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„Hier ist der Platz", sagte Schwarz und öffnete die Tür zu einer Kneipe, in der noch Licht war. Ein kräftiger sonnengebräunter Mann kam uns entgegen. Er zeigte auf einen Tisch. In dem niedrigen Raum standen ein paar Fässer, und an einem der paar Tische saßen ein Mann und eine Frau. Der Besitzer hatte nichts als Wein und kalten gebratenen Fisch.

„Kennen Sie Zürich?" fragte Schwarz mich. „Ja. Ich bin in der Schweiz viermal von der Polizei gefaßt worden. Die Gefängnisse sind gut da. Viel besser als in Frankreich. Besonders im Winter. Leider wird man nur für höchstens vierzehn Tage eingesperrt, wenn man Ruhe haben will. Dann wird man abgeschoben, und das Grenzballett geht wieder los."

„Mein Entschluß, offen über die Grenze zu gehen, hatte etwas in mir befreit", sagte Schwarz. „Ich fürchtete mich plötzlich nicht mehr. Ein Polizist auf der Straße ließ mein Herz nicht mehr stocken; er gab mir noch einen Schock, aber einen milden, gerade stark genug, daß mir im nächsten Moment meine Freiheit um so mehr bewußt wurde."

Ich nickte, „Das erhöhte Lebensgefühl durch die Gegenwart der Gefahr. Ausgezeichnet, solange die Gefahr nur den Horizont belebt."

„Meinen Sie?" Schwarz blickte mich sonderbar an. „Es geht viel weiter", sagte er dann. „Es geht bis zu dem, was wir Tod nennen, und darüber hinaus. Wo ist denn der Verlust, wenn man das Gefühl halten kann? Ist eine Stadt nicht mehr da, wenn man sie verläßt? Wäre sie nicht mehr da in Ihnen, auch wenn sie zerstört würde? Wer weiß denn, was Sterben ist? Geht nicht nur ein Lichtstrahl langsam über unsere wechselnden Gesichter? Und müssen wir nicht ein Gesicht gehabt haben, bevor wir geboren wurden, das Gesicht vor allen anderen, das, das bleiben muß nach der Zerstörung der anderen, vorübergehenden?"

Eine Katze strich um die Stühle. Ich warf ihr ein Stück Fisch hin. Sie hob den Schwanz und wendete sich ab.

„Sie trafen Ihre Frau in Zürich?" sagte ich vorsichtig.

„Ich traf sie im Hotel. Der Zwang, das Abwarten, das ich in Osnabrück gespürt hatte, die Strategie des Schmerzes und der Beleidigung waren verschwunden und blieben verschwunden. Ich traf eine Frau, die ich nicht kannte und die ich liebte, mit der ich verbunden schien durch neun Jahre lautloser Vergangenheit, über die diese Vergangenheit aber keinerlei einschränkende und besitzende Gewalt mehr hatte. Das Gift der Zeit schien auch bei ihr verdampft zu sein, als Helen die Grenze überschritt. Die Vergangenheit gehörte jetzt zu uns, aber wir nicht mehr zu ihr; statt des drückenden Bildes der Jahre, das sie sonst darstellt, hatte sie sich gedreht und war jetzt ein Spiegel, der nichts mehr spiegelte als uns, ohne Bindung an sie. Der Entschluß, uns herauszureißen, und die Tat selbst trennte uns so entscheidend von allem Früher, daß das Unmögliche Wirklichkeit wurde: ein neues Lebensgefühl, ohne die Runzeln des früheren."

Schwarz sah mich an, und wieder huschte der merkwürdige Ausdruck über sein Gesicht. „Es blieb so. Es war Helen, die es hielt. Ich konnte es nicht, besonders nicht dem Ende zu. Aber daß sie es konnte, war doch genug, und darauf kam es an, glauben Sie nicht? Ich muß es nur jetzt auch können, deshalb spreche ich ja mit Ihnen! Ja, deshalb!"

„Blieben Sie in Zürich?" fragte ich.

„Wir blieben eine Woche", sagte Schwarz in seinem früheren Ton. „Wir wohnten in dieser Stadt und in dem Lande, in dem als einzigem in Europa die Welt noch nicht zu schwanken schien. Wir hatten Geld für einige Monate, und Helen hatte Schmuck mitgebracht, den wir verkaufen konnten. Dann waren in Frankreich auch noch die Zeichnungen des toten Schwarz.

Dieser Sommer 1939! Es war, als hätte Gott der Welt noch einmal zeigen wollen, was Friede ist und was sie verlieren würde. Die Tage waren randvoll mit der Gelassenheit dieses Sommers, und sie wurden unwirklich, als wir später Zürich verließen, um in den Süden der Schweiz an den Lago Maggiore zu gehen.

Helen hatte Briefe und Anrufe ihrer Familie erhalten. Sie hatte nichts hinterlassen, als daß sie wieder nach Zürich zu ihrem Arzt fahren müsse. Es war leicht für die Familie, bei dem ausgezeichneten Meldesystem der Schweiz, ihre Adresse herauszufinden. Jetzt wurde sie mit Fragen und Vorwürfen überschüttet. Noch konnte sie zurückfahren. Wir mußten uns entscheiden.

Wir wohnten im selben Hotel; aber wir wohnten nicht zusammen. Wir waren verheiratet, aber unsere Pässe lauteten auf verschiedene Namen, und da das Papier siegt, konnten wir nicht wirklich zusammen leben. Es war eine sonderbare Situation, aber sie verstärkte das Gefühl, daß für uns die Zeit noch einmal zurückgedreht war. Wir waren nach dem einen Gesetz Mann und Frau — nach dem zweiten nicht. Die neue Umgebung, die lange Trennung und vor allem Helen, die sich so sehr verändert hatte, seit sie hier war — das alles brachte einen Zustand schwebender Nichtwirklichkeit und gleichzeitig leuchtend-beziehungsloser Wirklichkeit hervor, über der gerade noch der letzte zerrinnende Nebel eines Traumes schwebte, an den man sich schon nicht mehr erinnern konnte. Ich wußte damals noch nicht, woher das kam — ich nahm es als ein unvermutetes Geschenk, als wäre mir erlaubt worden, ein Stück schlechtgelebten Daseins zu wiederholen und es in volles Leben zu verwandeln. Aus einem Maulwurf, der sich ohne Paß unter den Grenzen durchwühlte, wurde ich zu einem Vogel, der keine Grenzen kannte.

Eines Morgens, als ich Helen abholen wollte, traf ich einen Herrn Krause bei ihr, den sie als jemand vom deutschen Konsulat vorstellte. Sie sprach mich, als ich eintrat, französisch an und nannte mich Monsieur Lenoir. Krause mißverstand sie und fragte mich in schlechtem Französisch, ob ich der Sohn des berühmten Malers sei.

Helen lachte. „Herr Lenoir ist Genfer", erklärte sie. „Aber er spricht auch Deutsch. Mit Renoir ist er nur durch große Bewunderung verwandt."

„Sie lieben impressionistische Bilder?" fragte Krause mich.

„Er hat selbst eine Sammlung", sagte Helen.

„Ich habe ein paar Zeichnungen", erwiderte ich. Die Erbschaft des toten Schwarz als Sammlung zu erwähnen schien mir eine von Helens neuen Kapriolen. Da aber eine ihrer Kapriolen mich vor dem Konzentrationslager bewahrt hatte, spielte ich mit.

„Kennen Sie die Sammlung Oskar Reinharts in Winterthur?" fragte Krause mich liebenswürdig.

Ich nickte. „Reinhart hat einen van Gogh, für den ich einen Monat meines Lebens hingeben würde."

„Welchen Monat?" fragte Helen.

„Welchen van Gogh?" fragte Krause.

„Den Garten im Irrenhaus."

Krause lächelte. „Ein herrliches Bild!"

Er begann von anderen Gemälden zu sprechen, und da er auf den Louvre kam, konnte ich, dank der Schulung durch den toten Schwarz, mitreden. Ich begriff jetzt auch Helens Taktik; sie wollte vermeiden, daß ich als ihr Mann oder als Emigrant erkannt würde. Die deutschen Konsulate waren nicht über Anzeigen bei der Fremdenpolizei erhaben. Ich spürte, daß Krause herauszufinden versuchte, in welchem Verhältnis ich zu Helen stände. Sie hatte das bereits gewußt, ehe er auch nur fragen konnte, und dichtete mir jetzt eine Frau — Lucienne — und zwei Kinder an, von denen die ältere Tochter hervorragend Klavier spielte.

Krauses Augen gingen flink zwischen uns hin und her. Er benützte das Gespräch, um herzlich eine neue Zusammenkunft vorzuschlagen — vielleicht ein Lunch in einem der kleinen Fischrestaurants am See —, man treffe so selten Menschen, die wirklich etwas von Bildern verständen.

Ich stimmte ebenso herzlich zu — wenn ich wieder nach der Schweiz käme. Das wäre etwa in vier bis sechs Wochen. Er war überrascht; er hätte geglaubt, ich wohne in Genf. Ich erklärte ihm, daß ich Genfer sei, aber in Beifort lebe. Beifort liegt in Frankreich; er konnte da nicht so leicht nachforschen. Beim Abschied konnte er die letzte Frage dieses Verhörs nicht lassen: wo Helen und ich uns getroffen hätten; es wäre doch so selten, sympathische Menschen zu finden.

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