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»Über eine Stunde«, sagte Bucher.

Er blickte auf die leeren Maschinengewehrtürme. Die Wachen waren abgezogen, und es war keine Ablösung gekommen. Das war schon ab und zu vorher passiert; doch dann nur auf kurze Zeit und nur im Kleinen Lager. Jetzt aber waren nirgendwo mehr Wachen zu sehen.

Der Tag schien gleichzeitig fünfzig Stunden gedauert zu haben und nur drei; so aufregend war er gewesen. Alle waren völlig erschöpft; sie konnten kaum noch sprechen. Sie hatten anfangs nicht sehr darauf geachtet, daß die MG-Türme nicht wieder besetzt worden waren. Bucher hatte es dann gemerkt. Er hatte auch gesehen, daß das Arbeitslager ohne Wachen war.

»Vielleicht sind sie schon abgezogen.«

»Nein. Lebenthal hat gehört, daß sie noch da sind.«

Sie warteten weiter. Die Wachen kamen nicht. Es gab Essen. Die Essenholer berichteten, daß noch SS da sei. Es sähe allerdings nach Abzug aus.

Das Essen wurde ausgegeben. Es entstand eine kraftlose Schlägerei. Die ausgehungerten Skelette mußten zurückgetrieben werden.»Es ist genug da für alle«, rief 509.»Mehr als sonst! Viel mehr!

Jeder kriegt was.«

Es gab endlich Ruhe. Die Kräftigsten bildeten eine Kette um den Kessel, und 509 begann mit dem Verteilen. Berger war noch im Hospital versteckt.

»Seht euch das an! Sogar Kartoffeln!«sagte Ahasver.»Und Sehnen. Ein Wunder!«

Die Suppe war bedeutend dicker als gewöhnlich, und es gab fast doppelt soviel wie sonst. Es gab auch doppelte Brotportionen. Es war immer noch viel zuwenig, aber für das Kleine Lager war es etwas Unbegreifliches.»Der Alte stand selbst dabei«, berichtete Bucher.»Solange ich hier bin, habe ich das nicht gesehen.«

»Er will sich ein Alibi verschaffen.«

Lebenthal nickte.»Sie halten uns hier für blöder, als wir sind.«

»Nicht einmal.«509 stellte seinen leeren Topf neben sich.»Sie geben sich keine Mühe, über uns nachzudenken. Sie glauben, daß wir so sind, wie sie wollen, fertig. Sie tun das überall. Sie wissen alles und alles immer besser. Deshalb haben sie auch den Krieg verloren. Sie wußten alles besser über Rußland, England und Amerika.«

Lebenthal rülpste.»Welch ein wunderbarer Laut«, sagte er andächtig»Großer Gott, wann habe ich zum letztenmal gerülpst!«

Sie waren aufgeregt und müde. Sie redeten und hörten kaum, was sie sagten. Sie lagen auf einer unsichtbaren Insel. Rundum starben Muselmänner. Sie starben trotz der kräftigeren Suppe.

Langsam bewegten sie ihre Spinnenglieder und krächzten und flüsterten ab und zu oder schliefen hinüber. Bucher ging langsam, so gerade aufgerichtet, wie er konnte, über den Appellplatz zu dem doppelten Stacheldrahtzaun hinüber, der die Frauenbaracke vom Kleinen Lager trennte. Er lehnte sich dagegen.»Ruth.«Sie stand auf der anderen Seite. Das Abendrot färbte ihr Gesicht und gab ihm einen Schein von Gesundheit, als hätte sie schon viele gute Mahlzeiten hinter sich.»Da stehen wir«, sagte Bucher.»Da stehen wir, offen, und kümmern uns um nichts.«Sie nickte. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.»Ja. Zum ersten Male.«»Als sei es ein Gartenzaun. Wir können uns dagegenlehnen und miteinander sprechen. Ohne Angst. Wie an einem Gartenzaun im Frühling.«Sie waren trotzdem nicht ohne Angst. Sie blickten alle Augenblicke hinter sich und zu den unbesetzten Türmen hinüber. Es saß viel zu tief in ihnen. Sie wußten es. Sie wußten auch, daß sie es überwinden mußten. Sie lächelten sich zu, und jeder versuchte, länger als der andere auszuhalten, nicht rasch einen hastigen Blick seitwärts zu werfen. Andere fingen an, es nachzumachen. Wer konnte, richtete sich auf und ging umher. Manche näherten sich dem Stacheldraht weiter, als erlaubt war – so weit, daß die Wachen schon geschossen hätten, wenn sie dagewesen wären. Es lag eine sonderbare Befriedigung darin. Es schien kindisch, und es war alles andere, nur nicht kindisch. Sie schritten vorsichtig auf ihren Stelzbeinen dahin; manche schwankten und mußten sich festhalten; die Köpfe hoben sich, die Augen in den verwüsteten Gesichtern starrten nicht mehr auf den Boden ins Leere – sie begannen wieder zu sehen. Etwas fast Vergessenes rührte sich in den Gehirnen, qualvoll, bestürzend und beinahe noch ohne Namen. So wanderten sie über den Platz, vorüber an den Haufen von Toten, vorüber an den Haufen teilnahmsloser Kameraden, die starben oder sich nur noch bewegten und an Essen denken konnten – eine geisterhafte Promenade von Skeletten, in denen ein Funke Leben trotz allem nicht erstorben war. Das Abendrot erlosch. Blaue Schatten wucherten im Tal und überschwemmten die Hügel. Die Wachen waren immer noch nicht zurück. Die Nacht wurde tiefer. Bolte erschien nicht zum Abendappell. Lewinsky brachte Nachrichten. In den Kasernen war große Tätigkeit. Man erwartete die Amerikaner in ein bis zwei Tagen. Der Transport morgen würde nicht mehr zusammengestellt werden. Neubauer sei in die Stadt gefahren. Lewinsky grinste mit allen Zähnen.»Nicht mehr lange! Ich muß zurück!«Er nahm drei von den Versteckten mit. Die Nacht war sehr still. Sie kam groß und mit allen Sternen.

XXIV

Der Lärm begann gegen Morgen. 509 hörte zuerst das Schreien. Es kam von weit her durch die Stille. Es war nicht das Schreien gefolterter Menschen; es war das Grölen einer betrunkenen Rotte.

Schüsse knatterten. 509 fühlte nach seinem Revolver. Er hatte ihn unter dem Hemd. Er versuchte zu hören, ob nur die SS feuerte oder ob Werners Leute bereits antworteten.

Dann kam das Bellen eines leichten Maschinengewehres.

Er kroch hinter einen Haufen Toter und beobachtete den Eingang zum Kleinen Lager.

Es war noch dunkel, und neben dem Haufen waren noch so viele einzelne Tote verstreut, daß er sich leicht dazulegen konnte, ohne aufzufallen.

Das Brüllen und Schießen dauerte einige Minuten. Dann wurde es plötzlich stärker und kam näher. 509 drückte sich dichter hinter die Toten. Er sah das rote Stottern des Maschinengewehres. Einschüsse klatschten überallhin. Ein halbes Dutzend SS-Leute kam feuernd den großen Mittelweg herunter. Sie Schossen in die Baracken zu beiden Seiten. Ab und zu patschten verirrte Kugeln weich in die Haufen der Toten. 509 lag flach und völlig gedeckt auf dem Boden. Auf allen Seiten erhoben sich Häftlinge wie verängstigte Vögel. Sie flatterten mit den Armen und taumelten ziellos umher.»Hinlegen!«rief 509.»Hinlegen! Tot stellen! Still liegenbleiben!«Einige hörten ihn und ließen sich fallen. Andere stolperten auf die Baracke los und stauten sich an den Türen. Die meisten, die draußen waren, blieben liegen, wo sie lagen. Der Trupp kam an der Latrine vorbei, auf das Kleine Lager los. Das Tor wurde aufgerissen. 509 sah im Dunkeln die Silhouetten und im Aufsprühen der Revolver die verzerrten Gesichter.»Hierher!«schrie jemand.»Hier zu den Holzbaracken! Wollen den Brüdern mal einheizen. Frieren sicher! Hierher!«»Los! 'ran hier! Los, Steinbrenner. Bringt die Kannen her!«509 erkannte Webers Stimme.»Da sind ja welche vor der Tür!«rief Steinbrenner. Das leichte MG spuckte in den dunklen Haufen an der Tür. Er sank langsam in sich zusammen.»Gut so! Und jetzt los!«509 hörte Glucksen, als wenn Wasser ausgeschüttet würde. Er sah dunkle Kannen, die geschwenkt wurden und aus denen Flüssigkeit hoch über die Wände schwappte. Dann roch er das Benzin. Die Elitetruppe Webers hatte Abschied gefeiert. Um Mitternacht war der Befehl zum Abrücken durchgekommen, und die meisten Truppen waren bald abmarschiert; aber Weber und seine Rotte hatten noch Schnaps genug und sich rasch besoffen. Sie wollten nicht einfach so abziehen und waren noch einmal durch das Lager gestürmt. Weber hatte angeordnet, Benzinkannen mitzunehmen. Sie wollten ein Fanal hinterlassen, an das man noch lange denken sollte. Die Baracken, die aus Stein waren, hatten sie in Ruhe lassen müssen; dafür aber hatten sie an den alten polnischen Holzbaracken alles, was sie suchten.»Feuerzauber! Los!«schrie Steinbrenner. Ein Streichholz flammte auf; gleich darauf brannte eine Schachtel. Der Mann, der sie hielt, warf sie auf den Boden. Ein anderer warf eine zweite in eine Kanne, die dicht neben der Baracke stand. Sie erlosch. Aber von dem hellen Rot des ersten Streichholzes lief ein dünner blauer Streifen über den Boden zur Baracke, die Wand hinauf, schlug fächerförmig, gasig auseinander und verbreitete sich zu einer zitternden blauen Fläche. Es sah im ersten Augenblick nicht gefährlich aus, sondern wirkte wie eine kalte, elektrische Entladung, dünn und wehend, die rasch verlöschen würde. Dann aber begann es zu knistern, und in dem blauen Wehen zum Dache hin tauchten herzförmige, gelbe, wabernde Feuerkerne auf – Flammen. Die Tür öffnete sich ein Stück.»Knallt die 'runter, die 'rauskommen!«kommandierte Weber. Er hatte ein Maschinengewehr unter dem Arm und feuerte. Eine Gestalt fiel in der Tür nach hinten. Bucher, dachte 509. Ahasver. Sie schliefen dicht an der Tür. Ein SS-Mann sprang vor, riß die zusammengesunkenen Gestalten, die noch vor dem Eingang lagen zur Seite, stieß die Tür wieder zu und sprang zurück.»Jetzt kann's losgehen! Hasenjagd!«Das Feuer schoß bereits in Garben hoch. Durch das Brüllen der SS-Leute hörte man das Schreien der Gefangenen. Die Tür der nächsten Sektion öffnete sich. Menschen purzelten heraus. Die Münder waren schwarze Löcher. Schüsse knatterten. Keiner kam durch. Wie ein Haufen Spinnen zuckten sie vor dem Eingang. 509 hatte im Anfang erstarrt dagelegen. Jetzt richtete er sich vorsichtig auf Er sah vor den Flammen die Silhouetten der SS deutlich. Er sah Weber breitbeinig dastehen. Langsam, dachte er, während alles in ihm zitterte. Langsam, eines nach dem anderen.

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