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Ich sah sie am Fenster stehen, nur durch eine Zimmerbreite entfernt, aber doch schon entfernt, und spürte einen scharfen Schmerz. Sie selbst schien jetzt zum ersten Male zu realisieren, daß wir uns wieder trennen mußten. Alle Vorbehalte, die während des Tages herumgespukt hatten, waren auf einmal verschwunden. Sie hatte die Gefahr gesehen, mit Augen gesehen, und das hatte alles andere beiseite gewischt. Sie war plötzlich nichts mehr als Angst und Liebe und im selben Augenblick auch bereits Abschied und Verlust. Ich erkannte es ebenso wie sie, scharf und erbarmungslos, ohne Schleier endlich und ohne Vorsicht, und die unerträgliche Erkenntnis schlug sonderbarerweise sofort um in ein ebenso unerträgliches Begehren. Ich wollte sie halten, ich mußte sie halten, ich griff nach ihr, ich wollte sie haben, noch einmal, ganz, resigniert bereits, sie verlieren zu müssen, während sie noch Pläne machte, Hoffnung hatte, noch nicht aufgab, sich wehrte und flüsterte: „Nicht jetzt! Ich muß Ella anrufen! Nicht jetzt! Wir müssen doch..."

Wir mußten nichts, dachte ich. Ich hatte noch eine Stunde, und dann stürzte die Welt ab. Warum hatte ich das vorher nicht stärker gespürt? Ich hatte es gespürt, aber wozu hatte ich die Glaswand zwischen mir und meinem Gefühl nicht eingeschlagen? Wenn meine Rückkehr sinnlos war, dann war dies noch sinnloser gewesen! Ich mußte etwas von Helen mitnehmen in die graue Leere, in die ich zurückkehren würde, wenn ich Glück hatte, mehr als nur die Erinnerung an Vorsicht und Sich-Umkreisen und die letzte Vereinigung zwischen Schlaf und Schlaf; ich mußte Helen haben, klar, mit allen Sinnen, ihrem Gehirn, ihren Augen, ihren Gedanken, ganz, nicht nur wie ein Tier zwischen Nacht und Frühe.

Sie wehrte sich. Sie flüsterte, Georg könne zurückkommen, und ich weiß nicht, ob sie es wirklich glaubte. Ich selbst war zu oft in Gefahr gewesen, um sie nicht sofort vergessen zu können, wenn sie vorbei war — ich wollte jetzt nur eines, in diesem Zimmer mit dem Geruch nach Helens Parfüm und Kleidern und dem Bett und der Dämmerung: sie besitzen mit allem, was ich hatte, und allem, dessen ich fähig war, und das einzige, was ich schmerzhaft empfand und was die flache, dumpfe Qual des Verlustes durchstieß, war die Unfähigkeit, sie mehr und tiefer zu besitzen, als die Natur an Möglichkeiten zugab. Ich hätte mich ausbreiten mögen über sie wie eine Decke, ich hätte tausend Hände und Münder haben wollen, eine perfekte konkave Form von ihr sein mögen, um sie überall zu fühlen, ohne einen Zwischenraum irgendwo, Haut an Haut gepreßt, und trotzdem noch mit dem Ur-Schmerz, daß es nur Haut an Haut sein konnte und nicht Blut in Blut, nicht Vereinigung anstatt Beieinandersein."

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Ich hatte Schwarz zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Er sprach zwar zu mir, aber ich wußte, daß ich für ihn nur eine Wand war, von der manchmal ein Echo kam. Ich betrachtete mich auch so; anders hätte ich ihm nicht ohne Verlegenheit zuhören können, und ich war überzeugt, daß auch er nicht ohne das hätte erzählen können, was er noch einmal aufstehen lassen wollte, bevor er es im lautlos rieselnden Sand der Erinnerung begraben mußte. Ich war ein fremder Mensch, der für eine Nacht seinen Weg kreuzte und vor dem er keine Hemmungen zu haben brauchte. Eingehüllt in den anonymen Mantel eines fernen, toten Namens — Schwarz —, begegnete er mir, und wenn er den Mantel abwarf, warf er damit auch seine Persönlichkeit ab und verschwand wieder in der anonymen Menge, die dem schwarzen Tor an der letzten Grenze zuwandert, wo man keine Papiere braucht und von wo man niemals ausgewiesen und zurückgeschickt wird.

Der Kellner teilte uns mit, daß außer englischen Diplomaten auch ein deutscher angekommen sei. Er zeigte ihn uns. Der Abgesandte Hitlers saß fünf Tische von uns entfernt mit drei anderen Leuten, darunter zwei Frauen, die kräftig und gesund aussahen und Kleider in zwei Farben von Blau und Seide trugen, die nicht zueinander paßten. Der Mann, der uns bezeichnet wurde, drehte uns den Rücken, und ich fand das passend und beruhigend.

„Ich dachte, es würde die Herren interessieren", sagte der Kellner, „da Sie doch auch deutsch sprechen." Schwarz und ich wechselten unwillkürlich den Emigrantenblick — ein kurzes Heben der Lider und ein ausdrucksloses Abwenden nachher. Nichts schien uns weniger zu interessieren. Der Emigrantenblick ist anders als der deutsche Blick unter Hitler — das vorsichtige Umsehen nach allen Seiten, um dann flüsternd etwas mitzuteilen —, aber beide gehören zur Kultur unseres Jahrhunderts, ebenso wie die erzwungene Völkerwanderung, In hundert Jahren, wenn die Elendsschreie verhallt sind, wird ein findiger Historiker das alles als kulturfördernde, kulturdüngende und kulturverbreitende Tatsache feiern.

Schwarz sah den Kellner teilnahmslos an. „Wir wissen, wer er ist", sagte er. „Bringen Sie uns noch etwas Wein. Helen ging", fuhr er dann ebenso ruhig fort, „den Wagen ihrer Freundin zu holen. Ich blieb allein, um in der Wohnung auf sie zu warten. Es war Abend, und die Fenster standen offen. Ich hatte alle Lichter abgedreht, damit niemand sehen könne, daß ich in der Wohnung sei. Sollte jemand klingeln, so würde ich nicht antworten. Sollte Georg zurückkommen, so konnte ich zur Not über den Küchenausgang entfliehen.

Ich saß die halbe Stunde in der Nähe des Fensters und horchte auf die Geräusche der Straße. Nach einer Weile begann sich lautlos ein ungeheures Gefühl des Verlustes in mir auszubreiten. Es war nicht schmerzhaft; es war eher wie eine Dämmerung, die weiter und weiter kriecht und alles überschattet und leert, bis sie selbst den Horizont verhüllt. Eine Schattenwaage balancierte eine leere Vergangenheit gegen eine leere Zukunft, und in der Mitte stand Helen, den Schattenbalken der Waage auf ihren Schultern, und auch sie schon verloren. Es war mir, als sei ich in der Mitte meines Lebens; der nächste Schritt würde die Waage verschieben, sie würde langsam sinken, der Zukunft zu, sich mehr und mehr mit Grau füllen und nie wieder im Gleichgewicht sein.

Das Summen des heranfahrenden Wagens weckte mich. Ich sah Helen im Licht der Straßenlampe aussteigen und in der Haustür verschwinden. Ich ging durch die dunkle, tote Wohnung und hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Sie kam rasch herein. „Wir können fahren", sagte sie. „Mußt du zurück nach Münster?"

„Ich habe einen Koffer dagelassen. Und ich bin unter dem Namen Schwarz registriert. Wohin sollte ich sonst gehen?"

„Bezahle das Hotel und geh in ein anderes."

„Wo?"

„Ja, wo?" Helen dachte nach. „In Münster", sagte sie schließlich. „Du hast recht. Wo sonst? Es ist am nächsten."

Ich hatte ein paar Sachen, die ich brauchen konnte, in einen Koffer gepackt. Wir beschlossen, daß ich nicht vor dem Hause in den Wagen steigen sollte, sondern ein Stück weiter, auf dem Hitler-Platz. Helen würde den Koffer mitbringen.

Ich gelangte ungesehen auf die Straße. Ein warmer Wind wehte mir entgegen. Das Laub der Bäume rauschte in der Dunkelheil. Helen holte mich auf dem Platz ein. „Steig ein", flüsterte sie. „Rasch!"

Der Wagen war ein geschlossenes Kabriolet. Helens Gesicht war vom Widerschein des Instrumentenbrettes angestrahlt. Ihre Augen glänzten. „Ich muß vorsichtig fahren", sagte sie. „Ein Unfall und Polizei — das wäre alles; was noch fehlte!"

Ich antwortete nicht. Man redete draußen nicht von solchen Dingen; es zog sie herbei. Helen lachte und fuhr die Wälle entlang. Sie war von einer fast fiebrigen Energie, als wäre das Ganze ein Abenteuer; sie sprach mit sich selbst und dem Wagen, wenn sie anderen Gefährten auswich oder sie überholte. Wenn sie in der Nähe eines Verkehrspolizisten anhalten mußte, murmelte sie Beschwörungen; und wenn ein rotes Licht sie stoppte, trieb sie es zur Eile an: „Los! Dreh dich! Werde grün.'"

Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Für mich war es unsere letzte Stunde. Ich ahnte nicht, wozu sie sich bereite entschlossen halte.

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