Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Ich fühle mich so.«

»Wenn wir herauskommen, nicht mehr.«

»Noch mehr.«

»Nein. Wenn es so wäre, dann könnten nur wenige von uns weiterleben. Man hat uns erniedrigt; aber wir sind nicht die Erniedrigten. Es sind die anderen, die es getan haben.«

»Wer sagt das?«

»Berger.«

»Du hast gute Lehrer.«

»Ja – und ich habe vieles gelernt.«

Ruth lehnte den Kopf zur Seite. Ihr Gesicht war jetzt müde. Der Schmerz war noch darin; aber es war kein Krampf mehr.»Da sind so viele Jahre«, sagte sie.»Da wird der Alltag sein -«

Bucher sah, daß blaue Wolkenschatten über den Hügel zogen, auf dem das weiße Haus stand.

Einen Augenblick wunderte er sich, daß es noch da war. Ihm schien, als hätte es von einer lautlosen Bombe getroffen sein müssen. Aber es war noch da.»Wollen wir nicht warten, bis wir draußen sind und es versucht haben, bevor wir verzweifeln?«fragte er.

Sie blickte auf ihre dünnen Hände und dachte an ihre grauen Haare und ihre fehlenden Zähne, und dann dachte sie daran, daß Bucher seit Jahren kaum eine Trau außerhalb des Lagers gesehen hatte.

Sie war jünger als er, aber sie fühlte sich um viele Jahre älter; Wissen lag auf ihr wie Blei. Sie glaubte nichts von dem, was er so sicher erwartete – und trotzdem war auch in ihr noch eine letzte Hoffnung, an die sie sich klammerte.»Du hast recht, Josef«, sagte sie.»Wir wollen so lange warten.«

Sie ging zu ihrer Baracke zurück. Ihr schmutziger Rock schlug um die dünnen Beine.

Er sah ihr nach und spürte plötzlich Wut wie eine kochende Fontäne in sich aufsteigen.

Er wußte, daß er hilflos war und nichts tun konnte, und auch, daß er darüber hinwegkommen und selbst einsehen und verstehen mußte, was er Ruth gesagt hatte.

Langsam stand er auf und ging zur Baracke. Er konnte auf einmal den hellen Himmel nicht mehr ertragen.

XXI

Neubauer starrte auf den Brief. Dann las er den letzten Absatz noch einmal.»Deshalb gehe ich. Wenn Du Dich fangen lassen willst, so ist das Deine Sache. Ich will frei sein. Freya nehme ich mit. Komm nach – Selma.«Als Adresse war ein Dorf in Bayern angegeben.

Neubauer sah sich um. Er verstand es nicht. Es konnte nicht wahr sein. Sie mußten jeden Augenblick wiederkommen. Ihn jetzt zu verlassen – das war unmöglich! Er setzte sich schwerfällig in einen der französischen Sessel. Das Ding krachte. Er stand auf, gab dem Sessel einen Tritt und ließ sich auf das Sofa fallen. Dieser verdammte Tand! Wozu hatte er das Zeug nur, anstatt überall ehrliche deutsche Möbel zu haben wie andere Leute? Ihretwegen hatte er es besorgt. Sie hatte was darüber gelesen und gedacht, es sei wertvoll und elegant. Was King es ihn an? Ihn, den rauhen, ehrlichen Gefolgsmann des Führers? Er holte zu einem zweiten Tritt nach dem zierlichen Sessel aus, besann sich aber. Wozu? Man konnte den Kram vielleicht einmal verkaufen. Aber wer kaufte schon Kunst, wenn die Kanonen zu hören waren? Er stand wieder auf und ging durch die Wohnung. Im Schlafzimmer machte er die Schranktüren auf. Er hatte noch Hoffnung, bevor er sie öffnete, aber als er in die Fächer sah, fiel sie zusammen. Selma hatte die Pelzsachen und alles Wertvolle mitgenommen. Er riß die Wäsche beiseite; der Kasten mit dem Schmuck fehlte. Langsam schloß er die Türen und stand eine Zeitlang neben dem Toilettentisch. Gedankenlos hob er die Kristallflakons aus böhmischem Glas auf, entstöpselte sie und roch daran, ohne etwas zu riechen. Es waren Geschenke aus den glorreichen Tagen in der Tschechoslowakei sie hatte sie nicht mitgenommen. Zu zerbrechlich, wahrscheinlich. Er machte plötzlich ein paar rasche Schritte zu einem Wandschrank, riß ihn auf und suchte nach einem Schlüssel. Er brauchte nicht zu suchen. Das Geheimfach war offen und leer. Sie hatte alle Wertpapiere mitgenommen. Sogar seine goldene Zigarettendose mit dem Hakenkreuz in Brillanten -das Geschenk der Industrie, als er noch im technischen Dienst war. Er hätte dableiben und dieBrüder weiter melken sollen. Die Idee mit dem Lager hatte sich jetzt am Ende doch als Fehler herausgestellt. Gewiß, in den ersten Jahren hatte man es als gutes Druckmittel benutzen können; aber nun hatte man es dafür am Halse. Immerhin, er war einer der menschlichsten Kommandanten. Das war bekannt. Meilern war kein Dachau, kein Oranienburg, kein Buchenwald – von den Vernichtungslagern gar nicht zu reden. Er horchte auf. Eines der Fenster stand offen, und ein Musselinvorhang wehte wie ein Geist im Wind. Dieses verdammte Rollen vom Horizont her! Es machte einen nervös. Er schloß das Fenster. In der Eile klemmte er die Gardine ein. Er öffnete das Fenster wieder und zerrte die Gardine herein. Sie blieb an einer Ecke hängen und zerriß. Er fluchte und knallte das Fenster zu. Dann ging er in die Küche. Das Mädchen saß am Tisch und sprang auf, als er hereinkam. Er knurrte und sah sie nicht an. Sie wußte natürlich alles, das Luder. Er holte sich selbst eine Flasche Bier aus dem Eisschrank. Er fand auch noch eine halbe Flasche Steinhäger und nahm beide mit ins Wohnzimmer. Dann ging er zurück; er hatte die Gläser vergessen. Das Mädchen stand am Fenster und horchte. Sie wandte sich um, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt.»Soll ich etwas zu essen machen?«»Nein.«Er stapfte wieder hinaus. Der Wacholderschnaps war scharf und würzig; das Bier kalt. Ausreißen, dachte er. Wie Juden. Schlimmer! Juden taten das nicht. Die blieben zusammen. Er hatte das oft gesehen. Angeschmiert! Im Stich gelassen! Das hatte man davon! Er hätte mehr vom Leben haben können, wenn er nicht ein treuer Familienvater gewesen wäre. Treu – nun, so gut wie treu, konnte man sagen. Treu eigentlich, wenn man überlegte, was er alles hätte haben können. Die paar Male! Die Witwe – die galt fast nicht. Da war eine Rothaarige gewesen, vor einigen Jahren, die gekommen war, um ihren Mann aus dem Lager zu retten – was die alles gemacht hatte in ihrer Angst! Dabei war der Mann längst tot gewesen. Sie wußte es natürlich nicht. War ein munterer Abend geworden. Später allerdings, als sie die Zigarrenkiste mit der Asche gekriegt hatte, hatte sie sich idiotisch benommen. Ihre eigene Schuld, daß sie eingesperrt wurde. Ein Obersturmbannführer konnte sich nicht anspucken lassen. Er goß einen zweiten großen Steinhäger ein. Wozu dachte er gerade an das? Ach so, wegen Selma. Was er alles hätte haben können. Ja, er hatte manche Gelegenheit verpaßt. Was andere alles getrieben hatten! Allein der Klumpfuß Binding von der Gestapo! Jeden Tag eine neue. Er schob die Flasche weg. Das Haus schien so leer, als habe Selma alle Möbel ausgeräumt. Freya hatte sie auch mitgeschleppt. Warum hatte er keinen Sohn? Nicht seine Schuld, sicher nicht! Ach, verdammt! Er sah sich um. Was sollte er hier noch? Versuchen, sie zu finden? In dem Kafferndorf? Sie war unterwegs. Konnte lange dauern, bis sie dort ankam. Er starrte auf seine blanken Stiefel. Die blanke Ehre – beschmiert jetzt durch Verrat. Schwerfällig stand er auf und ging durch das leere Haus hinaus. Draußen stand der Mercedes.»Zum Lager, Alfred.«Der Wagen kroch langsam durch die Stadt.»Halt!«sagte Neubauer plötzlich.»Zur Bank, Alfred.«Er kam heraus, so stramm er konnte. Niemand sollte es ihm ansehen! So etwas! Ihn auch noch zu blamieren! Die Hälfte des Geldes hatte sie in der letzten Zeit abgehoben. Als er gefragt hatte, warum man ihn nicht informiert habe, hatte man die Achseln gezuckt und von gemeinsamem Konto geredet. Man habe sogar geglaubt, ihm gefällig gewesen zu sein. Höhere Abhebungen seien offiziell nicht gern gesehen.»Zum Garten, Alfred.«Es dauerte lange, bis sie durchkamen. Aber dann lag der Garten sehr friedlich im Morgenlicht da. Die Obstbäume blühten bereits an vielen Stellen, Narzissen kamen heraus und Veilchen und Krokusse in allen Farben. Wie bunte Ostereier lagen sie im hellen Grün der Blätter. Keine Untreue bei ihnen – sie kamen zur Zeit und waren da, wie es sich gehörte. Die Natur war verläßlich – da gab es kein Weglaufen. Er ging in den Stall. Die Kaninchen mummelten hinter den Drahtgittern. In ihren klaren, roten Augen waren keine Gedanken über Bankkonten. Neubauer steckte einen Finger durch den Draht und kraulte die weichen Felle der weißen Angoras. Einen Schal hatte er machen lassen wollen aus dem Pelz, für Selma. Er, der gutmütige Narr, den alle immer betrogen. Er lehnte sich gegen die Gitter und starrte durch die offene Tür. Seine Entrüstung verwandelte sich im Frieden des behaglich warmen Stalles in schweres Mitleid mit sich selbst. Der strahlende Himmel, ein blühender Zweig, der vor dem Eingang auf und ab schwankte, die sanften Tiergesichter in der Dämmerung – alles trug dazu bei. Plötzlich hörte er wieder das Rollen. Es war unregelmäßiger, aber stärker als vorher. Unwiderstehlich brach es in seinen privaten Gram, ein dumpfes, unterirdisches Pochen. Es pochte und pochte, und mit ihm kam wieder die Angst. Aber es war eine andere Angst als früher. Sie war tiefer. Er war jetzt allein und konnte sich nicht mehr täuschen, indem er andere zu überreden versuchte und damit sich selbst. Jetzt spürte er sie ohne allen Vorbehalt, sie quoll ihm in die Kehle, aus dem Magen, und aus der Kehle wieder in den Magen und in die Eingeweide. Ich habe nichts Unrechtes getan, dachte er ohne Überzeugung. Nur meine Pflicht. Ich habe Zeugen. Viele. Blank ist mein Zeuge; ich habe ihm noch kürzlich eine Zigarre gegeben, anstatt ihn einsperren zu lassen. Ein anderer hatte ihm sein Geschäft genommen ohne jede Bezahlung. Blank hat das selbst zugegeben, er wird es bezeugen können; ich bin anständig gewesen, er wird es beschwören. Er wird es nicht beschwören, dachte ein kaltes Anderes in ihm, und er drehte sich um, als habe jemand hinter ihm es gesagt. Da standen die Rechen, die Schaufeln, die Harken, grün bemalt, verläßliche Holzstiele daran – wäre man doch jetzt ein Bauer, ein Gartenbesitzer, ein Gastwirt, ein Nirgendwer! Dieser verdammte Zweig, der da blühte, er hatte es leicht, er blühte einfach und hatte keine Verantwortung. Aber wohin sollte ein Obersturmbannführer? Von einer Seite kamen die Russen, von der anderen die Engländer und Amerikaner, wohin sollte man da? Selma hatte gut reden.

66
{"b":"99739","o":1}