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»Wo sind sie?«fragte Ahasver.»Ist noch Zeit?«

»Ja. Rasch!«

Der Schäferhund legte sich gehorsam nieder, während Ahasver ihn streichelte und 509 ihm Hände und Füße band, damit er nicht nach draußen laufen konnte. Er tat es zwar nie; aber dieser Besuch war außergewöhnlich, und es war besser, nichts zu riskieren. Ahasver stopfte ihm noch einen Lumpen in den Mund, so daß er atmen, aber nicht bellen konnte. Dann schoben sie ihn in die dunkelste Ecke.»Bleib da!«

Ahasver hob die Hand.»Ruhig! Platz!«Der Schäferhund hatte versucht, sich zu erheben.»Leg dich! Still! Bleib da!«Der Irrsinnige sank zurück.

»'raustreten!«schrie Handke draußen.

Die Skelette drängten sich heraus und stellten sich auf. Wer nicht gehen konnte, wurde gestützt oder getragen und auf die Erde gelegt.

Es war ein erbärmlicher Haufen von halbtoten, sterbenden und verhungernden Menschen. Weber wandte sich an Wiese.»Ist das hier, was Sie brauchen?«

Wieses Nasenflügel schnupperten, als rieche er einen Braten.»Prächtige Spezimen«, murmelte er.

Dann setzte er eine Hornbrille auf und betrachtete die Reihen wohlwollend.

»Wollen Sie sie aussuchen?«fragte Weber.

Wiese hüstelte.»Ja – nun, da war von Melden die Rede – freiwillig -«

»Na, schön«, erwiderte Weber.»Wie Sie wollen. Sechs Mann vortreten für leichte Arbeit.«

Niemand bewegte sich. Weber wurde rot. Die Blockältesten schrieen das Kommando nach und begannen, eilig Leute vorzustoßen. Weber ging gelangweilt die Reihen entlang und entdeckte plötzlich Ahasver im hinteren Glied vor Baracke 22.»Der da! Der mit dem Bart!«schrie er.

»'raustreten! Weißt du nicht, daß es verboten ist, so 'rumzulaufen? Blockältester! Was fällt Ihnen ein? Wozu sind Sie da?

Vortreten, der Kerl da!«

Ahasver trat vor.»Zu alt«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück.»Einen Augenblick. Ich glaube, wir sollten das anders machen.«

»Leute«, sagte er dann sanft.»Ihr gehört ins Hospital. Alle. Im Lagerlazarett ist kein Platz mehr.

Ich kann sechs von euch anderswo unterbringen. Ihr braucht Suppen, Fleisch und kräftige Kost.

Die sechs, die es am nötigsten haben, vortreten.«

Niemand trat vor. An solche Märchen glaubte keiner im Lager. Die Veteranen hatten Wiese außerdem wiedererkannt. Sie wußten, daß er schon einigemale Leute geholt hatte. Keiner war wiedergekommen.

»Ihr habt wohl noch zu viel zu fressen, was?«schnauzte Weber.»Das werden wir ändern. Sechs Mann vortreten, aber flott!«

Aus Sektion B taumelte ein Skelett nach vorn und blieb stehen.»Gut«, sagte Wiese und musterte es.»Sie sind vernünftig, lieber Mann. Wir werden Sie schon auffüttern.«

Ein zweiter folgte. Dann noch einer. Es waren neue Zugänge.»Los! Drei mehr!«rief Weber ärgerlich. Er hielt die Sache mit dem freiwilligen Melden für eine Kateridee Neubauers. Man befahl auf der Schreibstube, und die sechs Leute wurden geliefert, fertig.

Wieses Mundwinkel zuckten.»Ich garantiere euch persönlich für gute Kost, Leute. Fleisch, Kakao, nahrhafte Suppen!«

»Herr Stabsarzt«, sagte Weber.»Die Bande versteht nicht, wenn man so mit ihr redet.«

»Fleisch?«fragte das Skelett Wassja, das wie hypnotisiert neben 509 stand.

»Natürlich, mein lieber Mann.«Wiese wandte sich ihm zu.»Täglich. Täglich Fleisch!«

Wassja kaute. 509 stieß ihn warnend mit dem Ellbogen an.

Es war kaum eine Bewegung gewesen; aber Weber hatte sie trotzdem bemerkt.

»Sauhund!«Er trat 509 gegen den Bauch. Es war kein übermäßig kräftiger Tritt; es war ein Warntritt, kein Straftritt, nach Webers Meinung. Aber 509 fiel um.

»Aufstehn, Schwindler!«

»Nicht so, nicht so«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück.»Ich muß sie heil haben.«

Er beugte sich über 509 und tastete ihn ab. Nach einer Weile öffnete 509 die Augen.

Er sah Wiese nicht an. Er sah Weber an.

Wiese richtete sich auf.»Sie müssen ins Hospital, lieber Mann. Wir werden für Sie sorgen.«

»Ich bin nicht verletzt«, keuchte 509 und stand mit Mühe auf.

Wiese lächelte.»Das weiß ich als Arzt besser.«Er wandte sich an Weber.»Das wären noch zwei.

Nun der letzte. Ein jüngerer.«Er zeigte auf Bucher, der auf der anderen Seite neben 509 gestanden hatte.»Der vielleicht -«

»Marsch, 'raus!«

Bucher trat neben 509 und die anderen. Weber sah jetzt durch die Lücke, die entstanden war, den tschechischen Knaben Karel.»Da ist noch eine halbe Portion. Wollen Sie die als Zugabe haben?«

»Danke. Ich brauche ausgewachsene Leute. Diese genügen. Herzlichen Dank.«

»Gut. Ihr sechs meldet euch in fünfzehn Minuten auf der Schreibstube. Blockältester! Nummern notieren! Gewaschen, ihr dreckigen Schweine!«

Sie standen, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Keiner sprach. Sie wußten, was es bedeutete. Nur Wassja grinste. Er war schwachsinnig vor Hunger und glaubte, was Wiese gesagt hatte. Die drei Neuen starrten stumpf ins Leere; sie wären willenlos jedem Befehl gefolgt, auch dem, in den elektrisch geladenen Draht zu laufen. Ahasver lag am Boden und stöhnte. Handke hatte ihn mit einem Knüppel verprügelt, nachdem Weber und Wiese gegangen waren.

»Josef!«Eine schwache Stimme kam vom Frauenlager herüber.

Bucher rührte sich nicht. Berger stieß ihn an.»Da ist Ruth Holland.«

Das Frauenlager lag links neben dem Kleinen Lager und war von ihm durch einen doppelten, ungeladenen Stacheldraht getrennt. Es bestand nur aus zwei kleinen Baracken, die während des Krieges eingerichtet worden waren, als die neuen Massenverhaftungen begannen. Früher waren keine Frauen im Lager gewesen.

Bucher hatte vor zwei Jahren einige Wochen als Tischler drüben gearbeitet. Dabei hatte er Ruth Holland getroffen. Beide hatten sich heimlich ab und zu für kurze Zeit sehen und sprechen können; dann war Bucher zu einem anderen Kommando versetzt worden. Sie hatten sich erst wiedergesehen, als er ins Kleine Lager eingeliefert worden war. Manchmal, nachts oder bei Nebel, hatten sie dann miteinander flüstern können.

Ruth Holland stand hinter dem Stacheldraht, der die beiden Lager trennte. Der Wind wehte den gestreiften Kittel um ihre dünnen Beine.»Josef!«rief sie wieder.

Bücher hob den Kopf.»Geh vom Draht weg! Sie sehen dich!«

»Ich habe alles gehört. Tu es nicht!«

»Geh vom Draht weg, Ruth. Der Posten kann schießen.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar war kürz und völlig grau.»Du nicht! Bleib hier! Geh nicht! Bleib hier, Josef!«

Bucher sah hilflos zu 509 hinüber.»Wir kommen wieder«, sagte 509 für ihn.

»Er kommt nicht wieder. Ich weiß es. Und du weißt es auch.«Sie preßte die Hände gegen den Draht.»Nie kommt jemand wieder.«

»Geh zurück, Ruth.«Bucher blickte nach den Wachtürmen.»Es ist gefährlich, da zu stehen.«

»Er kommt nicht wieder! Ihr wißt es alle!«509 erwiderte nichts. Es war nichts zu erwidern. Er war taub in sich selbst. Er hatte kein Gefühl mehr. Nicht für andere und nicht für sich selbst. Alles war vorbei, er wußte es, aber er fühlte es noch nicht. Er fühlte nur, daß er nichts fühlte.

»Er kommt nicht wieder«, wiederholte Ruth Holland.»Er soll nicht gehen.«

Bucher starrte auf den Boden. Er war zu benommen, um weiter zu antworten.»Er soll nicht gehen«, sagte Ruth Holland. Es war wie eine Litanei. Monoton, ohne Erregung.

Es war schon jenseits aller Erregung.»Jemand anders soll gehen. Er ist jung. Jemand anders soll für ihn gehen -«

Niemand antwortete. Jeder wußte, daß Bucher gehen mußte. Die Nummern waren von Handke aufgeschrieben worden. Und wer wäre schon für ihn gegangen?

Sie standen und sahen sich an. Die, die gehen mußten, und die, die zurückblieben. Sie sahen sich an. Wenn ein Blitz eingeschlagen und Bucher und 509 getötet hätte, wäre es erträglicher gewesen.

Es war unerträglich, weil in diesem letzten Blick noch die Lüge war, das schweigende: warum ich?

Gerade ich? auf der einen – und das: Gottlob, nicht ich! Nicht ich! auf der anderen Seite.

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