Nun, dennoch war es schön zu leben. Er pflückte im Grase eine kleine violette Blume, hielt sie nah ans Auge, blickte in die kleinen engen Kelche hinein, da liefen Adern und lebten winzige haarfeine Organe; wie im Schoß einer Frau oder wie im Gehirn eines Denkenden schwang da Leben, zitterte da Lust. O warum wußte man so gar nichts? Warum konnte man nicht mit dieser Blume sprechen? Aber es konnten ja nicht einmal zwei Menschen wirklich miteinander sprechen, dazu bedurfte es schon eines Glücksfalles, einer besonderen Freundschaft und Bereitschaft. Nein, es war ein Glück, daß die Liebe keiner Worte bedurfte; sie wäre sonst voll Mißverständnis und Torheit geworden. Ach, wie Lises Auge, das halbgeschlossene, im Übermaß der Wonne wie gebrochen war und nur noch Weißes im Schlitz der zuckenden Lider gezeigt hatte – mit zehntausend gelehrten oder dichterischen Worten war das nicht auszusprechen! Nichts, ach nichts überhaupt ließ sich irgend aussprechen, irgend ausdenken – und dennoch hatte man in sich immer wieder das drängende Bedürfnis zu sprechen, den ewigen Antrieb zu denken!
Er betrachtete die Blätter der kleinen Pflanze, wie sie um den Stengel her so hübsch, so merkwürdig klug geordnet waren. Schön waren die Verse des Vergil, er liebte sie; aber es stand mancher Vers im Vergil, der nicht halb so klar und klug, nicht halb so schön und sinnvoll war wie die spiralige Ordnung dieser winzigen Blättchen am Stengel empor. Welch ein Genuß, welch ein Glück, welch ein entzückendes, edles und sinnvolles Tun wäre es, wenn ein Mensch es vermöchte, eine einzige solche Blume zu erschaffen! Aber keiner vermochte das, kein Held und kein Kaiser, kein Papst und kein Heiliger.
Als die Sonne tief stand, machte er sich auf und suchte den Ort, den ihm die Bäuerin gewiesen hatte. Dort wartete er. Schön war es, so zu warten und zu wissen, daß eine Frau unterwegs war und lauter Liebe mitbrachte. Sie kam mit einem leinenen Tuch, in das hatte sie ein großes Stück Brot und eine Schnitte Speck gebunden. Sie knüpfte es auf und legte es vor ihm dar.
»Für dich«, sagte sie. »Iß!«
»Nachher«, sagte er, »ich bin nicht hungrig nach Brot, ich bin hungrig nach dir. O zeig, was du mir Schönes mitgebracht hast!«
Viel Schönes hatte sie ihm mitgebracht, starke durstige Lippen, starke funkelnde Zähne, starke Arme, die waren rot von der Sonne, aber innen unterm Halse und hinabwärts waren sie weiß und zart. Worte wußte sie wenige, aber in der Kehle sang sie einen holden lockenden Ton, und als sie seine Hände auf sich spürte, so zarte, zärtliche und gefühlige Hände, wie sie nie gespürt hatte, schauerte ihre Haut, und es klang in ihrer Kehle wie in der einer schnurrenden Katze. Sie wußte wenig Spiele, weniger als Lise, aber sie war wunderbar kräftig, sie drückte, als wolle sie ihrem Liebsten den Hals brechen. Kindlich und gierig war ihre Liebe, einfach und in aller Kraft noch schamhaft; Goldmund war sehr glücklich mit ihr.
Dann ging sie, seufzend, schwer riß sie sich los, sie durfte nicht bleiben.
Goldmund blieb allein zurück, glücklich und auch traurig. Spät erst erinnerte er sich des Brotes, des Specks und aß einsam, es war schon ganz Nacht.