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Er holte den Revolver unter dem Hemd hervor. Dann hörte er in einer kurzen Stille zwischen dem Brüllen der SS und dem Sausen des Feuers das Schreien der Gefangenen lauter. Es war ein hohes, Unmenschliches Schreien. Ohne zu überlegen, zielte er auf den Rücken Webers und drückte ab.

Er hörte den Schuß unter den anderen Schüssen nicht. Er sah Weber auch nicht fallen.

Und plötzlich fiel ihm ein, daß er keinen Rückstoß der Waffe in der Hand gespürt hatte. Ihm war, als hiebe ihm jemand mit einem Hammer gegen das Herz. Der Revolver hatte nicht funktioniert.

Er merkte nicht, daß er sich die Lippen zerbiß. Ohnmacht stürzte wie Nacht über ihn herein, er biß und biß, um nicht in den schwarzen Nebel zu versinken. Naß geworden, wahrscheinlich, unbrauchbar, Tränen, Salz, Wut, ein letztes Tasten – und dann plötzlich die Erlösung, die rasche, huschende Hand über die glatte Fläche, ein kleiner Hebel, der nachgab, und Strömen, Strömen – der Revolver war nicht entsichert gewesen.

Er hatte Glück. Niemand von der SS wandte sich um. Sie erwarteten nichts von seiner Seite. Sie standen und schrieen und hielten die Türen unter Feuer. 509 hob die Waffe gegen die Augen. Er sah in der flackernden Helle, daß sie jetzt entsichert war. Seine Hände zitterten immer noch. Er lehnte sich über den Haufen Toter und stützte die Arme auf, um mehr Sicherheit zu haben. Er zielte mit beiden Händen. Weber stand etwa zehn Schritte vor ihm. 509 holte einige Male langsam Atem.

Dann hielt er die Luft an, machte seine Arme so starr wie möglich und krümmte langsam den Finger.

Der Schuß ging in den anderen Schüssen unter. Aber 509 spürte den Rückschlag sehr stark. Er feuerte noch einmal. Weber stolperte nach vorn, blickte sich halb um, als sei er ungeheuer erstaunt, und knickte in den Knien ein. 509 schoß weiter. Er zielte auf den nächsten SS-Mann, der ein MG unter dem Arm hatte. Er drückte und drückte den Abzugshebel noch, als er längst keine Patronen mehr hatte. Der andere fiel nicht. 509 stand eine Sekunde, den Revolver schlaff in der Hand. Er hatte erwartet, sofort erschossen zu werden. Aber niemand hatte in all dem Geknalle etwas von ihm gemerkt. Er ließ sich hinter dem Haufen Toter auf den Boden fallen.

In diesem Augenblick sah einer der SS-Leute Weber.»He!«schrie er.»Sturmführer!«

Weber hatte seitlich hinter ihnen gestanden, und sie hatten nicht gleich bemerkt, was passiert war.

»Sturmführer! Was ist los?«

»Er ist verwundet!«

»Wer hat das gemacht? Wer von euch?«

»Sturmführer!«

Sie kamen nicht auf den Gedanken, daß Weber anders als durch einen Fehlschuß getroffen worden sein könnte.»Verflucht! Welcher Idiot -«

Neue Schüsse knatterten. Aber sie kamen vom Arbeitslager her. Man sah das Aufblitzen.»Die Amerikaner!«schrie einer der SS-Leute.»Los! Verschwinden!«

Steinbrenner feuerte in die Richtung der Latrine.»Verschwinden! Rechts herum! Über den Appellplatz!«rief jemand.»Rasch! Bevor sie uns hier abschneiden!«

»Der Sturmführer!«

»Wir können ihn nicht mitschleppen!«

Das Aufblitzen von der Richtung der Latrine her kam näher.»Los! Los!«

Die SS-Leute rannten feuernd um die brennende Baracke herum. 509 erhob sich. Er taumelte auf die Baracke zu. Einmal fiel er. Dann stieß er die Tür auf.»'raus! 'raus! Sie sind fort!«

»Sie schießen noch -«

»Das sind unsere! 'raus! 'raus!«

Er stolperte zur nächsten Tür und begann an Armen und Beinen zu zerren,»'raus! 'raus! Sie sind fort!«

Gestalten brachen durch die Tür, über die Liegenden hinweg. 509 hastete weiter. Die Tür von A brannte bereits. Er konnte nicht heran. Er schrie und schrie, er hörte Schüsse, Lärm, ein Stück brennenden Holzes fiel ihm vom Dach auf die Schulter, er stürzte, stolperte wieder hoch, fühlte einen heftigen Schlag und kam zu sich, als er auf der Erde saß. Er wollte aufstehen, aber er konnte es nicht. Er hörte von weitem Rufe und sah, als sei es sehr fern, Menschen, viele plötzlich, keine SS-Leute mehr, Gefangene, die Leute trugen, über ihn stolperten – er kroch weg. Er konnte nichts mehr tun. Er war plötzlich todmüde. Er wollte aus dem Wege sein. Er hatte den zweiten Mann nicht getroffen. Vielleicht auch Weber nicht richtig. Es war vergebens gewesen. Er hatte versagt. Er kroch weiter. Da war der Haufen der Toten. Er gehörte dazu. Er war nichts wert. Bucher tot. Ahasver tot. Er hätte es Bucher machen lassen sollen. Ihm den Revolver geben sollen. Es wäre besser gewesen. Wozu war er nun nütze gewesen? Er lehnte sich mühsam gegen den Haufen. Irgendwas schmerzte. Er schob die Hand gegen die Brust und hob sie hoch. Sie war blutig. Er sah es, ohne daß es Eindruck auf ihn machte. Er war nicht mehr er. Er fühlte nur noch die Hitze und hörte die Schreie. Dann wurden sie ferner.

Er erwachte. Die Baracke brannte noch. Es roch nach verbranntem Holz und verkohltem Fleisch und Verwesung. Die Hitze hatte die Toten erwärmt. Sie hatten schon tagelang gelegen und begannen zu tropfen und zu stinken. Das entsetzliche Schreien war verstummt. Eine endlose Prozession von Leuten trug versengte und verbrannte Gerettete fort. 509 hörte irgendwo Buchers Stimme. Er war also nicht tot. Es war dann doch nicht alles vergebens gewesen. Er blickte sich um. Nach einiger Zeit bemerkte er, wie neben ihm sich etwas regte. Es dauerte noch eine Weile, bis er es erkannte. Es war Weber. Er lag auf dem Bauch. Es war ihm gelungen, hinter den Totenhaufen zu kriechen, ehe Werner und seine Leute kamen. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Er hatte ein Bein angezogen und die Arme ausgestreckt. Blut lief aus seinem Munde. Er lebte noch. 509 versuchte eine Hand zu heben. Er wollte jemand rufen; aber er war zu schwach dazu. Seine Kehle war ausgetrocknet. Nur ein Raspeln kam heraus. Das Knistern der brennenden Baracke war viel zu laut dagegen. Weber hatte die Bewegung der Hand gesehen. Seine Augen folgten ihr. Dann begegneten sie denen von 509. Beide blickten sich an. 509 wußte nicht, ob Weber ihn erkannte. Er wußte auch nicht, was die Augen ihm gegenüber sagten. Er spürte plötzlich nur, daß seine Augen länger aushalten mußten als die vor ihm. Er mußte länger leben als Weber. Es war auf eine sonderbare Weise auf einmal unendlich wichtig – als hinge die Gültigkeit von allem, woran er in seinem Leben geglaubt, wofür er gekämpft und gelitten hatte, davon ab, daß das Leben hinter seiner Stirn länger glimme als hinter der Stirn vor ihm. Es war wie ein Duell und ein Gottesurteil. Wenn er jetzt durchhielt, würde auch durchhalten, was so wichtig für ihn gewesen war, daß er sein Leben deswegen riskiert hatte. Es war wie eine letzte Anstrengung. Noch einmal war es in seine Hände gegeben – und er mußte es gewinnen. Er atmete weich und vorsichtig, immer nur bis gegen die Grenze des Schmerzes. Er sah das Blut aus Webers Mund rieseln, und er fühlte nach, ob auch er aus dem Munde blutete. Er spürte etwas, aber als er seine Hand betrachtete, war es wenig, und ihm fiel ein, daß es von seinen zerbissenen Lippen kam. Webers Augen folgten seiner Hand. Dann sahen sich beide wieder an. 509 versuchte zu denken; er wollte noch einmal finden, worauf es ankam und was es war. Es sollte ihm mehr Kraft geben. Es hatte mit dem Einfachsten im Menschen zu tun, und ohne es würde die Welt zerstört werden, das wußte sein müdes Gehirn noch. Durch es würde auch das andere vernichtet werden, das absolut Böse; der Antichrist; die Todsünde gegen den Geist. Worte, dachte er. Sie sagten nur wenig. Aber wozu noch Worte? Er mußte ausharren. Es mußte sterben vor ihm. Das war alles. Sonderbar, daß keiner sie sah. Daß man ihn nicht sah, begriff er. Es lagen so viele Tote da. Aber der andere! Er lag ganz im Schatten des Totenhaufens, das mußte es sein. Die Uniform war schwarz, und das Licht spiegelte nicht auf den Stiefeln. Es waren auch nicht mehr so viele Leute in der Nähe. Sie standen weiter entfernt und starrten auf die Baracken. Die Wände waren an einigen Stellen eingeschlagen. Da verbrannten viele Jahre Elend und Tod. Die vielen Namen und Inschriften. Es krachte. Die Flammen schossen hoch. Das Dach der Baracke stürzte in einem Funkenregen zusammen. 509 sah die brennenden Stücke durch die Luft fliegen. Sie schienen sehr langsam zu fliegen. Eines segelte niedrig über den Totenhaufen, stieß gegen einen Fuß, drehte sich und fiel auf Weber. Es fiel ihm in den Nacken. Webers Augen begannen zu zittern. Rauch stieg von seinem Uniformkragen auf. 509 hätte sich vorlehnen und das Scheit beiseite schieben können. Er glaubte wenigstens, daß er es hätte tun können; er wußte nur nicht genau, ob seine Lunge nicht verletzt war und ob ihm dann das Blut nicht aus dem Munde springen würde. Doch das war nicht der Grund, daß er es nicht tat. Er unterließ es auch nicht aus Rache; es ging jetzt um mehr als Rache. Und das wäre eine viel zu geringe gewesen. Webers Hände bewegten sich. Der Kopf zuckte. Das Holz brannte weiter im Nacken. Die Uniform war durchsengt. Sie flackerte in kleinen Flammen. Webers Kopf bewegte sich wieder. Das brennende Scheit rutschte vorwärts. Gleich darauf begann das Haar zu kohlen. Das Scheit fing an zu zischen, das Feuer leckte um die Ohren und über den Kopf. 509 sah nun die Augen genauer. Sie traten stärker aus ihren Höhlen hervor. Das Blut quoll stoßweise aus dem Munde, der sich ohne Laut bewegte. Nichts war zu hören in dem Lärm der weiter niederbrennenden Baracke. Der Kopf war jetzt nackt und schwarz. 509 starrte ihn an. Das Holzstück brannte langsam aus. Das Blut versiegte. Alles versank. Nichts war mehr da als die Augen. Die Welt war zusammengeschrumpft auf sie. Sie mußten erblinden. 509 wußte nicht, ob es Stunden oder Minuten gedauert hatte – aber die Arme Webers schienen sich, ohne Bewegung, plötzlich zu strecken. Dann veränderten sich die Augen und waren keine Augen mehr. Sie waren nur noch quallige Dinge. 509 saß noch eine Zeitlang still. Dann stützte er vorsichtig einen Arm auf, vorwärts – um sich näher zu schieben. Er mußte ganz sicher sein, ehe er nachgab. Nur im Kopf fühlte er noch Festigkeit; sein Körper war bereits ohne Gewicht und hatte zur selben Zeit das ganze Gewicht der Erde und war schon fast ohne Kontrolle. Er konnte ihn nicht vorwärtsschieben. Langsam beugte er sich vor, hob einen Finger und stieß ihn gegen die Augen Webers. Sie reagierten nicht. Weber war tot. 509 wollte sich aufrecht setzen, aber er konnte jetzt auch das nicht mehr. Das Vorbeugen hatte bewirkt, was er vorher erwartet hatte. Etwas so tief von innen, als käme es aus der Erde, quoll hoch und floß über. Das Blut lief leicht und ohne Schmerzen. Es lief über Webers Kopf. Es schien, als liefe es nicht nur aus dem Munde, sondern aus dem ganzen Körper, zurück in die Erde, aus der es wie eine sanfte Fontäne aufgestiegen war. 509 versuchte nicht, es zu halten. Die Arme wurden weich. Im Nebel sah er Ahasver riesengroß vor der Baracke. Er ist also doch nicht – dachte er noch, dann wurde die Erde, auf die er sich stützte, zu Moor, und er sank ein.

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