Es ging alles gut. Niemand fragte an der französischen Grenze nach einer Ausreiseerlaubnis. Ich zeigte nur flüchtig meinen Paß vor und machte die Eintragungen für den Wagen. Die Gendarmen salutierten, der Schlagbaum ging hoch, und wir verließen Frankreich. Einige Minuten später bewunderten die spanischen Zollbeamten den Wagen und wollten wissen, wieviel Kilometer er mache. Ich gab irgendeine Auskunft, und sie begannen, von dem letzten großen Namen eines ihrer Wagen, Hispano-Suiza, zu schwärmen. Ich erklärte, ich hätte einen gehabt, und beschrieb den fliegenden Kranich des Kühlerabzeichens. Sie waren entzückt. Ich fragte, wo ich tanken könne. Sie erklärten, für Freunde Spaniens sei ein spezieller Fonds an Benzin vorhanden. Ich hatte keine Pesetas. Sie wechselten meine Francs um. Mit herzlicher Formalität nahmen wir Abschied.
Ich lehnte mich zurück. Der Grat und die Wolken verschwanden. Ein fremdes Land lag vor uns; ein Land, das nicht mehr wie Europa aussah. Wir waren noch nicht entkommen, aber zwischen Frankreich und diesem Land lag ein Abgrund. Ich sah die Straßen, die Esel, die Leute, die Trachten, die harte, steinige Landschaft — wir waren in Afrika. Dies war der wirkliche Westen, jenseits der Pyrenäen, das fühlte ich. Dann sah ich, daß Helen weinte.
„Nun bist du da, wohin du wolltest", flüsterte sie.
Ich wußte nicht, was sie meinte. Ich war noch zu voll von Unglauben, daß alles so leicht gegangen war. Ich dachte an die Höflichkeit, die Grüße, das Lächeln — zum erstenmal seit Jahren hatte ich das wieder getroffen, und ich hatte töten müssen, um wie ein Mensch behandelt zu werden. „Weshalb weinst du?" fragte ich. „Wir sind noch nicht gerettet. Spanien ist voll von Gestapoleuten. Wir müssen so rasch wie möglich hindurch."
Wir schliefen in einem kleinen Ort. Ich hatte eigentlich den Wagen irgendwo stehenlassen und mit der Bahn weiterfahren wollen. Ich tat es nicht. Spanien war unsicher; ich wollte es so rasch wie möglich wieder verlassen. Der Wagen wurde in einer unerklärlichen Weise so etwas wie eine finstere Maskotte; seine technische Vollkommenheit verdrängte auch den Schauder, den ich vor ihm hatte. Ich brauchte ihn zu sehr; ich dachte nicht mehr an Georg. Er hatte zu lange als Drohung über meinem Leben gehangen; jetzt war er fort, und ich empfand fast nur das. Ich dachte an den Lachler; er lebte noch und konnte telephonisch versuchen, uns verhaften zu lassen. Auf Mord lieferte jedes Land aus. Daß es Notwehr gewesen war, hatte ich dort zu beweisen, wo es geschehen war.
Ich erreichte die portugiesische Grenze spät in der folgenden Nacht. Visa hatte ich ohne Schwierigkeit unterwegs bekommen. Ich ließ Helen an der Grenze im Wagen mit laufendem Motor. Wenn etwas Verdächtiges geschähe, sollte sie losfahren, auf mich zu, ich würde aufspringen, und wir würden zum portugiesischen Zoll durchbrechen. Viel konnte uns nicht passieren; es war eine kleine Station, und ehe die Beamten in der Dunkelheit schießen und treffen konnten, wären wir entkommen. Was dann in Portugal passieren würde, war eine andere Sache.
Nichts geschah. Im wehenden Dunkel standen die uniformierten Beamten wie Figuren in einem Bilde Goyas. Sie salutierten, und wir fuhren zur portugiesischen Station, wo wir in derselben Weise eingelassen wurden. Gerade als der Wagen angefahren war, kam einer der Beamten hinter uns hergelaufen und rief uns zu, zu halten. Ich überlegte rasch und hielt dann; wäre ich durchgefahren, hätte man den Wagen im nächsten Ort stoppen können. Ich hielt. Wir atmeten kaum.
Der Beamte erreichte den Wagen. „Ihr Carnet", sagte er. „Sie haben es liegengelassen. Wie wollen Sie sonst zurückkommen über die Grenze?"
„Danke vielmals!"
Hinter mir ließ der Junge den Atem aus. Ich selbst hatte einen Moment das Gefühl, ohne Schwerkraft zu sein, so erleichtert war ich. „Jetzt bist du in Portugal", sagte ich zu dem Jungen. Er nahm langsam die Hände vom Mund und lehnte sich zum erstenmal zurück. Die ganze Fahrt hatte er vorgebeugt gesessen.
Dörfer flogen vorüber. Hunde bellten. Ein Schmiedefeuer glühte im frühen Morgen, und ein Schmied beschlug einen Schimmel. Es regnete nicht mehr. Ich wartete auf das Gefühl der Befreiung, auf das ich so lange gewartet hatte; aber es kam nicht. Helen saß still neben mir. Ich wollte mich freuen, aber ich fühlte mich leer.
In Lissabon telephonierte ich zum amerikanischen Konsulat in Marseille. Ich schilderte, was geschehen sei bis zu dem Moment, als Georg erschienen war. Der Mann, mit dem ich telephonierte, meinte, dann wäre ich ja jetzt sicher. Alles, was ich von ihm erreichen konnte, war, daß er versprach, wenn ein Visum angewiesen würde, es an das Konsulat in Lissabon weiterzuleiten.
Der Wagen, der uns so lange geschützt hatte, mußte weggeschafft werden. „Verkaufe ihn", sagte Helen.
„Sollte ich ihn nicht irgendwo ins Meer rollen lassen?"
„Das ändert nichts", erwiderte sie. „Du brauchst das Geld. Verkaufe ihn."
Sie hatte recht. Er war sehr leicht zu verkaufen. Der Käufer erklärte mir, daß er den Zoll zahlen und den Wagen schwarz lackieren lassen werde. Er war ein Händler. Ich verkaufte ihm den Wagen unter Georgs Namen. Eine Woche später sah ich ihn mit einer portugiesischen Nummer. Es gab in Lissabon mehrere ihresgleichen; ich erkannte ihn nur an einer sehr geringen Beule am linken Trittbrett. Den Paß Georgs verbrannte ich."
Schwarz sah auf seine Uhr. „Der Rest ist schnell erzählt. Ich ging einmal in der Woche zum Konsulat. Wir wohnten einige Zeit im Hotel. Ich hatte noch Geld vom Verkauf des Wagens und benutzte es dafür. Ich wollte, daß Helen jetzt soviel Luxus haben sollte wie möglich. Wir fanden einen Arzt, der ihr half, Mittel zu bekommen. Ich ging sogar mit ihr ins Kasino. In einem Verleihinstitut lieh ich mir dafür einen Smoking. Helen hatte noch ihr Abendkleid aus Paris. Ich kaufte ihr ein Paar goldene Schuhe dazu. Die andern hatte ich in Marseille vergessen. Kennen Sie das Kasino?"
„Leider", sagte ich. „Ich war gestern abend da. Es war ein Fehler."
„Ich wollte, daß sie spielte", sagte Schwarz. „Sie gewann. Die unbegreifliche Strähne hielt immer noch an. Sie warf die Chips achtlos hin, und die Nummern kamen.
Diese letzte Zeit hatte wenig mit Realität zu tun. Es schien, als habe die Zeit im Schloß wieder angefangen. Wir spielten uns etwas vor; aber zum erstenmal hatte ich das Gefühl, daß sie nun ganz mir gehörte, obschon sie mir Tag für Tag mehr an den unerbittlichsten aller Liebhaber entglitt. Sie hatte sich noch nicht ergeben; aber sie kämpfte nicht mehr. Es gab qualvolle Nächte und Nächte, in denen sie weinte; aber dann kamen wieder fast unirdische Augenblicke, wo Süße, Trostlosigkeit, Weisheit und eine Liebe ohne die Schranken des Körpers plötzlich zu einer Intensität wurden, daß ich mich kaum zu rühren wagte, so übermächtig schien sie mir. „Mein Geliebter", sagte sie einmal nachts zu mir, und es war das einzige Mal, daß sie darüber sprach „wir werden das Gelobte Land, auf das du wartest, nicht zusammen sehen."
Ich hatte sie nachmittags zum Arzt gebracht. Jetzt spürte ich plötzlich wie einen Blitzschlag die ohnmächtige Rebellion, die ein Mensch empfinden kann, der erkennt, daß er nicht halten kann, was er liebt. „Helen", sagte ich mit erstickter Stimme, ,,was ist aus uns geworden?"
Sie schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte. „Alles, was wir konnten", erwiderte sie. „Und das ist genug."
Dann kam der Tag, an dem man mir auf dem Konsulat sagte, das Unglaubliche sei passiert: es seien zwei Visa angewiesen für uns. Die trunkene Laune einer zufälligen Bekanntschaft hatte bewirkt, was alles Flehen und alle Not nicht hatte erreichen können! Ich lachte. Es war Hysterie. Wenn man lachen kann, ist viel zu lachen in der Welt, heutzutage, glauben Sie nicht?" „Das Lachen hört irgendwann auf, sagte ich. „Das Merkwürdige ist, daß wir oft lachten in den letzten Tagen", erwiderte Schwarz. „Wir waren in einem Hafen, der von Winden nicht getroffen wurde, so schien es. Die Bitterkeit war ausgelaufen, es gab keine Tränen mehr, und die Trauer war so durchsichtig geworden, daß sie von einer ironisch-wehmütigen Heiterkeit oft nicht zu unterscheiden war. Wir zogen in eine kleine Wohnung. In unbegreiflicher Blindheit verfolgte ich weiter meinen Plan: nach Amerika zu entkommen. Es gingen lange keine Schiffe, bis endlich eines sicher wurde. Ich verkaufte die letzte Degas-Zeichnung und kaufte die Plätze. Ich war glücklich. Ich glaubte, wir wären gerettet. Trotz allem! Trotz der Ärzte. Es mußte noch dieses eine Wunder geben!