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Lachmann brachte die zweite Flasche Cognac, Ich bezahlte ihn und ging in das Zimmer zurück. Helen stand am Nachttisch. Die Schublade, in der die Briefe gelegen hatten, war offen. Sie schob sie zu und kam dicht an mich heran. „Hat Georg das getan?" fragte sie. „Es war ein Konsortium", erwiderte ich. „Er soll verflucht sein!" Sie trat an das Fenster. Die Katze sprang weg. Sie öffnete die Läden. „Er soll verflucht sein!" wiederholte sie mit so leidenschaftlicher Stimme und solcher Überzeugung, als bespräche sie ihn in einem mystischen Ritual. „Er soll verflucht sein für sein Leben, für immer..."

Ich nahm ihre geballten Fäuste und zog sie vom Fenster weg. „Wir müssen fort von hier,"

Wir gingen die Treppen hinunter. Blicke folgten uns von allen Türen. Ein grauer Arm winkte. „Schwarz! Nehmen Sie keinen Rucksack. Die Gendarmen sind scharf auf Rucksäcke. Ich habe einen billigen Kunstlederkoffer, sehr chic..."

„Danke", erwiderte ich. „Ich brauche jetzt keinen Koffer mehr. Ich brauche Glück."

„Wir halten die Daumen."

Helen war vorangegangen. Ich hörte, wie eine nasse Hure ihr vor der Tür gerade riet, zu Hause zu bleiben; der Regen habe das Geschäft verdorben. Gut, dachte ich; die Straßen konnten gar nicht leer genug für mich sein. Helen stutzte, als sie den Wagen sah. „Gestohlen", sagte ich. „Wir müssen so weit wie möglich damit kommen. Steig ein."

Es war noch dunkel. Der Regen floß in Strömen an der Windschutzscheibe herunter. Wenn noch Blut auf dem Trittbrett war, wurde es jetzt heruntergewaschen. Ich hielt ein Stück vom Hause entfernt, wo Gregorius wohnte. „Stell dich hier unter", sagte ich zu Helen und zeigte auf das gläserne Vordach eines Geschäftes, das Sachen für Angler zeigte.

„Kann ich nicht sitzen bleiben?"

„Nein. Wenn jemand kommt, tu so, als ob du auf Kunden wartest. Ich bin gleich zurück."

Gregorius war fertig. Seine Angst hatte jetzt dem Stolz des Künstlers Platz gemacht. „Die Schwierigkeit war die Uniform", sagte er. „Sie haben ja einen Zivilanzug an. Sehen Sie. Ich habe ihm einfach den Kopf abgeschnitten."

Er hatte Georgs Photo gelöst, Kopf und Hals ausgeschnitten, die Uniform auf mein Photo gelegt und die Montage photographiert. „Obersturmbannführer Schwarz", sagte er stolz. Er hatte die Kopie bereits getrocknet und eingefügt. „Der Stempel ist leidlich geglückt. Wenn man ihn genau untersucht, sind Sie ohnehin verloren — sogar wenn er echt wäre. Hier ist Ihr alter Paß unbeschädigt zurück."

Er gab mir beide Pässe und die Reste von Georgs Photographie. Ich zerriß das Photo, während ich die Treppe hinunterging, in kleine Teile und zerstreute sie draußen in das Wasser, das durch die Gosse schoß.

Helen wartete. Ich hatte den Wagen vorher kontrolliert; der Tank war voll. Wenn es gut ging, konnte ich mit dem Benzin über die Grenze kommen. Mein Glück hielt an — in der Schublade am Schaltbrett lag ein Carnet zum Grenzübertritt, das schon zweimal benutzt worden war. Ich beschloß, die Grenze nicht da zu überfahren, wo der Wagen schon einmal gewesen war. Ich fand auch eine Michelin-Karte, ein Paar Handschuhe und einen Europa-Atlas für Automobile.

Der Wagen fuhr durch den Regen. Wir hatten noch einige Stunden bis zum Hellwerden und fuhren in die Richtung Perpignan. Bis es hell war, wollte ich auf der Hauptstraße bleiben. „Soll ich fahren?" fragte Helen nach einiger Zeit. „Deine Hände!"

„Kannst du es? Du hast nicht geschlafen“ „Du auch nicht."

Ich sah sie an. Sie sah frisch und ruhig aus. Ich begriff es nicht. „Willst du einen Schluck Cognac?"

„Nein. Ich werde fahren, bis wir Kaffee bekommen können."

„Lachmann hat mir noch eine Flasche Cognac gegeben."

Ich holte sie aus dem Mantel. Helen schüttelte den Kopf. Sie hatte die Spritze.

„Später", sagte sie mit sehr sanfter Stimme. „Versuche zu schlafen. Wir wollen abwechselnd fahren."

Helen fuhr besser als ich. Nach einer Weile begann sie zu singen, monotone kleine Lieder. Ich war sehr gespannt gewesen; jetzt begannen das Summen des Wagens und der halblaute Singsang mich einzuschläfern. Ich wußte, daß ich schlafen mußte, aber ich fuhr immer wieder auf. Die Landschaft flog grau vorbei, und wir brauchten die Scheinwerfer, ohne uns um Verdunklungsvorschriften zu kümmern.

„Hast du ihn getötet?" fragte Helen plötzlich.

„Ja."

„Mußtest du es?"

„Ja."

Wir fuhren weiter. Ich starrte auf die Straße und dachte an vieles, und dann war ich weggesackt wie ein Stein. Als ich wieder aufwachte, hatte der Regen aufgehört. Es war Morgen, der Wagen summte. Helen saß am Steuer, und ich hatte das Gefühl, ich hätte alles geträumt, „Es ist nicht wahr, was ich gesagt habe", sagte ich.

„Ich weiß", erwiderte sie.

„Es war ein anderer", sagte ich.

„Ich weiß."

Sie sah mich nicht an.

18

Ich wollte am letzten größeren Ort vor der Grenze ein spanisches Visum für Helen bekommen. Die Menge vor dem Konsulat war erdrückend. Ich mußte riskieren, daß der Wagen schon gesucht würde; eine andere Möglichkeit gab es nicht. Georgs Paß enthielt ein Visum. Ich fuhr den Wagen langsam heran. Die Menge bewegte sich erst, als sie die deutsche Nummer erkannte. Sie teilte sich vor uns. Eine Anzahl Emigranten flüchtete. Der Wagen drängte sich durch eine Allee von Haß gegen den Eingang. Ein Gendarm salutierte. Das war mir lange nicht passiert. Ich grüßte nachlässig und ging in das Konsulat. Der Gendarm machte mir Platz. Man muß ein Mörder sein, dachte ich bitter, um geehrt zu werden.

Ich bekam das Visum sofort, als ich meinen Paß vorlegte. Der Vizekonsul sah mein Gesicht. Meine Hände konnte er nicht sehen. Ich hatte die Handschuhe aus dem Wagen angezogen. „Rest von Krieg und Nahkampf", sagte ich. Er nickte verständnisvoll. „Wir hatten auch unsere Jahre des Kampfes. Heil Hiller! Ein großer Mann, wie unser Caudillo."

Ich kam heraus. Um den Wagen hatte sich ein leerer Raum gebildet. Hinten im Wagen saß ein verängstigter Junge von ungefähr zwölf Jahren. Er drückte sich in die Ecke und war nichts als Augen und an den Mund gepreßte Hände. „Wir müssen ihn mitnehmen", sagte Helen.

„Warum?"

„Er hat ein Papier, das in zwei Tagen abläuft. Wenn man ihn faßt, schickt man ihn nach Deutschland."

Ich spürte jetzt den Schweiß unter meinem Hemd auf dem Rücken. Helen sah mich an. Sie war sehr ruhig.

„Wir haben ein Leben genommen", sagte sie auf englisch. „Wir sollten eines retten."

„Hast du ein Papier?" fragte ich den Jungen.

Er hielt mir schweigend eine Aufenthaltserlaubnis entgegen. Ich nahm sie und ging in das Konsulat zurück. Es war mir sehr schwer, zurückzugehen; der Wagen draußen schien aus hundert Lautsprechern sein Geheimnis hinauszuschreien. Ich sagte dem Sekretär nachlässig, daß ich ganz vergessen hätte, daß ich noch ein Visum brauche — dienstlich, für eine Rekognition jenseits der Grenze. Er stutzte, als er das Papier sah, lächelte dann, schloß ein Auge und gab mir das Visum.

Ich stieg in den Wagen. Die Stimmung war noch feindseliger geworden. Wahrscheinlich dachte man, ich wollte den Jungen in ein Lager entführen.

Ich verließ die Stadt und hoffte, mein Glück würde halten. Das Steuerrad des Wagens wurde jede Stunde heißer in meiner Hand. Ich fürchtete, daß ich ihn bald verlassen müßte, aber ich hatte keine Idee, was dann geschehen würde. Helen konnte nicht in diesem Wetter auf Schleichpfaden das Gebirge überqueren; sie war zu schwach, und der Verlust des Wagens hätte auch den geisterhaften Schutz durch unsere Feinde gebrochen. Keiner von uns hatte eine Ausreiseerlaubnis aus Frankreich. Zu Fuß war das anders als in einem teuren Wagen.

Wir fuhren weiter. Es war ein sonderbarer Tag. Das Diesseits und das Jenseits schienen abgefallen zu sein in zwei Abgründe, und wir fuhren auf einem schmalen Grat in einer hohen, wolkenverhangenen Landschaft wie in der Kabine einer Seilbahn. Das nächste, womit ich es vergleichen könnte, wäre eines der alten chinesischen Tuschbilder, in denen Reisende zwischen Gipfeln, Wolken und Wasserfällen eintönig dahinziehen. Der Junge kauerte auf dem Rücksitz des Wagens und bewegte sich kaum. Er hatte nichts gelernt in seinem Leben, als allem zu mißtrauen. An etwas anderes erinnerte er sich nicht. Als die Kulturträger des Dritten Reiches seinem Großvater den Schädel einschlugen, war er drei Jahre alt gewesen — als man seinen Vater aufhing, sieben, und neun, als man seine Mutter vergaste — ein wahres Kind des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war irgendwie aus dem Konzentrationslager entkommen und hatte sich allein seinen Weg über die Grenzen gemacht. Hätte man ihn aufgegriffen, wäre er als Deserteur ins KZ zurückgeschickt und gehängt worden. Jetzt wollte er nach Lissabon; ein Onkel sollte dort Uhrmacher sein, hatte ihm seine Mutter gesagt am Abend vor der Vergasung, als sie ihn segnete und ihm die letzten Ratschläge gab.

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