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„Ich telephonierte am Morgen dem Hotel in Münster, in dem ich meinen Koffer gelassen hatte, und erklärte, ich hätte mich in Osnabrück verspätet und würde nachts zurückkommen; man möge das Zimmer für mich halten. Es war Vorsicht; ich wollte nicht wegen Zechprellerei angezeigt und von der Polizei erwartet werden. Eine gleichgültige Stimme antwortete, es sei recht so. Ich fragte, ob Post für mich da sei. Nein, Post sei nicht gekommen.

Ich hing ab. Helen stand hinter mir. „Post?" sagte sie. „Von wem erwartest du Post?"

„Von niemandem. Ich habe es nur gesagt, um unverdächtiger zu erscheinen. Von Leuten, die Post erwarten, nimmt man merkwürdigerweise nicht sofort an, daß sie Schwindler sind."

„Bist du einer?"

„Leider. Gegen meinen Willen. Aber nicht ohne Vergnügen daran."

Sie lachte. „Du willst heute abend nach Münster?" „Ich kann doch nicht länger hierbleiben. Dein Mädchen kommt morgen zurück. Und hier in der Stadt kann ich es nicht riskieren unterzukommen. Der Schnurrbart macht mich nicht unkenntlich genug."

„Kannst du nicht bei Martens bleiben?".

„Er hat mir angeboten, im Sprechzimmer zu schlafen; aber tagsüber kann er mich nicht unterbringen. Es ist besser, nach Münster zu fahren, Helen. Dort werde ich nicht so leicht auf der Straße erkannt wie hier. Es ist nur eine Stunde weit weg."

„Wie lange willst du in Münster bleiben?"

„Ich kann das erst herausfinden, wenn ich da bin. Man entwickelt im Lauf der Zeit eine Art sechsten Sinn für Gefahr."

„Spürst du hier Gefahr?"

„Ja", sagte ich. „Seit heute morgen. Gestern nicht."

Sie sah mich mit zusammengezogenen Brauen an. „Du darfst natürlich nicht ausgehen", sagte sie.

„Nicht, bevor es dunkel ist. Und dann auch nur, um zum Bahnhof zu kommen."

Helen antwortete nicht. „Es wird schon klappen", sagte ich. „Denke nicht darüber nach. Ich habe gelernt, von einer Stunde zur andern zu leben, ohne zu vergessen, über den nächsten Tag nachzudenken."

„Hast du? sagte Helen. „Sehr praktisch!" Sie hatte wieder den Ton leichter Gereiztheit wie am Abend vorher.

„Nicht nur praktisch — notwendig", erwiderte ich. ,Aber ich vergesse trotzdem manchmal etwas. Ich hätte einen Rasierapparat aus Münster mitbringen sollen. Heute abend werde ich wie ein Strolch aussehen. Das Vademecum für Emigranten schreibt vor, das auf jeden Fall zu vermeiden."

„Es ist ein Rasierapparat im Badezimmer", sagte Helen. Der, den du hiergelassen hast vor fünf Jahren, als du weggingst. Es ist auch Wäsche da, und deine alten Anzüge hängen links im Schrank."

Sie sagte das, als wäre ich ein Mann, der sie vor fünf Jahren mit einer anderen Frau verlassen hätte und nun allein zurückgekommen wäre, um seine Sachen zu holen und wieder zu gehen. Ich versuchte nicht, es zu berichtigen; es hätte zu nichts geführt. Sie hätte mich nur erstaunt angesehen und erklärt, sie habe nicht daran gedacht, wenn ich aber so denke — und ich wäre in eine sinnlose Verteidigung verheddert worden. Es ist sonderbar, wie krumme Wege wir oft wählen, um nicht zu zeigen, was wir fühlen!

Ich ging in das Badezimmer. Der Anblick meiner alten Anzüge hatte keine andere Wirkung, als daß ich sah, um wieviel dünner ich geworden war. Ich war froh, Wäsche zu finden, und beschloß, genügend davon mitzunehmen. Irgendeine sentimentale Regung spürte ich nicht. Der Entschluß, den ich vor drei Jahren gefaßt halte, das Exil nicht als ein Unglück, sondern als eine Art von kaltem Krieg zu nehmen, der nötig wäre zu meiner Entwicklung, trug so wenigstens hier und da Früchte.

Der Tag verging in einem Zwielicht der Gefühle. Die Notwendigkeit abzureisen verstörte uns beide; aber Helen war es nicht so gewöhnt wie ich. Sie nahm es fast als eine persönliche Beleidigung. Ich war vorbereitet gewesen durch meine Erfahrung und durch die Zeit, seit ich Frankreich verlassen hatte; für Helen war die Ankunft noch nicht überstanden, als die Abreise schon auftauchte. Ihr Stolz hatte noch nicht Zeit gehabt zur Versöhnung, als dieselbe Situation sich bereits wiederholte. Dazu kam die Reaktion auf den Abend vorher; die Welle des Gefühls flutete zurück, und alte, untergegangene Trümmer wurden plötzlich wieder sichtbar und schienen größer zu sein, als sie waren. Wir waren vorsichtig miteinander; wir waren einander nicht mehr gewöhnt. Ich wäre gern eine Stunde allein gewesen, um Abstand zu gewinnen — wenn ich dann aber daran dachte, daß es nicht eine Stunde, sondern der zwölfte Teil der Zeit war, die ich noch mit Helen zusammen sein konnte, schien es mir undenkbar. Früher, in ruhigen Jahren, hatte ich mich manchmal mit der Frage unterhalten, was ich wohl tun würde, wenn ich wüßte, daß ich nur noch einen Monat zu leben hätte. Ich war nie zu einem klaren Ergebnis gekommen. Alles, was ich glaubte tun zu sollen, war in einer merkwürdigen Polarität zugleich auch das gewesen, was ich auf keinen Fall hätte tun sollen, und so erging es mir jetzt. Anstatt den Tag zu umarmen, mich ihm völlig zu Öffnen und Helen in mich aufzunehmen mit allen meinen Sinnen, ging ich umher mit dem brennenden Wunsche, es zu tun, und doch mit solcher Vorsicht, als wäre ich aus Glas, und mit Helen schien es nicht anders zu sein. Wir litten und waren voller Ecken und Spitzen, und erst die Dämmerung brachte die Furcht, uns zu verlieren, so nahe, daß wir uns plötzlich wieder erkannten.

Um sieben Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Ich schreckte auf. Klingeln bedeutete für mich Polizei. „Wer kann das sein?" flüsterte ich.

„Laß uns still sein und warten", sagte Helen. „Es wird irgendein Bekannter sein. Wenn ich nicht antworte, geht er weg."

Das Klingeln wiederholte sich. Dann klopfte jemand energisch an die Tür. „Geh ins Schlafzimmer", flüsterte Helen.

„Wer ist es?"

„Ich weiß es nicht. Geh ins Schlafzimmer. Ich werde ihn loswerden. Es ist besser, als wenn die Nachbarn aufmerksam werden."

Sie schob mich fort. Ich blickte rasch umher, ob irgend etwas von mir herumläge. Dann ging ich ins Schlafzimmer. Ich hörte Helen fragen: „Wer ist da?", und eine Männerstimme antwortete. Dann sagte Helen: „Du bist es? Was ist denn los?" Ich zog die Tür zu. Die Wohnung hatte einen zweiten Ausgang durch die Küche, den ich aber nicht erreichen konnte; ich wäre gesehen worden. Ich halte nur die Möglichkeit, mich in einem eingebauten großen Schrank zu verstecken, in dem Helens Kleider hingen. Es war eigentlich kein Schrank; es war eine große Mauernische, die durch eine Tür abgeschlossen wurde. Ich hatte genug Luft darin.

Ich hörte, daß der Mann mit Helen ins Wohnzimmer ging. Ich erkannte seine Stimme. Es war ihr Bruder Georg, der mich ins Konzentrationslager gebracht hatte.

Ich blickte auf Helens Frisiertisch. Das einzige, was ich als Waffe gebrauchen konnte, war ein Papiermesser mit einem Jadeknauf; ich sah nichts anderes. Ohne nachzudenken, steckte ich das Messer in meine Tasche und ging in den Schrank zurück. Es war selbstverständlich, daß ich mich wehren mußte, wenn er mich entdeckte, und es gab keinen anderen Weg, als ihn zu töten und dann zu versuchen zu fliehen.

„Das Telephon?" hörte ich Helen sagen. „Ich habe nichts gehört. Ich habe geschlafen. Was ist denn los?"

Es gibt einen Augenblick in großer Gefahr, wo alles in einem plötzlich so angespannt ist, als könne ein Funke es entzünden, und man würde aufflammen wie Zunder. Man ist dann fast hellsichtig, so rasch und so gleichzeitig denkt man. Ich spürte, bevor ich Georg antworten hörte, bereits, daß er nichts von mir wußte.

„Ich habe mehrere Male telephoniert", sagte er. „Kein Mensch hat geantwortet. Auch das Mädchen nicht. Wir dachten, dir wäre was passiert. Weshalb hast du nicht aufgemacht?"

„Ich habe geschlafen", sagte Helen ruhig. „Deshalb hatte ich auch das Telephon abgestellt. Ich habe Kopfschmerzen, und sie sind noch nicht vorbei. Du hast mich aufgeweckt."

„Kopfschmerzen?"

„Ja. Und sie sind jetzt schlimmer als vorher. Ich habe zwei Tabletten genommen. Ich muß sie ausschlafen."

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