Helen sah mich an. „Beim Arzt, Herr Krause. Kranke Menschen sind oft sympathischer als" — sie lächelte ihn boshaft an — „die Gesundheitsprotzen, denen selbst im Gehirn Muskeln wachsen statt Nerven."
Krause nahm diesen Schuß mit einem Augurenblick. „Ich versiehe, gnädige Frau."
„Gehört Renoir bei Ihnen nicht schon zur entarteten Kunst?" fragte ich, um nicht hinter Helen zurückzubleiben. „Van Gogh doch sicher."
„Nicht für uns Kenner", erwiderte Krause mit einem zweiten Augurenblick und glitt zur Tür hinaus. „Was wollte er?" fragte ich Helen. „Spionieren. Ich wollte dich warnen, nicht zu kommen; aber du warst schon auf dem Weg, Mein Bruder hat ihn geschickt. Wie ich das alles hasse!"
Der schattenhafte Arm der Gestapo hatte über die Grenze gegriffen, um uns daran zu erinnern, daß wir noch nicht ganz entkommen waren. Krause hatte Helen gesagt, sie möge gelegentlich ins Konsulat kommen. Nichts Wichtiges, aber die Pässe müßten einen neuen Stempel haben. Eine Art Ausreiseerlaubnis. Das sei versäumt worden.
„Er sagt, es sei eine neue Verordnung", erklärte Helen.
„Er lügt", erwiderte ich. „Ich wüßte es sonst. Emigranten wissen so etwas immer sofort. Wenn du hingehst, kann es sein, daß sie dir den Paß wegnehmen."
„Wäre ich dann ein Emigrant wie du?"
„Ja. Wenn du nicht zurückgingest."
„Ich bleibe", sagte sie. „Ich gehe nicht zum Konsulat, und ich gehe nicht zurück."
Wir hatten vorher nie darüber gesprochen. Dies war die Entscheidung. Ich antwortete nicht. Ich sah Helen nur an; ich sah hinter ihr den Himmel und die Bäume des Gartens und einen schmalen, glitzernden Streifen See. Ihr Gesicht war dunkel vor dem vielen Licht. „Du hast keine Verantwortung dafür", sagte sie ungeduldig. „Du hast mich nicht überredet, und es hat nichts mit dir zu tun. Auch wenn du nicht da wärest, würde ich nie mehr zurückgehen. Ist das genug?"
„Ja", sagte ich überrascht und etwas beschämt. „Aber es ist nicht das, woran ich gedacht habe."
„Das weiß ich, Josef. Dann laß uns nicht mehr davon sprechen. Nie mehr."
„Krause wird wiederkommen", sagte ich. „Oder jemand anderer."
Sie nickte. „Sie könnten herausfinden, wer du bist, und dir Schwierigkeiten machen. Laß uns nach dem Süden gehen."
„Wir können nicht nach Italien. Die Gestapo ist zu befreundet mit der Polizei Mussolinis." „Gibt es keinen anderen Süden?"
„Doch. Das Tessin der Schweiz. Locarno und Lugano."
Wir fuhren am Nachmittag ab. Fünf Stunden später saßen wir auf der Piazza von Ascona vor der Locanda Svizzera in einer Welt, die nicht fünf, sondern fünfzig Stunden von Zürich entfernt war. Die Landschaft war italienisch, der Ort war voll von Touristen, und niemand schien an etwas anderes zu denken, als zu schwimmen, in der Sonne zu liegen und rasch noch so viel vom Leben zu erraffen, als möglich war. Es war eine sonderbare Stimmung in Europa in diesen Monaten. Erinnern Sie sich?" fragte Schwarz.
„Ja", erwiderte ich. „Man hoffte auf Wunder. Ein zweites München. Und ein drittes. Und so fort."
„Es war das Zwielicht von Hoffnung und Verzweiflung. Die Zeit hielt den Atem an. Nichts anderes schien einen Schatten zu werfen unter dem transparenten und unwirklichen Schatten der großen Drohung. Es war, als stände ein riesiger, mittelalterlicher Komet zusammen mit der Sonne am strahlenden Himmel. Alles war lose. Und alles war möglich."
„Wann gingen Sie nach Frankreich?" fragte ich. Schwarz nickte. „Sie haben recht. Alles andere war nur vorübergehend. Frankreich ist die ruhelose Heimat der Heimatlosen. Alle Wege führen immer wieder dahin. Helen erhielt nach einer Woche einen Brief von Herrn Krause. Sie möge sofort zum Konsulat Zürich oder Lugano kommen. Es sei wichtig.
Wir mußten fort. Die Schweiz war zu klein und zu wohlorganisiert. Man würde uns immer wieder finden. Und ich konnte mit einem falschen Paß jeden Tag kontrolliert und ausgewiesen werden.
Wir fuhren nach Lugano, aber nicht zum deutschen, sondern zum französischen Konsulat für ein Visum. Ich erwartete Schwierigkeiten, aber es ging glatt. Wir bekamen Touristenvisa für ein Jahr. Ich hatte höchstens auf drei Monate gerechnet.
„Wann wollen wir fahren?" fragte ich Helen.
„Morgen."
Wir aßen am letzten Abend im Garten des Albergos della Posta in Ronco, einem Dorf, das wie ein Schwalbennest hoch über dem See an den Bergen hängt. Zwischen den Bäumen schimmerten Windlichter, Katzen strichen über die Mauern, und von den Terrassen unterhalb des Gartens kam der Geruch von Rosen und wildem Jasmin. Der See mit den Inseln, auf denen in römischen Zeiten ein Venustempel gestanden haben soll, lag unbewegt, die Berge ringsum waren kobaltblau vor dem hellen Himmel, und wir aßen Spaghetti und Piccata und tranken dazu den Nostranowein der Gegend. Es war ein Abend von einer fast unerträglichen Süße und Schwermut.
„Schade, daß wir wegmüssen", sagte Helen. „Ich würde gern einen Sommer hierbleiben."
„Du wirst das noch oft sagen." „Was ist besser, als das zu sagen? Ich habe das Gegenteil oft genug gesagt." „Was?"
„Schade, daß ich hierbleiben muß." Ich nahm ihre Hand. Ihre Haut war sehr braun, die Sonne brauchte dafür nicht mehr als zwei Tage, und ihre Augen schienen dadurch heller. „Ich liebe dich sehr", sagte ich. „Ich liebe dich und diesen Augenblick und den Sommer, der nicht bleiben wird, und diese Landschaft und den Abschied, und zum erstenmal in meinem Leben mich selbst, weil ich wie ein Spiegel bin und dich spiegele und dich so zweimal habe. Gesegnet sei dieser Abend und diese Stunde!"
„Gesegnet sei alles! Laß uns darauf trinken. Und gesegnet seist du, weil du endlich einmal wagst, etwas zu sagen, worüber du sonst errötet wärest."
„Ich erröte noch", erwiderte ich. „Aber innerlich und ohne Beschämung. Gib mir etwas Zeit. Ich muß mich noch gewöhnen. Selbst die Raupe muß das, wenn sie nach einem Dasein im Dunkel ans Licht kommt und entdeckt, daß sie Flügel hat. Wie glücklich die Menschen hier sind! Und wie der wilde Jasmin riecht! Die Kellnerin sagt, es gäbe hier ganze Wälder voll davon."
Wir tranken unsern Wein aus und gingen zwischen den schmalen Gassen die alte Straße hoch am Berg entlang, die nach Ascona führt. Der Friedhof von Ronco hing voll mit Blumen und Kreuzen über den Weg. Der Süden ist ein Verführer, er wischt die Gedanken weg und macht die Phantasie zur Königin. Sie braucht nur wenig Hilfe zwischen Palmen und Oleander; weniger als zwischen Kommiß-Stiefeln und Kasernen. Wie eine große, rauschende Fahne schwankte der Himmel über uns mit immer mehr Sternen, als wäre er die Flagge eines sich jede Minute erweiternden Amerikas des Universums. Die Piazza von Ascona glitzerte mit ihren Cafes weit in den See hinaus, und der Wind wehte kühl aus den Tälern.
Wir kamen zu dem Hause, das wir gemietet hatten. Es lag am See und hatte zwei Schlafzimmer; das schien der Moral hier zu genügen. „Wie lange haben wir noch zu leben?" fragte Helen.
„Wenn wir vorsichtig sind, für ein Jahr und vielleicht noch für ein halbes Jahr länger."
„Und wenn wir unvorsichtig leben?" „Für diesen Sommer." „Laß uns unvorsichtig leben", sagte sie. „Ein Sommer ist kurz."
„Ja", sagte sie plötzlich heftig. „Ein Sommer ist kurz, und ein Leben ist kurz, aber was macht es kurz? Daß wir wissen, daß es kurz ist. Wissen die Katzen draußen, daß das Leben kurz ist? Weiß es der Vogel? Der Schmetterling? Sie halten es für ewig. Niemand hat es ihnen gesagt! Warum hat man es uns gesagt?" „Darauf gibt es viele Antworten." „Gib eine!"
Wir standen im dunklen Zimmer. Die Türen und Fenster waren offen. „Eine ist, daß das Leben unerträglich wäre, wenn es ewig wäre."
„Du meinst, es wäre langweilig? Wie das Gottes? Das ist nicht wahr. Gib eine andere!"
„Daß es mehr Unglück als Glück gibt. Und daß es barmherzig ist, es nicht ewig dauern zu lassen."
Helen schwieg einen Augenblick. „Alles das ist nicht wahr", sagte sie dann. „Und wir sagen es nur, weil wir wissen, daß wir nicht bleiben und nichts halten können, und es gibt keine Barmherzigkeit dabei. Wir erfinden sie nur. Wir erfinden sie, um zu hoffen."