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Die Abfahrt wurde einige Tage verschoben. Dann ging ich vorgestern noch einmal zum Schiffsbüro, Die Reise war für heute angesetzt. Ich sagte es Helen und ging aus, um noch etwas zu kaufen. Als ich zurückkam, war sie tot. Alle Spiegel im Zimmer waren zerschlagen.

Ihr Abendkleid lag zerrissen auf dem Boden. Sie lag daneben; sie lag nicht auf dem Bett.

Ich glaubte zuerst, es sei ein Raubmord. Dann, daß jemand von der Gestapo sie getötet habe; doch der hätte mich gesucht, nicht sie. Erst als ich sah, daß außer den Spiegeln und dem Kleid nichts beschädigt war, begriff ich. Das Gift fiel mir ein, das ich ihr gegeben und von dem sie gesagt hatte, daß sie es verloren habe. Ich stand und starrte, und dann suchte ich nach einem Brief. Es war keiner da. Nichts war da. Sie war gegangen ohne ein Wort. Verstehen Sie das?"

„Ja", sagte ich.

„Sie verstehen es?"

„Ja", erwiderte ich. „Was hätte sie Ihnen denn noch schreiben sollen?"

„Irgend etwas. Warum. Oder..."

Er schwieg. Er dachte wahrscheinlich an letzte Worte, an eine letzte Liebesbeteuerung, an etwas, was er hätte mitnehmen können in seine Einsamkeit. Er hatte gelernt, viele Schablonenbegriffe abzustreifen, aber anscheinend nicht diesen. „Sie hätte nie aufhören können zu schreiben, wenn sie einmal angefangen hätte", sagte ich. „Dadurch, daß sie Ihnen nichts geschrieben hat, hat sie Ihnen mehr gesagt, als sie je in Worten hätte können."

Er dachte darüber nach. „Haben Sie das Schild im Reisebüro gesehen?" flüsterte er dann. „Um einen Tag verschoben. Sie hätte noch einen Tag länger gelebt, hätte sie es gewußt!"

„Nein."

„Sie wollte nicht mitkommen. Deshalb hat sie es getan!"

Ich schüttelte den Kopf. „Sie konnte die Schmerzen nicht länger aushalten, Herr Schwarz", sagte ich behutsam.

„Das glaube ich nicht", erwiderte er. „Warum hätte sie es sonst gerade am Tag vor der Reise getan? Oder dachte sie, man hätte sie als Kranke nicht in Amerika hineingelassen?"

„Warum wollen Sie einem sterbenden Menschen nicht überlassen, selbst zu bestimmen, wann er es nicht mehr ertragen kann?" erwiderte ich. „Es ist doch das Geringste, was wir tun können!"

Er starrte mich an. „Sie hat bis zum Äußersten ausgehalten", sagte ich. „Ihretwegen, sehen Sie das nicht? Nur Ihretwegen. Als sie Sie gerettet wußte, hat sie losgelassen."

„Und wenn ich nicht so blind gewesen wäre? Wenn ich nicht nach Amerika gewollt hätte?"

„Herr Schwarz", erwiderte ich. „Es hätte die Krankheit nicht aufgehalten."

Er bewegte seinen Kopf auf eine sonderbare Weise. „Sie ist fort, und plötzlich ist es, als ob sie nie dagewesen wäre", flüsterte er. „Ich habe sie angesehen, und da war keine Antwort. Was habe ich getan? Habe ich sie getötet, oder habe ich sie glücklich gemacht? Hat sie mich geliebt, oder war ich nur ein Stock, an dem sie ging, wenn es ihr paßte? Ich finde keine Antwort."

„Müssen Sie eine haben?"

„Nein", sagte er, plötzlich still. „Verzeihen Sie. Wahrscheinlich nicht."

„Es gibt keine. Es gibt nie eine andere als die, die Sie sich selbst geben."

„Ich habe es Ihnen erzählt, weil ich es wissen muß", flüsterte er. „Was ist es gewesen? Ist es ein leeres, sinnloses Leben gewesen, das Leben eines nutzlosen Menschen, eines Hahnreis, eines Mörders..."

„Das weiß ich nicht", sagte ich. „Aber wenn Sie wollen, auch das eines Liebenden und, wenn Ihnen etwas daran liegt, das einer Art von Heiligen. Doch was sollen die Namen? Es war da. Ist das nicht genug?"

„Es war da. Aber ist es noch da?"

„Es ist da, solange Sie da sind."

„Nur wir halten es noch", flüsterte Schwarz. „Sie und ich. Niemand sonst." Er starrte mich an. „Vergessen Sie es nicht. Jemand muß es halten! Es soll nicht fort sein! Wir sind nur noch zwei. Bei mir ist es nicht sicher. Es soll nicht sterben. Es soll weiterleben. Bei Ihnen ist es sicher."

Mich überlief bei aller Skepsis ein sonderbares Gefühl. Was wollte der Mann? Wollte er mir mit seinem Paß auch seine Vergangenheit übergeben? Wollte er sich vielleicht doch das Leben nehmen?

„Warum sollte es in Ihnen sterben?" fragte ich. „Sie werden doch weiterleben, Herr Schwarz."

„Ich werde mir nicht das Leben nehmen", erwiderte Schwarz ruhig. „Nicht, seit ich den Lächler gesehen habe und weiß, daß er noch lebt. Aber mein Gedächtnis wird die Erinnerung zu zerstören versuchen. Es wird sie zerkauen, zerkleinern, fälschen, bis sie zum Überleben geeignet und nicht mehr gefährlich ist. Schon in einigen Wochen könnte ich Ihnen das nicht mehr erzählen, was ich Ihnen heute erzählt habe. Deshalb wollte ich, daß Sie mir zuhören! In Ihnen bleibt es unverfälscht, weil es für Sie nicht gefährlich ist. Und irgendwo soll es doch bleiben", sagte er plötzlich trostlos. „In irgend jemand, so, wie es war, wenigstens noch eine kleine Zeit." Er zog zwei Pässe aus der Tasche und legte sie vor mich hin. „Hier ist auch der Paß Helens. Die Fahrscheine haben Sie ja schon. Jetzt haben Sie auch amerikanische Visa. Für zwei." Er lächelte schattenhaft und schwieg.

Ich starrte auf die Pässe. „Brauchen Sie den Ihren wirklich nicht mehr?"— fragte ich mit großer Überwindung.

„Sie können mir Ihren dafür geben", sagte er. „Ich brauche nur einen für ein, zwei Tage. Für die Grenze." Ich sah ihn an.

„Bei der Fremdenlegion fragt man nicht nach Pässen. Sie wissen, daß man dort Emigranten nimmt. Und solange es noch Leute wie den Lächler gibt, wäre es ein Verbrechen, ein Leben mit Selbstmord zu verschwenden, das man gegen Barbaren seinesgleichen einsetzen kann."

Ich zog meinen Paß aus der Tasche und gab ihn ihm. „Danke", sagte ich. „Danke von Herzen, Herr Schwarz."

„Da ist auch noch etwas Geld. Ich brauche nur noch wenig." Schwarz sah auf die Uhr. „Wollen Sie noch etwas für mich tun? Sie wird in einer halben Stunde abgeholt. Wollen Sie mit mir kommen?"

„Ja."

Schwarz zahlte die Rechnung. Wir gingen in den schreienden Morgen hinaus.

Draußen lag das Schiff weiß und unruhig im Tejo.

Ich stand in dem Zimmer neben Schwarz. Die zerschlagenen Spiegel hingen noch da. Sie waren jetzt leer. Die Scherben waren weggeräumt. „Hätte ich nicht die letzte Nacht bei ihr bleiben sollen?" fragte Schwarz.

„Sie waren bei ihr."

Die Frau lag im Sarg wie alle Toten; mit einem unendlich abweisenden Gesicht. Nichts hier ging sie etwas mehr an — weder Schwarz noch ich, noch sie selbst. Man konnte sich auch nicht mehr vorstellen, wie sie ausgesehen hatte. Was da lag, war eine Statue, von der nur einer noch eine Vorstellung hatte, wie sie war, als sie atmete: Schwarz. Aber Schwarz glaubte, ich habe sie jetzt auch.

„Sie hat noch...", sagte er, „da waren noch..."

Er holte aus einer Schublade einige Briefe. „Ich habe sie nicht gelesen", sagte er. „Nehmen Sie sie."

Ich nahm die Briefe und wollte sie in den Sarg legen. Dann besann ich mich — die Tote gehörte jetzt endlich Schwarz allein, glaubte er. Die Briefe von anderen hatten nichts mehr mit ihr zu tun — er wollte sie ihr nicht mitgeben, und er wollte sie auch nicht vernichten, weil sie doch zu ihr gehört hatten. „Ich werde sie nehmen", sagte ich und steckte sie in die Tasche. „Sie sind ohne jede Bedeutung. Weniger als ein kleiner Geldschein, den man ausgibt, um einen Teller Suppe zu kaufen."

„Krücken", erwiderte er. „Ich weiß es. Krücken hat sie es einmal genannt, die sie gebraucht hätte, um weiter mir treu zu bleiben. Verstehen Sie das? Es ist widersinnig..."

„Nein", sagte ich, und dann sehr vorsichtig, mit allem Mitleid der Welt: „Warum lassen Sie sie nicht endlich in Ruhe? Sie hat Sie geliebt, und sie ist bei Ihnen geblieben, solange sie konnte."

Er nickte. Er sah plötzlich sehr zerbrechlich aus. „Das wollte ich wissen", murmelte er.

Es wurde heiß in dem Raum mit dem starken Geruch, den Fliegen, den verlöschten Kerzen, der Sonne draußen und der Toten. Schwarz sah meinen Blick.

„Eine Frau hat mir geholfen", sagte er. „Es ist schwer, in einem fremden Land. Der Arzt. Die Polizei. Sie wurde weggeholt. Man hat sie gestern abend wieder zurückgeschickt. Sie wurde untersucht. Die Todesursache." Er sah mich hilflos an. „Man hat sie — sie ist nicht mehr ganz da —, man hat mir gesagt" ich solle sie nicht aufdecken..."

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