Mit irgendeinem geheimen Sinn ahnte Goldmund auch das Geheimnis seiner Künstlerschaft, seiner innigen Liebe zur Kunst, seines zeitweiligen wilden Hasses gegen sie. Ohne Gedanken, gefühlhaft ahnte er in vielerlei Gleichnissen: die Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle jene Kunstwerke, die wahrhaft erhaben und nicht nur gute Gauklerstückchen, sondern vom ewigen Geheimnis erfüllt waren, zum Beispiel jene Mutter Gottes des Meisters, alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hauen dies gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. Am meisten aber würde die Eva-Mutter dieses Doppelgesicht einst zeigen, wenn es ihm einst gelänge, sie zu gestalten.
In der Kunst und im Künstlersein lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur. Aber die Kunst war kein reines Geschenk, sie war keineswegs umsonst zu haben, sie kostete sehr viel, sie verlangte Opfer. Mehr als drei Jahre lang hatte Goldmund ihr das Höchste und Unentbehrlichste geopfert, was er nächst der Liebeswollust kannte: die Freiheit. Das Freisein, das Schweifen im Grenzenlosen, die Willkür des Wanderlebens, das Alleinstehen und Unabhängigsein, das alles hatte er weggegeben. Mochten andere ihn launisch, unbotmäßig und selbstherrlich genug finden, wenn er zuweilen Werkstatt und Arbeit wütend vernachlässigte – für ihn selber war dies Leben Sklaverei, die ihn oft bis zur Unerträglichkeit erbitterte. Es war nicht der Meister, dem er gehorchen mußte, noch die Zukunft, noch die Notdurft – es war die Kunst selbst. Die Kunst, diese scheinbar so geistige Göttin, bedurfte so vieler nichtiger Dinge! Sie brauchte ein Dach überm Kopf, sie brauchte Werkzeuge, Hölzer, Ton, Farben, Gold, sie verlangte Arbeit und Geduld. Ihr hatte er die wilde Freiheit der Wälder geopfert, den Rausch der Weite, die herbe Wollust der Gefahr, den Stolz des Elends, und er mußte das Opfer immer von neuem bringen, mit Würgen und Knirschen.
Einen Teil des Geopferten fand er wieder, eine kleine Rache an der sklavenhaften Ordnung und Seßhaftigkeit seines jetzigen Lebens nahm er in gewissen Abenteuern, die mit der Liebe zusammenhingen, in den Raufhändeln mit Nebenbuhlern. Alle eingesperrte Wildheit, alle eingeklemmte Kraft seines Wesens rauchte zu diesem Notloche hinaus, er wurde ein bekannter und gefürchteter Raufbold. Auf dem Weg zu einem Mädchen oder auf dem Heimweg vom Tanze plötzlich in dunkler Gasse angefallen zu werden, ein paar Stockhiebe zu erhalten, sich blitzschnell herumzuwerfen und von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, keuchend den keuchenden Feind an sich zu drücken, ihm die Faust unters Kinn zu hauen, ihn am Haar zu schleifen oder tüchtig am Hals zu würgen, das schmeckte ihm gut und heilte seine dunklen Launen für eine Weile. Und den Frauen gefiel es auch.
Dies alles füllte seine Tage reichlich aus, und alles hatte auch einen Sinn, solange die Arbeit am Jünger Johannes dauerte. Sie zog sich lange hin, und die letzten zarten Modellierungen an Gesicht und Händen geschahen in einer feierlichen und geduldigen Sammlung. In einem kleinen Holzschuppen hinter der Gesellenwerkstatt machte er die Arbeit fertig. Es kam die Morgenstunde, wo die Figur fertig wurde. Goldmund holte einen Besen, kehrte den Schuppen sorgfältig rein, pinselte zart den letzten Holzstaub aus den Haaren seines Johannes und stand dann lange vor ihm, eine Stunde und länger, feierlich erfüllt vom Gefühl eines seltenen großen Erlebnisses, das in seinem Leben sich vielleicht noch einmal wiederholen könnte, vielleicht auch allein und einzig bleiben würde. Ein Mann am Tag seiner Hochzeit oder am Tage des Ritterschlags, eine Frau nach der ersten Geburt mag Ähnliches im Herzen sich bewegen fühlen, eine hohe Weihe, einen tiefen Ernst und zugleich schon eine heimliche Angst vor dem Augenblick, wo auch dies Hohe und Einmalige erlebt und vorüber und eingeordnet sein und vom gewöhnlichen Lauf der Tage verschlungen würde.
Er stand auf und sah seinen Freund Narziß, den Führer seiner Jünglingsjahre, mit lauschend erhobenem Gesichte stehen, bekleidet mit Gewand und Rolle des schönen Lieblingsjüngers, mit einem Ausdruck von Stille, Hingegebenheit und Andacht, der wie die Knospe eines Lächelns war. Diesem schönen, frommen und geistigen Gesicht, dieser schlanken wie schwebenden Gestalt, diesen anmutig und fromm erhobenen, langen Händen waren Schmerz und Tod nicht unbekannt, obwohl sie voll Jugend und innerer Musik waren; aber unbekannt war ihnen Verzweiflung, Unordnung und Auflehnung. Mochte die Seele hinter diesen edlen Zügen froh oder traurig sein, sie war rein gestimmt, sie litt keinen Mißklang.
Goldmund stand und betrachtete sein Werk. Als Andacht vor dem Denkmal seiner ersten Jugend und Freundschaft begann seine Betrachtung, aber sie endete mit einem Sturm von Sorgen und schweren Gedanken. Hier stand nun sein Werk, und der schöne Jünger würde bleiben, und sein zartes Blühen würde nie ein Ende nehmen. Er aber, der es gemacht hatte, mußte jetzt von seinem Werk Abschied nehmen, schon morgen gehörte es nicht mehr ihm, wartete nicht mehr auf seine Hände, wuchs und erblühte nicht mehr unter ihnen, war ihm nicht mehr Zuflucht, Trost und Sinn des Lebens. Leer blieb er zurück. Und, so schien ihm, es wäre am besten, heute nicht bloß von diesem Johannes Abschied zu nehmen, sondern auch gleich vom Meister, von der Stadt und von der Kunst. Er hatte hier nichts mehr zu tun; es waren keine Bilder in seiner Seele, die er hätte gestalten können. Jenes ersehnte Bild der Bilder, die Gestalt der Menschenmutter, war ihm noch nicht erreichbar, noch lange nicht. Sollte er jetzt wieder Engelsfigürchen polieren und Ornamente schnitzen?
Er riß sich los und ging in des Meisters Werkstatt hinüber. Leise trat er ein und blieb bei der Tür stehen, bis Niklaus ihn bemerkte und anrief. »Was ist, Goldmund?«
»Meine Figur ist fertig. Vielleicht kommet Ihr, eh Ihr zu Tische geht, einmal hinüber und seht sie an.«
»Gerne komme ich, gleich jetzt.«
Zusammen gingen sie hinüber und ließen die Tür offenstehen, daß es heller sei. Niklaus hatte seit längerer Weile die Figur nicht mehr gesehen und Goldmund bei der Arbeit ungestört gelassen. Jetzt betrachtete er das Werk mit schweigender Aufmerksamkeit, sein verschlossenes Gesicht wurde schön und hell, Goldmund sah seine strengen blauen Augen froh werden.
»Es ist gut«, sagte der Meister. »Es ist sehr gut. Es ist dein Gesellenstück, Goldmund, du hast jetzt ausgelernt. Ich werde deine Figur denen von der Zunft zeigen und werde verlangen, daß sie dir dafür den Meisterbrief geben, du hast ihn verdient.«
Goldmund legte auf die Zunft wenig Wert, aber er wußte, wieviel Anerkennung die Worte des Meisters bedeuteten, und freute sich.
Indem Niklaus nochmals langsam rund um die Figur des Johannes ging, sagte er mit einem Seufzer: »Diese Gestalt ist voll von Frömmigkeit und Klarheit, sie ist ernst, aber voll Glück und Frieden. Man sollte meinen, es habe sie ein Mensch gemacht, in dessen Herzen es sehr hell und heiter ist.«
Goldmund lächelte.
»Ihr wißt, daß ich in dieser Figur nicht mich selber abgebildet habe, sondern meinen liebsten Freund. Er ist es, der die Klarheit und den Frieden in das Bild gebracht hat, nicht ich. Ich war es ja eigentlich nicht, der das Bild gemacht hat, sondern er hat es mir in die Seele gegeben.«
»So mag es sein«, sagte Niklaus. »Es ist ein Geheimnis, auf welche Art solch ein Bild entsteht. Ich bin nicht eben demütig, aber ich muß sagen: ich habe viele Werke gemacht, die weit hinter deinem zurückbleiben, nicht an Kunst und Sorgfalt, aber an Wahrheit. Nun, du weißt wohl selbst, man kann ein solches Werk nicht wiederholen. Es ist ein Geheimnis.«
»Ja«, sagte Goldmund, »als die Figur fertig wurde und ich sie ansah, dachte ich mir: etwas solches kannst du nicht wieder machen. Und darum glaube ich, Meister, ich werde mich in Bälde wieder auf die Wanderschaft machen.«
Verwundert und unwillig blickte Niklaus ihn an, seine Augen waren wieder streng geworden.
»Wir werden darüber noch sprechen. Für dich sollte die Arbeit nun erst recht beginnen, es ist wahrlich jetzt nicht der Augenblick, um davonzulaufen. Aber für heut machst du Feierabend, und zu Mittag bist du mein Gast.«
Um Mittag trat Goldmund gekämmt und gewaschen im Sonntagskleide an. Diesmal wußte er, wieviel es bedeute und welch seltene Gunst es sei, vom Meister zu Tisch geladen zu werden. Als er die Treppe zu der mit Figuren überfüllten Diele hinanstieg, war dennoch sein Herz lange nicht so voll Ehrfurcht und banger Freude wie jenes andere Mal, da er mit klopfendem Herzen in diese schönen stillen Räume getreten war.
Auch Lisbeth war geputzt und trug eine Kette mit Steinen um den Hals, und zu Tische gab es außer dem Karpfen und Wein noch eine Überraschung; der Meister schenkte ihm einen ledernen Geldsäckel, in dem waren zwei Goldstücke, Goldmunds Lohn für die fertig gewordene Figur. Diesmal saß er nicht stumm, während Vater und Tochter sich unterhielten. Beide sprachen ihn an, und es wurde mit den Bechern angestoßen. Goldmunds Augen waren fleißig, er nahm die Gelegenheit wahr, das schöne Mädchen mit dem vornehmen und etwas hochmütigen Gesicht genau zu betrachten, und seine Augen verschwiegen nicht, wie sehr sie ihm gefalle. Sie zeigte sich artig gegen ihn, aber daß sie nicht errötete noch warm wurde, enttäuschte ihn. Wieder wünschte er innig, dies schöne unbewegte Gesicht zum Sprechen zu bringen und zur Preisgabe seines Geheimnisses zu zwingen. Nach Tische bedankte er sich, verweilte ein wenig bei den Schnitzereien der Diele und trieb sich den Nachmittag unentschlossen, ein ratloser Müßiggänger, in der Stadt herum. Er war vom Meister sehr geehrt worden, über alles Erwarten. Warum machte es ihn nicht froh? Warum schmeckte alle diese Ehre so wenig festlich?
Einem Einfall folgend, mietete er ein Pferd und ritt in das Kloster hinaus, wo er einst zum erstenmal ein Werk des Meisters gesehen und seinen Namen gehört hatte. Vor ein paar Jahren war das gewesen und war doch so unausdenklich lange her. In der Klosterkirche besuchte und betrachtete er die Mutter Gottes, und auch heute wieder entzückte und bezwang ihn dieses Werk; es war schöner als sein Johannes, es war ihm gleich an Innigkeit und Geheimnis und war ihm überlegen an Kunst, an freiem, schwerelosem Schweben. Er sah jetzt an dieser Arbeit Einzelheiten, die nur der Künstler sieht, leise zarte Bewegungen im Gewand, Kühnheiten in der Bildung der langen Hände und Finger, feinfühlige Benutzung von Zufälligkeiten in der Struktur des Holzes – alle diese Schönheiten waren zwar nichts im Vergleich mit dem Ganzen, mit der Einfachheit und Innigkeit der Vision, aber sie waren eben doch da, und waren sehr schön, und waren auch dem Begnadeten nur möglich, wenn er das Handwerk aus dem Grunde verstand. Um so etwas machen zu können, mußte einer nicht nur Bilder in seiner Seele hegen, er mußte auch Augen und Hände unsäglich geschult und geübt haben. Vielleicht war es also doch der Mühe wert, sein ganzes Leben in den Dienst der Kunst zu stellen, auf Kosten der Freiheit, auf Kosten der großen Erlebnisse, nur um einmal etwas so Schönes hervorzubringen, das nicht nur erlebt und geschaut und in Liebe empfangen, sondern auch bis ins letzte mit sicherer Meisterschaft gekonnt war? Dies war eine große Frage.