»Ja«, sagte Goldmund, »die Figur ist ganz gut geworden. Aber nun höre mich, Narziß! Daß diese Figur gut geworden ist, dazu war meine ganze Jugend nötig, meine Wanderschaft, meine Verliebtheit, mein Werben um viele Frauen. Das ist der Brunnen, aus dem ich geschöpft habe. Der Brunnen wird bald leer sein, es wird mir dürr im Herzen. Ich werde diese Maria fertigmachen, dann aber werde ich für eine gute Weile Urlaub nehmen, ich weiß nicht, für wie lange, und werde meine Jugend und alles dies wieder aufsuchen, was mir einst so lieb gewesen ist. Kannst du es verstehen? – Nun ja. Du weißt, ich war dein Gast, und ich habe für meine Arbeit hier nie eine Bezahlung genommen …«
»Ich habe sie dir oft angeboten«, warf Narziß ein.
»Ja, und jetzt nehme ich sie an. Ich werde mir neue Kleider machen lassen, und wenn sie fertig sind, bitte ich dich um ein Pferd und um ein paar Taler Geld, dann reite ich in die Welt. Sage nichts, Narziß, und sei nicht betrübt. Es ist nicht, daß es mir hier nicht mehr gefallen würde, ich könnte es nirgends besser haben. Es geht um anderes. Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?«
Es wurde wenig mehr darüber gesprochen. Goldmund ließ sich ein einfaches Reiterkleid und Stiefel machen, und während der Sommer näher kam, machte er die Maria fertig, als sei es sein letztes Werk, mit liebender Behutsamkeit gab er den Händen, dem Gesicht, dem Haar die letzte Vollendung. Es konnte sogar so scheinen, als zögere er die Abreise hinaus, als lasse er sich recht gerne von diesen letzten zarten Arbeiten an der Figur immer wieder ein wenig aufhalten. Tag um Tag verging, und er hatte noch immer dies und jenes anzuordnen. Narziß, obwohl er den bevorstehenden Abschied schwer empfand, lächelte manchmal ein wenig über die Verliebtheit Goldmunds und sein Nichtloskommenkönnen von der Marienfigur.
Dann aber überraschte ihn Goldmund doch eines Tages, indem er plötzlich kam, um sich zu verabschieden. Über Nacht hatte er seinen Entschluß gefaßt. Im neuen Kleide, in einem neuen Barett, kam er zu Narziß, um Abschied zu nehmen. Er hatte schon vor einer Weile gebeichtet und kommuniziert. Jetzt kam er, um Lebewohl zu sagen und sich den Reisesegen zu holen. Beiden fiel der Abschied schwer, und Goldmund tat forscher und gleichmütiger, als ihm ums Herz war.
»Werde ich dich denn wiedersehen?« fragte Narziß.
»O ja, wenn dein hübscher Gaul mir den Hals nicht bricht, wirst du mich gewiß wiedersehen. Es wäre ja sonst niemand da, der dich noch Narziß nennt und dir Sorgen macht. Verlaß dich drauf. Vergiß nicht, ein Auge auf Erich zu haben. Und daß niemand mir meine Figur anrührt! Sie bleibt in meiner Kammer stehen, wie ich gesagt habe, und du darfst mir den Schlüssel nicht aus der Hand geben.«
»Freust du dich auf die Reise?«
Goldmund zwinkerte mit den Augen.
»Na, ich habe mich darauf gefreut, das ist schon so. Aber jetzt, wo ich losreiten soll, kommt es mir doch weniger lustig vor, als man meinen sollte. Du wirst mich auslachen, aber ich trenne mich gar nicht leicht, und diese Anhänglichkeit gefällt mir nicht. Es ist wie eine Krankheit, junge und gesunde Leute haben das nicht. Der Meister Niklaus war auch so. Ach, schwatzen wir nicht unnützes Zeug! Segne mich, Lieber, ich will abreisen.«
Er ritt davon.
Narziß war in seinen Gedanken viel mit dem Freunde beschäftigt, er sorgte um ihn und hatte Sehnsucht nach ihm. Würde er ihm denn zurückkommen, der entflohene Vogel, der liebe Leichtfuß? Nun zog dieser wunderliche und geliebte Mensch wieder seine krause, willenlose Bahn, nun strich er wieder lüstern und neugierig durch die Welt, seinen starken dunklen Trieben nach, stürmisch und unersättlich, ein großes Kind. Möge Gott mit ihm sein, möge er heil zurückkommen. Nun flog er wieder kreuz und quer, der Schmetterling, nun sündigte er wieder, verführte Frauen, ging seinen Gelüsten nach, geriet vielleicht wieder in Totschlag, in Gefahr und Gefangenschaft und kam darin um. Wieviel Sorgen machte einem dieser blonde Knabe, der über sein Altwerden klagte und aus solchen Kinderaugen blickte! Wie mußte man um ihn in Angst sein. Und doch freute sich Narziß von Herzen über ihn. Es gefiel ihm im Grunde sehr, daß dieses trotzige Kind so schwer zu bändigen war, daß er solche Launen hatte, daß er nun wieder ausgebrochen war und sich die Hörner ablief.
Jeden Tag kehrten die Gedanken des Abts zu irgendeiner Stunde zu seinem Freunde zurück, in Liebe und Sehnsucht, in Dankbarkeit, in Sorge, zuweilen auch mit Bedenken und Selbstvorwürfen. Hätte er dem Freunde nicht vielleicht mehr davon verraten sollen, wie sehr er ihn liebte, wie wenig er ihn anders wünschte, wie reich er durch ihn und durch seine Kunst geworden war? Er hatte ihm wenig davon gesagt, viel zu wenig vielleicht – wer weiß, ob er ihn nicht hätte halten können?
Er war durch Goldmund aber nicht nur reicher geworden. Er war durch ihn auch ärmer geworden, ärmer und schwächer, und es war gewiß gut, daß er das dem Freunde nicht gezeigt hatte. Die Welt, in der er lebte und Heimat hatte, seine Welt, sein Klosterleben, sein Amt, seine Gelehrsamkeit, sein schön gegliedertes Gedankengebäude waren ihm durch den Freund oft stark erschüttert und zweifelhaft geworden. Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Verrichtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.
Ja, und es war vielleicht wirklich nicht bloß kindlicher und menschlicher, ein Goldmundleben zu führen, es war am Ende wohl auch mutiger und größer, sich dem grausamen Strom und Wirrwarr zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen, sich einen schönen Gedankengarten voll Harmonie anzulegen und zwischen seinen behüteten Beeten sündelos zu wandeln. Es war vielleicht schwerer, tapferer und edler, mit zerrissenen Schuhen durch die Wälder und auf den Landstraßen zu wandern, Sonne und Regen, Hunger und Not zu leiden, mit den Freuden der Sinne zu spielen und sie mit Leiden zu bezahlen.
Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, daß ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, daß er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne daß im Heiligtum seiner Seele das göttliche Licht und die Schöpferkraft erlosch. Tief hatte Narziß in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar still-lebendigen, von innerer Form und Ordnung verklärten Gebilde hatte hervorgehen sehen, diese innigen, von Seele leuchtenden Gesichter, diese unschuldigen Pflanzen und Blumen, diese flehenden oder begnadeten Hände, all diese kühnen und sanften, stolzen oder heiligen Gebärden, seitdem wußte er wohl, daß in diesem unsteten Künstler- und Verführerherzen eine Fülle von Licht und Gottesgnade wohne.
Leicht hatte er es gehabt, in ihren Gesprächen dem Freund überlegen zu scheinen, dessen Leidenschaft seine Zucht und Gedankenordnung entgegenzusetzen. Aber war nicht jede kleine Gebärde einer Goldmundfigur, jedes Auge, jeder Mund, jede Ranke und Kleidfalte mehr, war wirklicher, lebendiger und unersetzlicher als alles, was ein Denker leisten konnte? Hatte dieser Künstler, dessen Herz so voll Widerstreit und Not war, nicht für unzählige Menschen, heutige und kommende, Sinnbilder ihrer Not und ihres Strebens aufgestellt, Gestalten, zu welchen Andacht und Ehrfurcht, Herzensangst und Sehnsucht Unzähliger sich wenden konnten, um in ihnen Trost, Bestätigung und Stärkung zu finden?
Lächelnd und traurig erinnerte Narziß sich all der Szenen seit früher Jugend, in denen er seinen Freund geführt und belehrt hatte. Dankbar hatte der Freund es angenommen, hatte immer wieder seine Überlegenheit und Führerschaft gelten lassen. Und dann hatte er in aller Stille die aus dem Sturm und Leid seines gepeitschten Lebens geborenen Werke hingestellt: keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen, sondern echtes, erhöhtes Leben. Wie arm war er selbst dagegen mit seinem Wissen, seiner Klosterzucht, seiner Dialektik!
Dies waren die Fragen, um welche seine Gedanken kreisten. So wie er vor vielen Jahren einst erschütternd und mahnend in Goldmunds Jugend eingegriffen und sein Leben in einen neuen Raum gestellt hatte, so hatte seit seiner Rückkehr der Freund ihm zu schaffen gemacht, ihn erschüttert, ihn zu Zweifel und Selbstprüfung gezwungen. Er war ihm ebenbürtig; nichts hatte Narziß ihm gegeben, das er nicht vielfach wiederbekommen hätte.
Der davongerittene Freund ließ ihm Zeit zu seinen Gedanken. Die Wochen vergingen, längst hatte der Kastanienbaum geblüht, längst war das milchig hellgrüne Buchenlaub dunkel, fest und hart geworden, längst hatten die Störche auf dem Torturm gebrütet, hatten Junge und hatten sie fliegen gelehrt. Je länger Goldmund ausblieb, desto mehr sah Narziß, was er an ihm gehabt hatte. Er hatte einige gelehrte Patres im Hause, einen Kenner des Plato, einen vorzüglichen Grammatiker, einen oder zwei subtile Theologen. Er hatte unter den Mönchen einige treue, redliche Seelen, denen es Ernst war. Aber er hatte keinen seinesgleichen, keinen, an dem er sich ernstlich messen konnte. Dies Unersetzliche hatte nur Goldmund ihm gegeben. Es nun wieder entbehren zu müssen, fiel ihm schwer. Mit Sehnsucht dachte er an den Entfernten.
Oft ging er in die Werkstatt hinüber, ermunterte den Gehilfen Erich, der am Altar weiterarbeitete und sehr nach der Rückkehr seines Meisters bangte. Manchmal schloß der Abt Goldmunds Kammer auf, wo die Maria stand, hob vorsichtig das Tuch von der Figur und verweilte bei ihr. Er wußte nichts von ihrer Herkunft, Goldmund hatte ihm die Geschichte Lydias nie erzählt. Aber er fühlte alles, er sah, daß diese Mädchengestalt lange in seines Freundes Herzen gelebt habe. Vielleicht hatte er sie verführt, vielleicht sie betrogen und verlassen. In seiner Seele aber hatte er sie mitgenommen und bewahrt, treuer als der beste Gatte, und schließlich hatte er, vielleicht nach vielen Jahren, in denen er sie nie mehr gesehen, diese schöne rührende Mädchenfigur gemacht und in ihr Gesicht, ihre Haltung, ihre Hände alle Zärtlichkeit, Bewunderung und Sehnsucht eines Liebenden beschlossen. Auch in den Figuren der Lesekanzel im Refektorium las er dies und jenes von der Geschichte seines Freundes. Es war die Geschichte eines Landfahrers und Triebmenschen, eines Heimatlosen und Treulosen, aber was hier davon übriggeblieben, war alles gut und treu, war voll lebendiger Liebe. Wie geheimnisvoll war dieses Leben, wie trüb und reißend flossen seine Ströme, und wie edel und klar standen die Ergebnisse da!