Die letzte Firma, in der Valera als Buchhalter zu arbeiten versuchte, spezialisierte sich auf Gebäckproduktion. Die Rezeptur war echt gut und Gebäck wurde in der kurzen Zeit populär. Es mangelte aber dem Besitzer an Gesichtskreis – er las in seiner Kindheit die Werke von Scholom Aleichem nicht, besonders die Geschichte des Knaben Mottl. Der Mann war besessen von einer fixen Idee, die Produktion billiger zu machen. Zuerst sparte er an Qualität des Mehls. Das Gebäck schmeckte jetzt nicht so gut und wurde allmählich grau. Um diese Farbe zu kaschieren, verwendete man künstliche Farben, die nicht nur schädlich für Gesundheit waren, sondern schmeckten scheußlich. Um diesen Geschmack zu kaschieren, verwendete man künstliche Geschmackszusätze, natürlich die billigste, die, ihrerseits, machten das Gebäck klebrig. Um das zu vermeiden, bestreute man das Gebäck mit Natron. Das Ergebnis war furchterregend aussehendes Gebäck, das nach Mister Proper roch und verursachte Sodbrennen gleich nach dem Auffressen dieser Köstlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass die Firma Pleite ging und Valera beendete damit seine Karriere als Buchhalter.
Man brauchte immer noch keine Physiker und Valera versuchte sich als Nachhilfelehrer für dumme Kinder der stinkreichen Eltern zu etablieren, um sich übers Wasser zu halten. Zusätzlich verdiente er etwas Geld mit der Computerbücherübersetzung im „Gamaün“ Verlag. Diese Arbeit verschaffte ihm eine Bekannte von Buchhaltungskursen, die im Verlag als Redakteurin arbeitete. Die Übersetzung bezahlte man relativ gut, doch Valera konnte nie die Termine halten und hasste deshalb diese Arbeit. Er dachte öfter an seine Zukunft. Seine Situation war alles anderes, als stabil. Was sollte er tun? Er arbeitete schon seit sieben Jahren nicht mehr als Physiker und war total nicht im Bild, was da so alles passierte. Außerdem war er nicht sicher, dass man in Russland noch Physiker irgendwann brauchen würde. Gelinde gesagt, waren sie unnötig wie ein Kropf. Er fühlte sich mutterseelenallein... Es gab noch andere Gründe für seine Verunsicherung – wachsendes Antisemitismus in Russland. Während der Perestroika und einige Zeiten danach geriet Antisemitismus etwas in Vergessenheit, weil die Hauptfeinde des Volkes die KPdSU und Parteifunktionäre waren. Dieser Zustand der Beruhigung der Nationalgefühle dauerte nicht zu lange. Es erstanden Genossenschaft „Pamjat“, Kosakenvereinigungen und, zu guter Letzt, echte faschistische Gruppierungen. Antisemitismus war wieder, wie in sowjetischen Zeiten, im Trend. Valera war aber dieses Antisemitismus schon überdrüssig.
Zum Verständnis ein Jude zu sein, kam Valera sehr langsam. Seine Eltern sprachen nie davon. In der Schule war das Nationalproblem auch nicht aktuell, niemand von Schülern interessiertere sich dafür. Valera wurde bekannt gegeben, dass er ein Jude war, erst als er als kleines Kind in einem Pionierlager am Schwarzmeer war. Andere Kinder verkündeten das ihm. Valera verstand nicht, was das bedeuten sollte, ahnte aber, dass er sich dafür schämen sollte, weil andere Kinder verächtlich über Juden sprachen. Valera fühlte sich von anderen verbannt und isoliert. Bei ihm war der Groschen gefallen. Er wollte doch kein Jude sein! Aber Zuhause erzählte er seinen Eltern nichts davon. Die Geschichte drohte am nächsten Jahr, als er wieder im Pionierlager war, zu wiederholen. Valera war aber ein kluges Kind, er sagte, dass er ein Russe wäre. Er lernte es, dass ein Jude in der UdSSR ein Mensch der zweiten Klasse war. Er lernte es, in seinen Innereien Kalte spüren, als man ihn fragte, ob er ein Jude wäre, oder einen antisemitischen Witz erzählte. Er lernte es, niemandem seine Nationalität zu offenbaren. Er lernte es, sich für solch ein Benehmen zu schämen. Und er wollte nie nochmal in ein Pionierlager.
Als Valera in Aspirantur war, sollte er zum Wehrersatzamt, um sich dort anzumelden. Der diensthabende Offizier sah ihn mit roten gläsernen Augen und sagte Schon wieder weicht einen von ihnen vor der Armee aus. Wir dienen dem Vaterland und sie fressen unseren Speck! Das war eine Anspielung an eine Fabel der sowjetischen Dichter, der dafür bekannt war, dass es ihm immer gelang, rechtzeitig dem Wechsel der Parteilinie anzupassen. Der Mann war ein ergebener Kommunist und Stalinist, der die erste prostalinistische sowjetische Hymne schrieb. Nach der Entlarvung des Stalins wurde er zum einen ergebenen Antistalinist und Kommunist, der gleichzeitig die zweite (antistalinistische) sowjetische Hymne schrieb. Nach der Entlarvung der kommunistischen Partei wurde er zum ergebenen Antikommunist und schrieb die neue russische (antikommunistische) sehr patriotische Hymne. Merkwürdigerweise war die Melodie dieser Hymne immer die gleiche. Nur Eines konnte dieser Dichter nicht – zu Demokraten umzuwandeln, so wurde er zu Monarchisten und streng gläubigem orthodoxerem Christen (Valera wunderte sich immer wieder, wie leicht und schwuppdiwupp die überzeugendsten und unerschütterlichsten Kommunisten – alle diese Parteifunktionäre und Bürokraten – zu überzeugendsten und unerschütterlichsten Gläubigen mutierten). Valera wusste, dass die Fabel, an die der diensthabende Offizier anspielte, antisemitisch war, doch er schwieg, genoss aber nicht.
Valera merkte, dass je mehr seine Karriere entwickelte, desto große Rolle spielte seine Herkunft. Er konnte schnell promovieren nur weil sein Doktorvater auch ein Jude war und seine Beziehungen im Spiel einbeziehen ließ, aber sogar für ihn war er sehr schwer, das Erlaubnis für Valeras Promotion zu erreichen. Damals promovierte zu selber Zeit einer Physiker aus Duschanbe. Er bekam fünfzehn Stimmen (von fünfzehn möglichen) für seine Dissertation im wissenschaftlichen Rat und eine Empfehlung, die Arbeit als Dissertation für den wissenschaftlichen Grad „Doktor der Wissenschaft“ also der Grad eine Stufe höher für die gleiche Leistung, zu betrachten. Valera fragte damals seinem Doktorvater, ob seine Arbeit viel schlechter wäre. Dann erklärte ihm der alte Professor, dass Valera froh sein müsste, überhaupt die Möglichkeit zur Promotion zu bekommen. Als folgendes teilte er ihm mit, dass der Mann aus Duschanbe ein „Nationalkader“ war und die Partei pflegte es, Nationalkader zu unterstützen. Als nächstes sagte er, dass Valera zufrieden sein sollte, dass er nur zwölf Stimmen für die Dissertation bekam und drei dagegen, weil wenn er fünfzehn Stimmen bekäme, sollte man auch seine Dissertation als „Dissertation für den wissenschaftlichen Grad Doktor der Wissenschaft“ betrachten, was für einen Juden ganz bestimmt ein Nonsens wäre. Anderseits müsste dann WAK – die Höchste Attestierungskommission für Wissenschaftler in der UdSSR, seine Dissertation besonders aufmerksam prüfen. So lernte Valera die Anfangsgründe der sowjetischen Nationalpolitik. Und noch dazu – wie man sich den Mund nicht fusselig reden soll.
XXXXXXXXXXXXXXX XXXXXXXXX XXXXXXX XXXXXXX XXXX XX XXX XXXXXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXXXXXXXX XXX XXX XX XXX XXX XXXXXXX XXXXXXXX XXXXXXX. Die echten Probleme auftauchten, als Valera seine zweite Dissertation anfertigte. Er wurde von dem Vorsitzenden des wissenschaftlichen Rats eingeladen, der ihn gegenüber ganz offen, ohne viel Federlesen, zeigte, wie Valeras Chancen für Promotion standen. Der Vorsitzende sagte, dass, dem Plan gemäß, sollte Valeras Institut in diesem Jahr einen neuen Doktor der Wissenschaft haben und Valera passte diesem Plan haargenau. Aber wo sollte er seine Dissertation verteidigen? Am besten wäre Rostower Uni dazu geeignet, aber hier gab einen Hacken in Person des Professors Parasow von Institut für Technologie zu Novotscherkassk. Der war ein glühender Antisemit und er konnte Valeras Chancen auf erfolgreiche Promotion zunichtemachen.
Theoretisch existierten noch die Möglichkeiten für Valera in drei weiteten wissenschaftlichen Räten sein Glück zu erproben. Zum Beispiel, in Leningrad. Aber dort saßen im wissenschaftlichen Rat gleich drei glühende Antisemiten und Leningrad fiel aus. Ein anderer wissenschaftlicher Rat gab es in Tiflis, aber dort hatte man alle Wissenschaftler aus Russland nicht gern, unabhängig von ihrer Nationalität. Der dritte wissenschaftliche Rat gehörte zu Moskauer Uni. Die Wissenschaftler von der Uni betrachteten aber Valeras Institut als Konkurrenz uns seine Chancen dort standen nicht ausgesprochen hoch. Das Fazit – Valera sollte mit der Promotionstätigkeit abwarten, bis die Situation für ihn günstiger würde. Und Valera wartete, und wartete, und wartete. Damit hat es sein Bewenden.