»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«
Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.
»Verzeih nur!« sagte er schuldbewußt. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.
»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«
»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«
»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«
»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«
Narziß blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht in seinem strengen, arg ermüdeten Gesicht, aber in seiner Stimme war ein Lächeln zu spüren, als er sagte: »Wir haben sehr wenig Zeit, Lieber. Sage nur das Notwendige, und sage es deutlich und kurz. – Oder muß ich es dir sagen, was mit dir geschehen ist?« »Sage es«, bat Goldmund.
»Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.«
»Wie kannst du nun das wieder wissen!«
»Du machst es mir leicht. Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«
Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.
»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziß, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, daß jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, daß ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuß fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wußte ich ganz plötzlich, daß jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«
Narziß hörte zu und nickte.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«
»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, daß er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«
»Ich weiß … Hast du sonst ein Anliegen?«
»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und … ich danke dir.«
»Wofür, Goldmund?«
»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, daß du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, daß du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«
»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«
»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«
»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, daß dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.« Goldmund lehnte sich an den Freund.
»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muß, weil es mich ruft.«
Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du mußt nicht glauben, daß ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, daß es sein muß, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, daß ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe, was du ‚Verliebtsein’ nennst und ein bißchen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziß, ich muß dich verlassen! Ich liebe dich, Narziß, und ich danke dir, daß du mir heut ein bißchen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«
»Mach dir und mir das Herz nicht schwer! Ich vergesse dich niemals. Du wirst wiederkommen, ich bitte dich darum, ich erwarte es. Wenn es dir einmal schlecht geht, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl, Goldmund, Gott sei mit dir!«
Er hatte sich erhoben. Goldmund umarmte ihn. Da er seines Freundes Scheu vor Liebkosungen kannte, küßte er ihn nicht, er streichelte nur seine Hände. Die Nacht brach ein, Narziß schloß die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klappten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebenden Augen, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, angesogen und eingefordert von Übungen, von Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam und verwirrt war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden! Da war er gelegen, todmüde und erloschen, mit dem bleichen Gesicht und den gemagerten Händen, wie ein Toter anzusehen, und war doch alsbald klar und freundlich auf den Freund eingegangen und hatte dem Verliebten, der noch nach einem Weibe duftete, sein Ohr geliehen und seine karge Ruhezeit zwischen zwei Bußübungen geopfert! Wunderlich war es, und wunderbar schön war es, daß es auch diese Art von Liebe gab, diese selbstlose, ganz vergeistigte. Wie anders war sie als diese Liebe heut im sonnigen Feld, dies trunkene und rechenschaftslose Spiel der Sinne! Und doch war beides Liebe. Ach, und jetzt war Narziß ihm verschwunden, nachdem er ihm in dieser letzten Stunde nochmals so deutlich gezeigt hatte, wie ganz und gar verschieden und einander unähnlich sie waren. Narziß lag jetzt vor dem Altar auf müden Knien, vorbereitet und geläutert zu einer Nacht voll Gebet und Betrachtung, in der ihm nicht mehr als zwei Stunden Ruhe und Schlaf erlaubt waren, während er, Goldmund, davonlief, um irgendwo unter den Bäumen seine Lise zu finden und jene süßen tierischen Spiele mit ihr zu wiederholen! Narziß hätte Beachtenswertes darüber zu sagen gewußt. Nun: er, Goldmund, war nicht Narziß. Ihm lag es nicht ob, diese schönen und schauerlichen Rätsel und Verwirrungen zu ergründen und Wichtiges darüber zu sagen. Ihm lag nichts ob, als seine Ungewissen, törichten Goldmundwege weiterzugehen. Ihm lag nichts ob, als sich hinzugeben und zu lieben, den betenden Freund in der nächtlichen Kirche nicht minder als die schöne warme junge Frau, die auf ihn wartete.
Als er, das Herz von hundert streitenden Gefühlen erregt, unter den Hoflinden davonschlich und den Ausgang durch die Mühle suchte, mußte er dennoch lächeln, als er sich plötzlich jenes Abends erinnerte, an dem er einst mit Konrad auf diesem selben Schleichweg das Kloster verlassen hatte, um »ins Dorf« zu gehen. Wie erregt und heimlich furchtsam hatte er damals den kleinen verbotenen Ausflug angetreten, und heute ging er für immer, ging viel verbotenere und gefährlichere Wege, und hatte keine Furcht dabei, dachte nicht an Pförtner, an Abt und Lehrer.
Es lagen diesmal keine Bretter am Bach, er mußte ohne Brücke hinüber. Er zog das Gewand aus und warf es ans andere Ufer, dann ging er nackt durch den tiefen, stark strömenden Bach, bis an die Brust im kalten Wasser.
Während er sich drüben wieder ankleidete, waren seine Gedanken wieder bei Narziß. Mit großer beschämender Klarheit sah er jetzt, daß er in dieser Stunde nichts anderes tue, als was jener vorausgewußt und wozu er ihn geführt habe. Er sah überdeutlich jenen klugen, etwas spöttischen Narziß wieder, der ihn so viel Törichtes hatte reden hören, und jenen, der ihm einst in wichtiger Stunde unter Schmerzen die Augen geöffnet hatte. Einige der Worte, die Narziß ihm damals gesagt, hörte er jetzt deutlich wieder: »Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Deine Träume sind von Mädchen, meine von Jünglingen.«
Einen Augenblick zog sein Herz sich frierend zusammen, schrecklich allein stand er da in der Nacht. Hinter ihm lag das Kloster, eine Scheinheimat nur, aber doch eine geliebte und langgewohnte.
Zugleich aber fühlte er das andere: daß jetzt Narziß nicht mehr sein mahnender und besserwissender Führer und Wecker war. Heute hatte er, so fühlte er, ein Land betreten, in dem er die Wege allein fand, in dem kein Narziß ihn mehr führen konnte. Er war froh, daß ihm dies bewußt wurde; es war ihm drückend und beschämend gewesen, so auf die Zeit seiner Abhängigkeit zurückzublicken. Jetzt war er sehend und war kein Kind und Schüler mehr. Es war gut, das zu wissen. Aber dennoch – wie schwer war es, Abschied zu nehmen! Ihn dort drüben in der Kirche knien zu wissen, ihm nichts geben, nichrhelfen, nichts sein zu können! Und nun für lange Zeit, vielleicht für immer, von ihm getrennt zu sein, nichts von ihm zu wissen, seine Stimme nicht mehr zu hören, sein edles Auge nicht mehr zu sehen!