„Glauben wir nicht trotzdem daran?" fragte ich. „Ich glaube nicht daran!" „An keine Hoffnung?"
„An nichts. Jeder kommt dran." Sie warf heftig ihre Kleider aufs Bett. „Jeder. Auch der Häftling mit der Hoffnung, selbst wenn er einmal entwischt. Er kommt eben das nächstemal dran!"
„Das ist es ja, worauf er hofft. Nur auf das." „Ja. Das ist alles, was wir können! So wie die Welt mit dem Krieg. Sie hofft auf das nächstemal. Aber niemand kann ihn verhindern."
„Den Krieg schon", erwiderte ich. „Den Tod" nicht." „Lach nicht!" rief sie.
Ich ging zu ihr. Sie wich zurück, durch die Tür ins Freie.
„Was ist mit dir, Helen?" fragte ich überrascht. Es war heller draußen als im Zimmer, und ich sah, daß ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Sie antwortete nicht, und ich fragte nicht weiter. „Ich bin betrunken", sagte sie schließlich. „Siehst du das nicht?"
„Nein."
„Ich habe zuviel Wein getrunken."
„Zuwenig. Hier ist noch eine Flasche."
Ich stellte den Fiasko Nostrano auf einen Steintisch, der auf der Wiese hinter dem Haus stand, und ging in das Zimmer, um Gläser zu holen. Als ich zurückkam, sah ich Helen über die Wiese zum See hinuntergehen. Ich folgte ihr nicht sofort. Ich goß die Gläser voll; der Wein sah schwarz aus im bleichen Widerschein von Himmel und See. Dann ging ich langsam über die Wiese zu den Palmen und den Oleandern herunter, die am Ufer standen. Ich hatte auf einmal Sorge um Helen und atmete auf, als ich sie sah. Sie stand vor dem Wasser in einer merkwürdig passiven, gebeugten Haltung, als warte sie auf etwas, einen Ruf oder etwas, das vor ihr auftauchen würde. Ich blieb still; nicht um sie zu beobachten, sondern um sie nicht zu erschrecken. Nach einer Weile seufzte sie und richtete sich auf. Dann schritt sie ins Wasser.
Als ich sah, daß sie schwamm, ging ich zurück und holte ein Frottiertuch und ihren Bademantel. Dann hockte ich mich auf einen Granitblock und wartete. Ich sah ihren Kopf mit dem hochgebundenen Haar sehr klein in der Weite des Wassers und dachte daran, daß sie alles war, was ich hatte, und hätte gern gerufen, sie möge zurückkehren. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, daß sie etwas mir Unbekanntes mit sich auszukämpfen hatte und daß sie es in diesem Moment tat; das Wasser war Schicksal und Frage und Antwort für sie, und sie mußte es allein bestehen, wie jeder es muß — das wenige, was ein anderer dazu tun kann, ist, dazusein, um vielleicht etwas Wärme geben zu können.
Helen schwamm in einem Bogen hinaus und wendete dann und kam in direkter Linie zurück, gerade auf mich zu. Es war beglückend, sie näher kommen zu sehen, den dunklen Kopf vor dem violetten See, bis sie sich schmal und hell aus dem Wasser hob und rasch auf mich zukam.
„Es ist kalt. Und unheimlich. Das Stubenmädchen erzählt, auf dem Grunde unter den Inseln lebe ein riesiger Krake."
„Die größten Fische in diesem See sind alte Hechte", sagte ich und hüllte sie in das Frottiertuch. „Kraken gibt es hier nicht. Sie gibt es nur in Deutschland, seit 1933. Aber jedes Wasser ist nachts unheimlich."
„Wenn wir denken können, daß es Kraken gibt, muß es auch welche geben", erklärte Helen. „Wir können nichts denken, was es nicht gibt."
„Das wäre ein einfacher Gottesbeweis." „Glaubst du es nicht?" „Ich glaube alles in dieser Nacht." Sie lehnte sich an mich. Ich ließ das nasse Tuch fallen und gab ihr ihren Bademantel. „Glaubst du, daß wir mehrere Male leben?" fragte sie. „Ja", erwiderte ich ohne Zögern. Sie seufzte. „Gott sei Dank! Ich könnte jetzt nicht auch noch darüber streiten. Ich bin müde und kalt. Man vergißt, daß dies ein Gebirgssee ist."
Ich hatte außer dem Wein nach eine Flasche Grappa vom Albergo della Posta mitgenommen, einen klaren Schnaps aus Traubentrebern, ähnlich dem Marc in Frankreich. Er ist würzig und stark und gut für solche Augenblicke. Ich holte ihn und gab ihr ein großes Glas voll. Sie trank es langsam aus. „Ich gehe nicht gern weg von hier", sagte sie.
„Du wirst es morgen vergessen haben", erwiderte ich. „Wir fahren nach Paris. Du bist noch nie da gewesen. Es ist die schönste Stadt der Welt."
„Die schönste Stadt der Welt ist die, in der man glücklich ist. Ist das ein Gemeinplatz?"
Ich lachte. „Zum Teufel mit der Vorsicht im Stil!" sagte ich. „Wir können gar nicht genug Gemeinplätze haben! Besonders nicht solche. Willst du noch einen Grappa?"
Sie nickte, und ich holte auch mir ein Glas. Wir saßen an dem Steintisch auf der Wiese, bis Helen schläfrig wurde. Ich brachte sie zu Bett. Sie schlief neben mir ein. Ich sah durch die offene Tür auf die Wiese, die langsam blau und dann silbrig wurde. Helen erwachte nach einer Stunde und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Sie kam mit einem Brief zurück, der angekommen war, während wir in Ronco waren. Er mußte in ihrem Zimmer gelegen haben. „Von Martens", sagte sie.
Sie las ihn und legte ihn weg. „Weiß er, daß du hier bist?" fragte ich.
Sie nickte. „Er hat meiner Familie erklärt, daß ich auf seinen Rat wieder in die Schweiz zur Untersuchung gefahren sei und daß ich ein paar Wochen bleiben müsse."
„Warst du bei ihm in Behandlung?"
„Ab und zu."
„Für was?"
„Nichts Besonderes", sagte sie und legte den Brief in ihre Handtasche. Sie gab ihn mir nicht zu lesen. „Woher hast du eigentlich die Narbe?" fragte ich. Eine dünne weiße Linie lief über ihren Magen. Ich hatte sie schon vorher bemerkt, aber sie war jetzt deutlicher auf der braunen Haut.
„Eine kleine Operation. Nichts Wichtiges." „Was für eine Operation?"
„Eine, über die man nicht spricht, Frauen haben manchmal so etwas."
Sie löschte das Licht. „Es ist gut, daß du gekommen bist, mich zu holen", flüsterte sie. „Ich konnte es nicht mehr aushalten. Liebe mich! Liebe mich und frage nicht. Nichts. Nie."
10
„Glück", sagte Schwarz. „Wie das zusammenläuft in der Erinnerung! Wie ein billiger Stoff in der Wäsche. Nur das Unglück kann zählen. Wir kamen nach Paris und fanden Zimmer in einem kleinen Hotel am linken Ufer der Seine am Quai des Grands Augustins. Das Hotel hatte keinen Aufzug, die Treppen waren vom Alter verzogen und gebogen, und die Zimmer waren klein; aber sie hatten Aussicht auf die Seine, die Bücherläden am Quai, die Conciergerie und auf Notre-Dame. Wir hatten Pässe. Wir waren Menschen bis September 1939. Wir waren Menschen bis September, und es war gleichgültig, ob unsere Pässe echt waren oder nicht.
Es war nicht mehr gleichgültig, als der kalte Krieg begann.
„Wovon hast du gelebt, während du hier warst?" fragte Helen mich ein paar Tage nach unserer Ankunft im Juli. „Durftest du arbeiten?"
„Natürlich nicht. Ich durfte ja nicht existieren. Wie sollte ich da eine Arbeitserlaubnis bekommen?"
„Wovon hast du dann gelebt?"
„Ich weiß es nicht mehr", erwiderte ich wahrheitsgetreu. „Ich habe in vielen Berufen gearbeitet. Immer für kurze Zeit. In Frankreich wird nicht alles genau genommen; es gibt oft Gelegenheit, illegal etwas zu tun, besonders, wenn man billig arbeitet. Ich habe Kisten aufgeladen und abgeladen in Les Halles; ich bin Kellner gewesen; ich habe mit Strümpfen, Krawatten und Hemden gehandelt; ich habe Unterricht in Deutsch gegeben; ich habe von dem Refugie-Comite manchmal etwas bekommen; ich habe verkauft, was ich noch besaß; ich bin Chauffeur gewesen; ich habe für Zeitungen in der Schweiz kleine Artikel geschrieben."
„Konntest du nicht wieder Redakteur werden?"
„Nein. Dazu braucht man eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Meine letzte Beschäftigung war Adressenschreiben. Dann kam Schwarz und mit ihm mein apokryphes Leben."
„Warum apokryph?"
„Ein untergeschobenes, verborgenes, unter dem Schutz eines Toten und eines fremden Namens."
„Ich wollte, du würdest es anders nennen", sagte Helen.