Schon hatte sie ihn in die Kleiderkammer gedrängt, allein stand er und tappte zögernd im Finstern. Drüben hörte er den Grafen laut mit Agnes sprechen. Er tastete sich zwischen den Kleidern hindurch zur Ausgangstür, lautlos setzte er Fuß vor Fuß. Nun war er bei der Türe, die zum Korridor führte, und suchte sie leise zu öffnen. Und in diesem Augenblick erst, als er die Tür von außen verschlossen fand, erschrak auch er, und sein Herz begann wild und schmerzhaft zu schlagen. Es konnte ein unglücklicher Zufall sein, daß jemand, seit er hier hereingekommen war, diese Tür verschlossen hatte. Er glaubte aber nicht daran. Er war in eine Falle gegangen, er war verloren; irgend jemand mußte ihn gesehen haben, als er hier hereinschlich. Es würde ihm den Hals kosten. Zitternd stand er im Finstern, und sogleich fiel Agnesens Abschiedswort ihm ein: »Verrate mich nicht!« Nein, er würde sie nicht verraten. Sein Herz hämmerte, aber der Entschluß machte ihn fest, trotzig biß er die Zähne zusammen.
Dies war alles in wenigen Augenblicken geschehen. Jetzt ging jenseits die Tür, und aus Agnesens Zimmer trat der Graf herein, mit einem Leuchter in der Linken und dem gezogenen Schwert in der Rechten. Im selben Augenblick raffte Goldmund mit hastigem Griff einige von den rings um ihn hängenden Kleidern und Mänteln zusammen und nahm sie über den Arm. Man sollte ihn für einen Dieb halten, vielleicht war dies ein Ausweg.
Der Graf hatte ihn sofort gesehen. Langsam kam er heran. »Wer ist man? Was tut man hier? Antwort, oder ich stoße zu.«
»Verzeihet«, flüsterte Goldmund, »ich bin ein armer Mann, und Ihr seid so reich! Ich gebe alles zurück, Herr, was ich genommen habe, seht!«
Und er legte die Mäntel an den Boden.
»So, also gestohlen hast du? Es war nicht klug von dir, für einen alten Mantel dein Leben zu wagen. Bist du ein Stadtbürger?«
»Nein, Herr, ich bin heimatlos. Ich bin ein armer Mann, Ihr werdet Nachsicht haben –«
»Hör auf! Ich möchte wohl wissen, ob du am Ende so frech warst, die gnädige Frau belästigen zu wollen. Aber da du ohnehin gehängt wirst, brauchen wir das nicht zu untersuchen. Der Diebstahl genügt.«
Er klopfte heftig gegen die geschlossene Tür und rief: »Seid ihr da? Aufmachen!«
Die Tür wurde von außen geöffnet, drei Knechte standen mit gezogenen Klingen bereit.
»Bindet ihn gut«, rief der Graf mit einer Stimme, die vor Hohn und Hochmut knarrte. »Es ist ein Landstreicher, der hier gestohlen hat. Setzt ihn fest, und morgen früh hängt den Schelm an den Galgen.«
Es wurden Goldmund, ohne daß er sich wehrte, die Hände zusammengeschnürt. So wurde er abgeführt, durch den langen Gang, die Treppen hinab über den inneren Hof, ein Diener trug ein Windlicht voraus. Vor einem runden eisenbeschlagenen Kellertor blieben sie stehen, es wurde verhandelt und gescholten, es fehlte der Schlüssel zum Tor, ein Knecht nahm das Windlicht, der Diener lief zurück, nach dem Schlüssel. So standen sie, die drei Bewaffneten und der Gebundene, und warteten vor dem Tor. Der mit dem Licht zündete dem Gefangenen neugierig ins Gesicht. In diesem Augenblick kamen zwei von den Priestern vorüber, deren so viele im Schloß zu Gast waren, sie kamen von der Schloßkapelle her und blieben vor der Gruppe stehen, beide sahen sich die nächtliche Szene aufmerksam an: die drei Knechte, den gebundenen Mann, wie sie dastanden und warteten. Goldmund bemerkte weder die Priester, noch sah er seine Wächter an. Er konnte nichts sehen als das leise flackernde Licht, das dicht vor sein Gesicht gehalten wurde und ihm in die Augen blendete. Und hinter dem Licht in einer Dämmerung voll Grauen sah er noch etwas, etwas Gestaltloses, Großes, Gespenstisches: den Abgrund, das Ende, den Tod. Mit starren Augen stand er, nichts sehend und hörend. Einer der Priester flüsterte angelegentlich mit den Knechten. Als er hörte, daß der Mann sterben müsse und ein Dieb sei, fragte er, ob er einen Beichtvater gehabt habe. Nein, hieß es, er sei auf frischer Tat festgenommen.
»So werde ich«, sagte der Priester, »am Morgen vor der Frühmesse mit den heiligen Sakramenten zu ihm kommen und seine Beichte hören. Ihr stehet mir dafür, daß er nicht vorher abgeführt wird. Mit dem Herrn Grafen spreche ich noch heut. Der Mann mag ein Dieb sein, er hat doch das Recht jedes Christen auf den Beichtvater und die Sakramente.«
Die Knechte wagten keinen Widerspruch. Sie kannten den geistlichen Herrn, er gehörte zu den Herren von der Gesandtschaft, sie hatten ihn mehrmals an des Grafen Tisch speisen sehen. Und warum auch sollte man dem armen Vagabunden die Beichte nicht gönnen? Die Herren gingen davon. Goldmund stand und starrte. Endlich kam der Diener mit dem Schlüssel und schloß auf. Der Gefangene wurde in ein Kellergewölbe geführt, stolpernd taumelte er die paar Stufen hinab. Ein paar dreibeinige Stühle ohne Lehne standen hier herum und ein Tisch, es war der Vorraum eines Weinkellers. Sie rückten ihm ein Stühlchen an den Tisch und hießen ihn sitzen.
»Es kommt morgen in der Frühe ein Pfaff, da kannst du noch beichten«, sagte ihm einer von den Knechten. Dann gingen sie und verschlossen das schwere Tor mit Sorgfalt.
»Laß mir das Licht da, Kamerad«, bat Goldmund.
»Nein, Brüderchen, damit könntest du Unfug anrichten. Es wird auch so gehen. Sei gescheit und schick dich drein. Und wie lang brennt denn so ein Licht? In einer Stunde wär es doch aus. Gut Nacht.«
Nun war er im Finstern allein, saß auf dem Stühlchen und legte den Kopf auf den Tisch. Es war schlecht so zu sitzen, und die Einschnürungen an seinen Handgelenken taten weh, doch drangen diese Empfindungen erst spät in sein Bewußtsein. Vorerst saß er nur und legte den Kopf auf den Tisch wie auf einen Richtblock, es trieb ihn ein Drang, auch mit Leib und Sinnen das zu tun, was jetzt seinem Herzen auferlegt war: sich hinzugeben in das Unentrinnbare, sich zu ergeben in das Sterbenmüssen.
Eine Ewigkeit lang blieb er so sitzen, jammervoll hingebogen, und versuchte, das Auferlegte auf sich zu nehmen, es einzuatmen, es einzusehen und sich mit ihm zu erfüllen. Es war jetzt Abend, es begann die Nacht, und das Ende dieser Nacht wird auch ihm das Ende bringen. Das mußte er versuchen zu begreifen. Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vögel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte hegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Abschied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.
Er mußte Abschied nehmen von der schönen Agnes, nie mehr würde er ihre große Gestalt, ihr lichtes sonniges Haar, ihre kühlen blauen Augen sehen, nie das Schwachwerden und Zittern des Hochmuts in diesen Augen, nie mehr den süßen Goldflaum auf ihrer duftenden Haut. Lebt wohl, blaue Augen, leb wohl, feuchter zuckender Mund! Oft noch hatte er ihn zu küssen gehofft. Oh, noch heut auf den Hügeln, in der Spätherbstsonne, wie hatte er ihrer gedacht, ihr angehört, sich nach ihr gesehnt! Aber Abschied nehmen mußte er auch von den Hügeln, von der Sonne, vom blauen weißgewölkten Himmel, Abschied von den Bäumen und Wäldern, von der Wanderschaft, von den Tageszeiten und Jahreszeiten. Nun saß vielleicht Marie noch auf, die arme Marie mit den guten liebenden Augen und dem hinkenden Gang, saß und wartete, schlief in ihrer Küche ein und wachte wieder auf, und kein Goldmund kam mehr nach Hause.
Ach, und das Papier und der Zeichenstift, und die Hoffnung auf alle die Figuren, die er noch hatte machen wollen! Dahin, dahin! Und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Narziß, mit dem lieben Jünger Johannes, auch sie mußte er hingeben.
Und Abschied nehmen mußte er von seinen eigenen Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lautenspielen, vom Schlafen und Erwachen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen am Fenster, und er hörte es nicht mehr singen, es lief der Strom und schwammen stumm die dunkeln Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Sternenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dörfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen. Er roch den Morgengeruch der Heide, er schmeckte den süßen jungen Wein und die jungen festen Walnüsse, es flog eine Erinnerung, ein aufleuchtender Widerschein der ganzen farbigen Welt durch sein bedrängtes Herz, untersinkend und Abschied nehmend glänzte das ganze schöne wirre Leben noch einmal durch alle seine Sinne, und er zog sich in ausbrechendem Weh zusammen und fühlte Träne um Träne aus seinen Augen rinnen. Aufschluchzend gab er sich der Woge hin, heftig flossen seine Tränen, zusammenstürzend gab er sich dem unendlichen Weh anheim. Oh, ihr Täler und waldigen Berge, ihr Bäche im grünen Erlengehölz, ihr Mädchen, ihr Mondabende auf den Brücken, o du schöne strahlende Bilderwelt, wie soll ich dich lassen! Weinend lag er über dem Tisch, ein trostloses Kind. Aus der Not seines Herzens stieg ein Seufzer und flehender Klageruf: »O Mutter, o Mutter!«
Und indem er den Zaubernamen sprach, antwortete ihm ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerungen, das Bild der Mutter. Es war nicht die Muttergestalt seiner Gedanken und Künstlerträume, es war das Bild seiner eigenen Mutter, schön und lebendig, wie er es seit den Klosterzelten nie mehr gesehen hatte. An sie richtete er seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich anheim, ihr gab er den Wald, die Sonne, die Augen, die Hände, ihr gab er sein ganzes Wesen und Leben zurück, in die mütterlichen Hände.
Mitten in seinen Tränen schlief er ein; mütterlich nahm ihn Erschöpfung und Schlaf in die Arme. Eine Stunde schlief er, oder zwei, und war dem Elend entrückt.
Wieder erwacht, empfand er heftige Schmerzen. Peinlich brannten die zerschnürten Handgelenke, zerrende Schmerzen zogen durch Rücken und Nacken. Mit Mühe richtete er sich auf, kam zu sich und erkannte seine Lage wieder. Es war vollkommen schwarze Finsternis um ihn her, er wußte nicht, wie lang er geschlafen habe, er wußte nicht, wieviel Stunden ihm noch zu leben blieben. Vielleicht schon im nächsten Augenblick kamen sie und holten ihn fort, zum Sterben. Da erinnerte er sich, daß ihm ein Priester versprochen worden war. Er glaubte nicht, daß dessen Sakramente ihm viel würden nützen können. Er wußte nicht, ob auch die vollkommenste Lossprechung und Sündenvergebung ihn in den Himmel bringen könne. Er wußte nicht, ob es einen Himmel gebe, und einen Gottvater, und ein Gericht und eine Ewigkeit. Er hatte in diesen Dingen seit langem jede Gewißheit verloren.