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»Du hast das geschwindelt?«

»Nicht alles. Das letzte.«

»Den Schaum vor dem Mund auch?«

»Das sind Schultricks.«

»Du hättest es trotzdem weitergeben sollen. Warum nicht? Warum hast du es behalten?«

»Das habe ich dir schon vorher erklärt.«

»Achtung«, flüsterte Werner.»SS kommt.«

Sie standen stramm.

XI

Der neue Transport kam nachmittags. Ungefähr fünfzehnhundert Mann schleppten sich den Berg hinauf. Sie hatten weniger Invaliden bei sich, als zu erwarten war. Wer auf dem langen Weg liegengeblieben war, war immer gleich erschossen worden. Es dauerte lange, bis die Leute übernommen wurden. Die Begleit-SS, die sie ablieferte, versuchte ein paar Dutzend Tote mit hinein zu schwindeln, die sie vergessen hatte abzuschreiben. Doch die Lagerbürokratie war auf ihrer Hut; sie ließ sich jeden einzelnen Körper vorzeigen, tot oder lebendig, und nahm nur die an, die lebend das Eingangstor durchschritten. Dabei kam es zu einem Zwischenfall, der der SS viel Vergnügen bereitete. Während der Transport vor dem Tor stand, hatte noch eine Anzahl Leute schlappgemacht. Ihre Kameraden ersuchten sie mitzuschleppen, aber die SS kommandierte Laufschritt, und sie mußten einen Teil der Invaliden ihrem Schicksal überlassen. Etwa zwei Dutzend blieben liegen, verstreut über die letzten zweihundert Meter der Straße. Sie krächzten und keuchten und zirpten wie verwundete Vögel oder lagen einfach mit angstvoll aufgerissenen Augen da, zu schwach zum Schreien. Sie wußten, was sie erwartete, wenn sie zurückblieben; sie hatten Hunderte ihrer Kameraden an Genickschüssen während des Marsches sterben hören. Die SS bemerkte den Witz rasch.»Seht mal, wie die betteln, ins KZ zu kommen«, rief Steinbrenner.»Los! Los!«schrieen die SS-Leute, die den Transport abgeliefert hatten. Die Häftlinge versuchten zu kriechen.»Schildkrötenrennen!«jubelte Steinbrenner.»Ich setze auf den Kahlkopf in der Mitte.«Der Kahlkopf kroch mit weit ausgebreiteten Händen und Knien wie ein erschöpfter Frosch auf dem glänzenden Asphalt vorwärts. Er passierte einen anderen Häftling, der fortwährend in den Armen einknickte und sich mühsam wieder aufrichtete, aber kaum vorwärts kam. Alle Kriechenden hielten die Köpfe auf eine sonderbare Weise ausgestreckt – dem rettenden Tor zustrebend und gleichzeitig gespannt nach rückwärts horchend, ob Schüsse knallen würden.»Los, vorwärts, Kahlkopf!«Die SS bildete Spalier. Plötzlich krachten von hinten zwei Schüsse. Ein SS-Scharführer der Begleitmannschaft hatte sie abgegeben. Grinsend steckte er seinen Revolver wieder ein. Er hatte nur in die Luft geschossen. Die Häftlinge aber wurden durch die Schüsse von Todesangst gepackt. Sie glaubten, daß die zwei letzten von ihnen erschossen worden seien. In ihrer Aufregung kamen sie jetzt noch schlechter vorwärts als vorher. Einer blieb liegen; er streckte die Arme aus und faltete die Hände. Seine Lippen bebten, und auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. Ein zweiter legte sich still und ergeben nieder, das Gesicht in den Händen. Er bewegte sich nicht mehr.»Noch sechzig Sekunden!«schrie Steinbrenner.»Eine Minute! In einer Minute wird das Tor zum Paradies geschlossen. Wer dann nicht drin ist, muß draußen bleiben.«Er blickte auf seine Armbanduhr und bewegte das Tor, als wollte er es schließen. Ein Stöhnen der menschlichen Insekten antwortete. Der SS-Scharführer der Begleitmannschaft gab einen neuen Schuß ab. Das Krabbeln wurde verzweifelter. Nur der Mann mit dem Gesicht in den Händen rührte sich nicht. Er hatte abgeschlossen.»Hurra!«rief Steinbrenner.»Mein Kahlkopf hat es geschafft!«Er gab dem Mann einen ermunternden Tritt in den Hintern. Gleichzeitig waren einige andere durch das Tor gelangt, aber mehr als die Hälfte war noch draußen.»Noch dreißig Sekunden!«rief Steinbrenner im Ton eines Rundfunk-Zeitansagers.

Das Rascheln und Kratzen und Jammern verstärkte sich. Zwei Leute lagen hilflos auf der Straße, mit den Armen und Beinen rudernd, als wollten sie schwimmen. Sie hatten nicht mehr die Kraft, hochzukommen. Einer weinte in einem hohen Falsett.

»Piepst wie 'ne Maus«, erklärte Steinbrenner, der weiter auf seine Armbanduhr sah.

»Noch fünfzehn Sekunden!«

Ein neuer Schuß folgte. Dieses Mal war er nicht in die Luft gegangen. Der Mann, der das Gesicht in die Hände gelegt hatte, zuckte und schien sich dann zu strecken und tiefer in die Straße zu sinken. Das Blut bildete eine schwarze Lache um seinen Kopf – wie einen dunklen Heiligenschein.

Der betende Häftling neben ihm versuchte hochzuspringen. Er kam aber nur auf ein Knie und rutschte seitlich fort, so daß er auf den Rücken zu liegen kam. Er hatte die Augen krampfhaft geschlossen und bewegte die Arme und Beine, als wolle er immer noch fortlaufen und wisse nicht, daß er Luft trete wie ein strampelnder Säugling in der Wiege. Eine Lachsalve begleitete seine Anstrengungen.

»Wie willst du den nehmen, Robert?«fragte einer der SS-Leute den Scharführer, der den ersten erschossen hatte.»Von hinten durch die Brust oder durch die Nase?«

Robert ging langsam um den Strampelnden herum. Einen Augenblick blieb er nachdenklich hinter ihm stehen; dann schoß er ihn schräg von der Seite durch den Kopf. Der Strampler bäumte sich auf, schlug ein paarmal mit den Schuhen schwer auf die Straße und fiel zurück. Langsam zog er ein Bein etwas an, streckte es aus, zog es wieder an, streckte es -»Den hast du nicht genau erwischt, Robert.«

»Doch«, erwiderte Robert gleichgültig, ohne den Kritiker anzusehen.»Das sind nur noch Nervenreflexe.«

»Schluß!«erklärte Steinbrenner.»Eure Zeit ist abgelaufen! Toresschluß!«

Die Wache begann die Tore tatsächlich langsam zu schließen. Ein Angstschrei stieg auf.»Nur nicht so drängeln, meine Herrschaften!«rief Steinbrenner mit leuchtenden Augen.»Einer nach dem anderen, bitte! Da soll noch jemand sagen, daß wir hier nicht beliebt sind!«

Drei Leute kamen nicht mehr weiter. Sie lagen in Abständen von einigen Metern auf der Straße.

Robert erledigte zwei in Ruhe durch Genickschüsse; der dritte aber folgte ihm mit dem Kopf. Er saß halb, und wenn Robert hinter ihn trat, drehte er sich nach ihm um und sah ihn an, als könne er den Schuß so aufhalten. Robert versuchte es zweimal; jedesmal brachte der andere es fertig, sich mit letzter Anstrengung so weit umzudrehen, daß er Robert ansah. Robert zuckte schließlich die Achseln.»Wie du willst«, sagte er und schoß ihm ins Gesicht.

Er steckte die Waffe weg.»Das macht gerade vierzig.«

»Vierzig, die du erledigt hast?«fragte Steinbrenner, der herangekommen war.

Robert nickte.»Auf diesem Transport.«

»Donnerwetter, du bist aber eine Nummer!«Steinbrenner starrte ihn voll Bewunderung und Neid an wie jemanden, der einen Rekord im Sport aufgestellt hat. Robert war nur ein paar Jahre älter als er.»Das nennt man Klasse!«Ein älterer Oberscharführer kam heran.»Ihr mit eurer Knallerei!«schimpfte er.»Jetzt wird es wieder neues Theater geben wegen der Papiere für die Erledigten. Die stellen sich hier ja damit an, als ob wir lauter Prinzen gebracht hätten, so genau.«

Drei Stunden, nachdem der Transport zur Personalaufnahme angetreten war, waren sechsunddreißig Leute umgefallen. Vier waren tot. Der Transport hatte seit morgens kein Wasser gehabt. Von Block sechs hatten zwei Häftlinge versucht, einen gefüllten Wassereimer heranzuschmuggeln, als die SS anderswo beschäftigt war. Man hatte sie gefaßt, und sie hingen jetzt mit verdrehten Gelenken an den Kreuzen neben dem Krematorium.

Die Personalaufnahme ging weiter. Zwei Stunden später waren sieben tot und über fünfzig lagen herum. Von sechs Uhr an ging es dann schneller; zwölf waren tot, und über achtzig lagen auf dem

Platz herum. Um sieben Uhr waren es hundertzwanzig, und es war nicht mehr festzustellen, wie viele tot waren. Die Bewußtlosen bewegten sich ebensowenig wie die Toten.

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