wie ein Waldaffe.«Er sah Goldstein an.

»Was ist los mit dir?«

Goldstein lehnte sich an ihn.»Zu komisch!«Er konnte kaum noch atmen.»Anstatt – daß sie uns befreien -«, keuchte er,»befreien wir – sie -«

Er kicherte und kippte langsam zur Seite. Sie hielten ihn fest und ließen ihn auf den Erdhaufen gleiten. Dann warteten sie, bis der Bunker leer war.

Sie standen da, die Gefangenen vieler Jahre, und sahen die, die für wenige Stunden Gefangene gewesen waren, an sich vorüberhasten. Lewinsky erinnerte sich, daß es schon einmal ähnlich gewesen war – als die Häftlinge auf der Straße dem Zug der Flüchtlinge aus der Stadt begegnet waren. Er sah das Dienstmädchen in dem blauen Kleid mit den weißen Tupfen aus dem Eingang kriechen. Es schüttelte seine Röcke und lächelte ihm zu. Ein einbeiniger Soldat folgte. Er richtete sich auf, schob die Krücken unter die Arme und grüßte die Gefangenen, bevor er weiterhumpelte.

Als einer der letzten kam ein sehr alter Mann heraus. Sein Gesicht hatte lange Falten wie das eines Bluthundes. Er sah die Häftlinge an.»Danke«, sagte er.»Drinnen sind noch Verschüttete.«

Langsam, gebrechlich und mit Würde ging er die schiefen Stufen hinauf. Hinter ihm kletterten die Häftlinge in den Bunker.

Sie marschierten zurück. Sie waren kaputt. Sie trugen ihre Toten und Verwundeten.

Der Verschüttete war inzwischen gestorben. Ein herrliches Abendrot stand am Himmel. Die Luft war ganz durchleuchtet davon, und es war von einer so weiten Schönheit, daß es schien, als stünde die Zeit still und als könnte es für eine Stunde keine Ruinen und keinen Tod geben.

»Schöne Helden sind wir«, sagte Goldstein. Er hatte sich von seinem Anfall erholt.

»Schuften uns ab für die hier -«

Werner sah ihn an.»Du darfst nicht mehr mit aufräumen gehen. Es ist verrückt. Du machst dich kaputt, auch wenn du dich noch so drückst.«

»Was soll ich sonst machen? Warten, daß die SS mich oben findet?«

»Wir müssen dir etwas anderes verschaffen.«

Goldstein lächelte mühsam.»Ich gehöre wohl allmählich ins Kleine Lager, was?«

Werner war nicht überrascht.»Warum nicht? Es ist sicher, und wir könnten jemand von uns da gebrauchen.«

Der Kapo, der 7105 getreten hatte, kam heran. Er ging eine Weile neben ihm her, dann schob er ihm etwas in die Hand und blieb wieder zurück. 7105 sah nach.»Zigarette«, sagte er erstaunt.

»Sie werden weich. Die Ruinen gehen ihnen auf die Nerven«, erklärte Lewinsky.»Sie denken an die Zukunft.«

Werner nickte.»Sie kriegen Angst. Merk dir den Kapo. Vielleicht können wir ihn verwenden.«

Sie schleppten sich weiter durch das weiche Licht.»Eine Stadt«, sagte Münzer nach einer Weile.»Häuser. Freie Menschen. Zwei Meter von einem entfernt. Es ist, als wäre man schon nicht mehr ganz so eingesperrt.«7105 hob den Schädel.»Ich möchte wissen, was die von uns denken?«»Was sollen sie sich denken? Gott weiß, wieviel sie überhaupt von uns wissen. Sie sehen selber nicht glücklich aus.«»Jetzt nicht«, sagte 7105. Niemand antwortete. Sie begannen den schweren Aufstieg zum Lager.»Ich wollte, ich hätte den Hund«, sagte 7105.»Es wäre ein guter Braten«, erwiderte Münzer.»Sicher dreißig Pfund netto.«»Ich meine nicht zum Essen. Einfach so.«Der Wagen kam nicht mehr durch. Die Straßen waren überall verschüttet.»Fahr zurück, Alfred«, sagte Neubauer.»Warte bei meinem Hause auf mich.«Er stieg aus und versuchte, zu Fuß weiterzukommen. Er kletterte über eine zusammengestürzte Wand, die quer über die Straße gefallen war. Der Rest des Hauses stand noch. Die Wand war abgerissen worden wie ein Vorhang, und man sah in die Wohnungen. Die Treppen wanden sich nackt empor. Im ersten Stock war ein Mahagonischlafzimmer vollständig erhalten. Die beiden Betten standen nebeneinander; nur ein Stuhl war umgefallen, und der Spiegel war zerbrochen. Im Stock darüber war die Wasserleitung in der Küche abgerissen worden. Das Wasser floß über den Fußboden und von da in Kaskaden ins Freie; ein glitzernder, dünner Wasserfall. Im Salon stand ein rotes Plüschsofa aufrecht. Bilder in Goldrahmen hingen schief auf einer gestreiften Tapete. Ein Mann stand da, wo die Vorderwand weggerissen war. Er blutete und starrte regungslos nach unten. Hinter ihm rannte eine Frau mit Koffern hin und her, in die sie Nippsachen, Sofakissen und Wäsche zu stopfen versuchte. Neubauer fühlte, daß sich unter seinem Fuß die Trümmer bewegten. Er trat zurück. Die Trümmer bewegten sich weiter. Er beugte sich nieder und riß Steine und Mörtel weg. Eine verstaubte Hand und ein Stück Arm kamen grau hervor wie eine müde Schlange.»Hilfe!«schrie Neubauer.»Hier ist noch jemand! Hilfe!«Niemand hörte ihn. Er sah sich um. Es waren keine Menschen auf der Straße.»Hilfe!«schrie er zu dem Mann im zweiten Stock empor. Der Mann wischte sich langsam das Blut vom Gesicht und reagierte nicht. Neubauer schob einen Klumpen Mörtel beiseite. Er sah Haar und griff hinein, um es hochzuziehen. Es gab nicht nach.»Alfred!«schrie er und blickte sich um. Der Wagen war nicht mehr da.»Schweine«, sagte er, plötzlich sinnlos wütend.»Wenn man sie braucht, sind sie nicht da.«Er arbeitete weiter. Schweiß lief ihm in den Uniformkragen. Er war keine Anstrengung mehr gewohnt. Polizei, dachte er. Rettungskolonnen! Wo sind all diese Gauner? Ein Stück Mörtel zerbrach und gab nach, und Neubauer sah darunter das, was kurz vorher noch ein Gesicht gewesen war. Es war jetzt eine flache, grauverschmierte Masse. Die Nase war eingedrückt. Die Augen waren nicht mehr da, sie waren ausgefüllt mit Kalkstaub; die Lippen waren verschwunden, und der Mund war eine Masse von Mörtel und losen Zähnen. Das ganze Gesicht war nur noch ein graues Oval mit Haaren darüber, durch das etwas Blut sickerte. Neubauer würgte und begann zu kotzen. Er kotzte ein Mittagessen von Sauerkraut, harter Mettwurst, Kartoffeln, Reispudding und Kaffee neben den platten Kopf. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber es war nichts da. Er drehte sich halb um und kotzte weiter.»Was ist denn hier los?«fragte jemand hinter ihm. Ein Mann war herangekommen, ohne daß er es gehört hatte. Er trug eine Schaufel. Neubauer deutete auf den Kopf in den Trümmern.»Einer verschüttet?«

Der Kopf bewegte sich etwas. Gleichzeitig bewegte es sich in der grauen Masse des Gesichtes. Neubauer kotzte wieder. Er hatte viel zu Mittag gegessen.»Der erstickt ja«, rief der Mann mit der Schaufel und sprang heran. Er rieb mit den Händen über das Gesicht, um die Nase zu finden und frei zu bekommen, und bohrte mit den Fingern da, wo der Mund sein mußte. Das Gesicht fing plötzlich stärker an zu bluten. Die flache Maske wurde lebendig durch den hinzutretenden Tod. Der Mund röchelte jetzt. Die Finger der Hand kratzten über den Mörtel, und der Kopf mit den blinden Augen zitterte. Er zitterte und wurde dann still. Der Mann mit der Schaufel richtete sich auf. Er wischte die verschmierten Hände an einem gelben, seidenen Vorhang ab, der mit einem Fenster heruntergestürzt war.»Tot«, sagte er.»Sind noch mehr da unten?«»Ich weiß es nicht.«»Sind Sie keiner aus dem Hause?«»Nein.«Der Mann deutete auf den Kopf.»Verwandter von Ihnen? Bekannter?«»Nein.«Der Mann blickte auf das Sauerkraut, die Wurst, den Reis und die Kartoffeln, sah Neubauer dann an und zuckte die Achseln. Er schien nicht viel Respekt vor einem hohen SS-Führer zu haben. Es war allerdings auch ein reichliches Essen für diese Zeit des Krieges. Neubauer fühlte, wie er errötete. Er drehte sich rasch weg und kletterte die Trümmer hinunter.

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