Bucher zitterte. Er wollte nicht zittern, aber er hatte keine Gewalt über sich. Er war plötzlich allein.
509 war nicht mehr da. Alles in ihm gab nach. Er mußte rasch tun, was 509 getan hatte, sonst war es zu spät, und er würde wie ein Automat ausführen, was man ihm befahl.
»Ich unterschreibe auch nicht«, stammelte er.
Weber grinste.»Sieh mal an! Noch einer! Das ist ja wie in den alten guten Anfangstagen!«
Bucher fühlte den Schlag kaum. Eine krachende Finsternis brach über ihm zusammen.
Als er aufwachte, stand Weber über ihm. 509, dachte er stumpf, sog ist zwanzig Jahre älter als ich.
Mit dem hat er dasselbe gemacht. Ich muß durchhalten! Er spürte das Reißen, das Feuer, die Messer in den Schultern, er hörte nicht, daß er schrie – dann kam die Finsternis wieder.
Als er zum zweiten Male aufwachte, lag er neben 509 in einem anderen Kaum auf dem Zementboden. Durch ein Rauschen kam die Stimme Webers.»Ich könnte das ja für euch unterschreiben lassen, und es wäre erledigt; aber ich werde das nicht tun. Ich werde euren Trotz erst einmal in aller Gemütlichkeit brechen. Ihr werdet das selbst unterschreiben. Ihr werdet mich auf den Knien bitten, unterschreiben zu dürfen, wenn ihr es dann noch könnt.«509 sah Webers Kopf dunkel vor dem Fenster. Der Kopf schien sehr groß vor dem Himmel dahinter. Der Kopf war Tod und der Himmel dahinter plötzlich Leben, Leben, ganz gleich wo und wie, verlaust, zerschlagen, blutend, Leben trotz allem, einen jähen Augenblick lang – dann brach die Stumpfheit hölzern hinein, die Nerven erloschen barmherzig wieder, und nichts war mehr da als das matte Dröhnen. Wozu wehre ich mich, dachte etwas trübe in ihm, als er wieder aufwachte – es ist doch egal, hier totgeschlagen zu werden oder zu unterschreiben und durch eine Spritze erledigt zu werden, schneller als hier, schmerzloser -, dann hörte er eine Stimme neben sich, seine eigene Stimme, mit der ein anderer zu sprechen schien -»nein – ich unterschreibe nicht – und wenn Sie mich totschlagen -«.
Weber lachte.»Das möchtest du wohl, du Gerippe! Damit es vorbei ist, wie?
Totschlagen dauert Wochen bei uns. Wir fangen gerade erst an.«
Er nahm den Koppelriemen wieder auf. Der Schlag traf 509 über die Augen. Er verletzte sie nicht; sie waren zu tief eingesunken. Der zweite traf die Lippen. Sie rissen ein wie trockenes Pergament.
Nach ein paar weiteren Hieben über den Schädel mit dem Koppelschloß war er wieder bewußtlos.
Weber schob ihn beiseite und schlug auf Bucher los. Bucher versuchte, sich wegzuducken; aber er war viel zu langsam. Der Schlag traf ihn über die Nase. Er krümmte sich, und Weber trat ihm zwischen die Beine. Bucher schrie. Er spürte noch das Koppelschloß einige Male in seinen Nacken hacken, dann fiel er wieder in den Sturm der Dunkelheit.
Er hörte verworrene Stimmen; aber er rührte sich nicht. Solange er bewußtlos schien, würde er nicht weitergeschlagen werden. Die Stimmen gingen über ihn hinweg, endlos. Er versuchte, nicht hinzuhören, aber sie kamen näher und stachen in seine Ohren und sein Gehirn.
»Bedauere, Herr Doktor, aber wenn die Leute nicht freiwillig wollen – Sie sehen, Weber hat ihnen gründlich zugeredet.«
Neubauer war glänzender Laune. Seine Erwartungen waren weit übertroffen worden.
»Haben Sie das hier verlangt?«fragte er Wiese.
»Selbstverständlich nicht.«
Bucher versuchte vorsichtig zu blinzeln. Aber er konnte seine Augenlider nicht kontrollieren. Sie klappten auf wie die einer mechanischen Puppe. Er sah Wiese und Neubauer. Dann sah er 509.
509 hatte die Augen ebenfalls offen. Weber war nicht mehr da.
»Selbstverständlich nicht«, erklärte Wiese noch einmal.»Als Kulturmensch -«
»Als Kulturmensch«, unterbrach Neubauer ihn,»brauchen Sie diese Leute für Ihre Experimente, nicht wahr?«
»Das ist eine Angelegenheit der Wissenschaft. Unsere Versuche retten zehntausend anderen Menschen das Leben. Sie verstehen das vielleicht nicht -«
»Doch. Aber Sie verstehen dieses hier vielleicht nicht. Es ist eine einfache Sache der Disziplin.
Überaus wichtig, ebenfalls.«
»Jeder auf seine Art«, erklärte Wiese hochmütig.
»Gewiß, gewiß. Bedaure, daß ich Ihnen nicht besser behilflich sein konnte. Aber wir zwingen keinen unserer Schützlinge zu etwas. Und die Leute hier scheinen eine Abneigung dagegen zu haben, das Lager zu verlassen.«Er wandte sich zu 509 und Bucher.»Ihr wollt also lieber im Lager bleiben?«509 bewegte die Lippen.»Was?«fragte Neubauer scharf.
»Ja«, sagte 509.
»Und du dort?«
»Ich auch«, flüsterte Bucher.
»Sehen Sie, Herr Stabsarzt?«Neubauer lächelte.»Die Leute lieben es hier. Da ist nichts zu machen.«
Wiese lächelte nicht.»Tölpel«, sagte er verächtlich in die Richtung von 509 und Bucher.»Dieses Mal wollten wir wirklich nichts anderes machen als Fütterungsexperimente.«
Neubauer blies den Rauch seiner Zigarre von sich.»Um so besser. Doppelte Strafe für Insubordination. Immerhin, wenn Sie noch versuchen wollen, im Lager andere zu finden – es steht Ihnen frei, Herr Doktor.«
»Danke«, sagte Wiese kalt.
Neubauer schloß die Tür hinter ihm und kam zurück in den Raum. Die würzige, blaue Rauchwolke des Tabaks umwehte ihn. 509 roch sie und fühlte plötzlich eine reißende Gier in seinen Lungen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun; es war eine fremde, selbständige Gier, die sich in seine Lungen einkrallte. Unbewußt atmete er tief und spürte den Rauch, und gleichzeitig beobachtete er Neubauer. Er verstand einen Augenblick lang nicht, warum er und Bucher nicht mit Wiese weggeschickt worden waren; aber dann wußte er es. Es gab nur eine Erklärung. Sie hatten einem SS-Offizier nicht gehorcht und würden dafür im Lager bestraft werden. Die Strafe war vorauszusehen – man hatte Leute aufgehängt, nur weil sie einem Kapo nicht gehorcht hatten. Es war falsch gewesen, nicht zu unterschreiben, fühlte er plötzlich. Mit Wiese hätten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Jetzt waren sie verloren.
Eine würgende Reue quoll in ihm auf. Sie preßte seinen Magen, sie stand hinter seinen Augen, und scharf und unerklärlich spürte er gleichzeitig die rasende Gier nach dem Tabaksrauch.
Neubauer betrachtete die Nummer auf der Brust von 509. Es war eine niedrige Nummer.»Wie lange bist du schon hier?«fragte er.
»Zehn Jahre, Herr Obersturmbannführer.«
Zehn Jahre. Neubauer hatte gar nicht gewußt, daß noch Häftlinge vom Anfang her da waren.
Eigentlich ein Zeichen für meine Milde, dachte er. Es gibt sicher nicht viele Lager, die so etwas haben. Er zog an seiner Zigarre. So etwas konnte sogar einmal ganz nützlich sein. Man wußte nie, was kam.
Weber kam herein. Neubauer nahm seine Zigarre aus dem Mund und stieß auf. Er hatte Schlackwurst und Rühreier zum Frühstück gehabt – eine seiner Lieblingsspeisen.
»Obersturmführer Weber«, sagte er.»Dies hier war nicht befohlen.«
Weber blickte ihn an. Er wartete auf den Witz. Der Witz kam nicht.»Wir werden sie heute abend beim Appell hängen«, sagte er schließlich.
Neubauer rülpste noch einmal.»Es war nicht befohlen«, wiederholte er.
»Übrigens, weshalb machen Sie so etwas selbst?«
Weber antwortete nicht gleich. Er begriff nicht, daß Neubauer wegen solcher Kleinigkeiten überhaupt ein Wort verschenkte.»Dafür gibt es doch genug Leute«, sagte Neubauer. Weber war in der letzten Zeit ziemlich selbständig geworden. Es schadete nichts, wenn auch er einmal merkte, wer hier Befehle gab.»Was ist los mit Ihnen, Weber? Nerven durchgegangen?«
»Nein.«
Neubauer wandte sich wieder 509 und Bucher zu. Hängen, hatte Weber gesagt.
Eigentlich richtig. Aber wozu? Der Tag hatte sich besser gestaltet, als zu vermuten war. Und es war außerdem ganz gut, Weber zu zeigen, daß nicht alles so geschehen mußte, wie er dachte.»Es war keine direkte Befehlsverweigerung«, erklärte er.»Ich hatte freiwillige Meldungen angeordnet. Dies hier sieht nicht so aus. Geben Sie den Leuten zwei Tage Bunker, weiter nichts. Weiter nichts, Weber, verstehen Sie? Ich möchte, daß meine Befehle befolgt werden.«