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Goldmund errötete vor Verlegenheit über das Lob, und auch vor Freude. Um abzulenken, unterbrach er den Freund: »Das meiste von dem, was du mir sagen wolltest, habe ich verstehen können. Eines aber will mir noch immer nicht in den Kopf: das, was du ‚das reine Denken’ nennst, also dein sogenanntes Denken ohne Bilder und das Operieren mit Worten, bei denen man sich nichts vorstellen kann.«

»Nun, an einem Beispiel kannst du es dir klarmachen. Denke doch an die Mathematik! Was für Vorstellungen enthalten die Zahlen? Oder die Zeichen Plus und Minus? Was für Bilder enthält eine Gleichung? Gar keine! Wenn du eine arithmetische oder algebraische Aufgabe lösest, so hilft dir keine Vorstellung dabei, sondern du vollziehst innerhalb gelernter Denkformen eine formale Aufgabe.«

»So ist es, Narziß. Wenn du mir eine Reihe von Zahlen und Zeichen hinschreibst, so kann ich mich ohne alle Vorstellungen durch sie hindurcharbeiten, kann mich von dem Plus und Minus, den Quadraten, den Einklammerungen und so weiter leiten lassen, und kann die Aufgabe lösen. Das heißt – ich konnte es einst, heut könnte ich es langst nicht mehr. Aber ich kann mir nicht denken, daß das Vollziehen solcher formaler Aufgaben einen anderen Wert habe als den einer Verstandesübung für Schüler. Rechnen lernen ist ja ganz gut. Aber ich fände es sinnlos und kindisch, wenn ein Mensch sein Leben lang über solchen Rechenaufgaben sitzen und ewig sein Papier mit Zahlenreihen bedecken würde.«

»Du täuschest dich, Goldmund. Du nimmst eben an, daß dieser fleißige Rechner immer neue Schulaufgaben löse, die ein Lehrer ihm stellt. Er kann sich die Fragen aber auch selbst stellen, sie können als zwingende Gewalten m ihm entstehen. Man muß manchen wirklichen und manchen fiktiven Raum mathematisch berechnet und gemessen haben, ehe man als Denker an das Problem des Raumes sich wagen kann.«

»Nun, ja. Aber das Problem des Raumes, als reines Denkproblem, scheint mir auch in der Tat nicht der Gegenstand zu sein, an den ein Mann seine Arbeit und seine Jahre verschwenden sollte. Das Wort ‚Raum’ ist für mich nichts und keines Gedankens wert, solange ich mir nicht einen wirklichen Raum dabei vorstelle, etwa den Sternenraum; den zu betrachten und auszumessen scheint mir allerdings keine unwürdige Aufgabe.«

Lächelnd fiel Narziß ein: »Du willst eigentlich sagen, daß du vom Denken nichts hältst, wohl aber von der Anwendung des Denkens auf die praktische und sichtbare Welt. Ich kann dir antworten: an Gelegenheiten zur Anwendung unseres Denkens und am Willen dazu fehlt es uns keineswegs. Der Denker Narziß zum Beispiel hat die Ergebnisse seines Denkens sowohl auf seinen Freund Goldmund wie auf jeden seiner Mönche hundertmal zur Anwendung gebracht und tut es zu jeder Stunde. Wie aber sollte er etwas ‚anwenden’, wenn er es nicht zuvor gelernt und geübt hätte. Auch der Künstler übt ja sein Auge und seine Phantasie immerzu, und wir erkennen seine Übung an, wenn sie auch nur in wenigen wirklichen Werken zur Auswirkung kommt. Du kannst nicht das Denken als solches verwerfen, seine ‚Anwendung’ aber billigen! Der Widerspruch ist klar. Also laß mich ruhig denken, und beurteile mein Denken nach seinen Auswirkungen, ebenso wie ich deine Künstlerschaft nach deinen Werken beurteilen werde. Du bist jetzt unruhig und gereizt, weil zwischen dir und deinen Werken noch Hindernisse liegen. Räume sie weg, suche oder baue dir eine Werkstatt und gehe auf deine Werke los! Viele Fragen werden sich dabei von selber lösen.«

Goldmund wünschte sich nichts Besseres. Er fand einen Raum neben dem Hoftor, der zur Zeit leer stand und sich zur Werkstatt eignete. Er gab dem Zimmermann einen Zeichentisch und anderes Gerät in Auftrag, das er ihm genau aufzeichnete. Er stellte eine Liste der Gegenstände auf, die ihm von den Klosterfuhrleuten nach und nach aus den nächsten Städten mitgebracht werden sollten, eine lange Liste. Er schaute sich beim Zimmermann und im Walde alle Vorräte von geschlagenem Holze an, wählte viele Stücke für sich aus und ließ eins ums andere in den Grasgarten hinter seiner Werkstatt schaffen, wo er sie trocken lagerte und mit eigenen Händen ein Schutzdach darüber zimmerte. Auch hatte er viel beim Schmied zu tun, dessen Sohn, einen jungen träumerischen Menschen, er ganz bezauberte und für sich gewann. Mit ihm stand er nun halbe Tage an der Esse, am Amboß, am Kühltrog und am Schleifstein, da stellten sie alle die krummen und geraden Schnitzmesser, Meißel, Bohrer und Schabeisen her, die er zur Bearbeitung der Hölzer brauchte. Der Schmiedssohn Erich, ein Jüngling von etwa zwanzig Jahren, wurde Goldmunds Freund, er half überall mit und war voll glühender Teilnahme und Neugierde. Goldmund versprach ihm, ihn im Lautenspiel zu unterrichten, was er sich sehnlich wünschte, und auch das Schnitzen sollte er bei ihm probieren dürfen. Wenn Goldmund zuzeiten sich im Kloster und bei Narziß recht unnütz und bedrückt fühlte, konnte er sich bei Erich erholen, der ihn schüchtern liebte und ohne Maß verehrte. Oft bat er ihn, ihm vom Meister Niklaus und von der Bischofsstadt zu erzählen; manchmal tat Goldmund es gerne und war dann plötzlich verwundert darüber, daß er nun hier sitze und wie ein alter Mann von Reisen und Taten der Vergangenheit berichte, da doch sein Leben erst richtig beginnen sollte.

Daß er sich in den letzten Zeiten stark verändert hatte und weit über seine Jahre gealtert war, konnte niemand sehen, sie hatten ihn ja vorher nicht gekannt. Die Nöte der Wanderschaft und des unsteten Lebens mochten schon früher an ihm gezehrt haben; dann aber hatte die Pestzeit mit ihren vielen Schrecken und zuletzt seine Gefangenschaft beim Grafen und jene grausige Nacht im Schloßkeller ihn bis ins tiefste erschüttert, und es blieb davon dies und jenes zurück: graue Haare im blonden Bart, dünne Falten im Gesicht, Zeiten mit schlechtem Schlaf und zuweilen innen im Herzen eine gewisse Ermüdung, ein Erschlaffen der Lust und Neugierde, ein graues laues Gefühl von Genughaben und Sattsein. Beim Vorbereiten seiner Arbeit, in den Gesprächen mit Erich, in den Hantierungen beim Schmied und Zimmermann taute er auf, wurde lebhaft und jung, alle bewunderten ihn und hatten ihn gern, aber dazwischen saß er nicht selten halbe und ganze Stunden müde, lächelnd und träumerisch, einer Apathie und Gleichgültigkeit hingegeben.

Sehr wichtig war ihm die Frage, wo er denn mit seiner Arbeit beginnen solle. Das erste Werk, das er hier machen und mit dem er die Gastfreundschaft des Klosters heimzahlen wollte, sollte kein zufälliges sein, das man irgendwo zur Neugierde aufstellt, sondern es sollte gleich den alten Werken des Hauses ganz zum Bau und zum Leben des Klosters gehören und ein Teil von ihm werden. Am liebsten hätte er einen Altar gemacht oder auch eine Kanzel, für beides aber war kein Bedürfnis und Raum. Dafür fand er etwas anderes. Im Refektorium der Patres gab es eine erhöhte Nische, in der während der Mahlzeiten stets ein junger Bruder die Legende vorlas. Diese Nische war ohne Schmuck. Goldmund beschloß, den Aufgang zum Lesepult und dieses selbst mit einer hölzernen Schmuckverkleidung zu versehen, der einer Kanzel ähnlich, mit halb erhabenen und einigen beinah freistehenden Figuren. Er teilte den Plan dem Abte mit, der ihn lobte und willkommen hieß.

Als nun endlich die Arbeit beginnen konnte – es lag Schnee, und Weihnachten war schon vorüber –, nahm Goldmunds Leben eine neue Gestalt an. Fürs Kloster war er wie verschwunden, niemand sah ihn mehr, er wartete nicht mehr am Ende der Schulstunden auf die Schülerschar, strich nicht mehr im Walde herum, wandelte nicht mehr im Kreuzgang. Die Mahlzeiten nahm er jetzt beim Müller – es war nicht mehr der, den er als Schüler einst viel besucht hatte. Und in seine Werkstatt ließ er keinen Menschen eintreten als seinen Gehilfen Erich; auch dieser bekam an manchen Tagen kein Wort von ihm zu hören.

Für sein erstes Werk, die Vorleserempore, hatte er in langem Sinnen diesen Plan aufgestellt: von den beiden Teilen, aus denen das Werk bestand, sollte der eine die Welt, der andere das göttliche Wort darstellen. Der untere Teil, die Treppe, aus einem starken Eichenstamm hervorwachsend und sich um ihn drehend, sollte die Schöpfung darstellen, Bilder der Natur und des einfachen Lebens der Patriarchen. Der obere Teil, die Brüstung, würde die Bilder der vier Evangelisten tragen. Einem der Evangelisten wollte er die Gestalt des seligen Abtes Daniel geben, einem andern die des seligen Pater Martin, seines Nachfolgers, und in der Figur des Lukas wollte er seinen Meister Niklaus verewigen.

Er stieß auf große Schwierigkeiten, auf größere, als er gedacht hatte. Sie machten ihm Sorgen, aber es waren süße Sorgen, er warb um das Werk entzückt und verzweifelt wie um eine spröde Frau, er kämpfte mit ihm erbittert und zart, wie ein Angler mit einem großen Hecht kämpft, jeder Widerstand belehrte ihn und machte ihn feinfühliger. Er vergaß alles andere, er vergaß das Kloster, vergaß beinahe Narziß. Dieser fand sich einige Male ein, bekam aber nichts zu sehen als Zeichnungen.

Dafür überraschte ihn eines Tages Goldmund mit der Bitte, ihm Beichte zu hören.

»Ich konnte mich bisher nicht dazu bringen«, gestand er, »ich kam mir zu gering vor, ich fühlte mich vor dir schon gerade genug gedemütigt. Jetzt ist mir wohler, ich habe jetzt meine Arbeit und bin kein Nichts mehr. Und da ich nun schon einmal in einem Kloster mitlebe, möchte ich mich der Ordnung fügen.«

Er fühlte sich der Stunde jetzt gewachsen und wollte nicht länger damit warten. Und in dem beschaulichen Leben der ersten Wochen, in der Hingabe an all das Wiedersehen und Jugendgedenken und auch in den Erzählungen, um die ihn Erich bat, war der Rückblick auf sein Leben in eine gewisse Ordnung und Klarheit gerückt.

Narziß empfing ihn ohne Feierlichkeit zur Beichte. Sie dauerte gegen zwei Stunden. Mit unbewegtem Gesicht hörte der Abt die Abenteuer, Leiden und Sünden seines Freundes an, stellte manche Fragen, unterbrach nie und hörte auch jenen Teil der Beichte gleichgültig an, in dem Goldmund das Hinschwinden seines Glaubens an Gottes Gerechtigkeit und Güte bekannte. Er war ergriffen von manchen Bekenntnissen des Beichtenden, er sah, wieviel er geschüttelt und erschreckt worden war und wie nah er zuweilen am Untergang gewesen war. Dann wieder mußte er lächeln – und war gerührt von des Freundes unschuldig gebliebener Kindlichkeit, denn er fand ihn besorgt und reuig wegen unfrommer Gedanken, die im Vergleich mit seinen eigenen Zweifeln und Denkabgründen harmlos waren.

Zu Goldmunds Verwunderung, ja Enttäuschung, nahm der Beichtvater seine eigentlichen Sünden nicht allzu schwer, mahnte und strafte ihn aber ohne Schonung wegen seiner Vernachlässigung des Betens, Beichtens und Kommunizierens. Er legte ihm die Buße auf, vor dem Empfang der Kommunion vier Wochen mäßig und keusch zu leben, jeden Morgen die erste Frühmesse zu hören und jeden Abend drei Vaterunser und einen Marienhymnus zu sprechen.

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