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Ich wußte, daß ich nichts für den Verhafteten hätte tun können. Die bewaffneten SS-Leute hätten mich mühelos überwältigt — ich erinnerte mich auch, wie mir jemand von einer ähnlichen Szene erzählt hatte. Er hatte gesehen, wie ein SS-Mann einen Juden verhaftete und verprügelte, und war ihm zu Hilfe gekommen; er hatte den SS-Mann bewußtlos geschlagen und dem Opfer zugerufen, zu fliehen. Aber der Verhaftete hatte seinen Befreier verflucht; er sei jetzt erst verloren, weil er nun in eine Situation gebracht worden sei, wo ihm auch dies aufgerechnet werde, und er war schluchzend Wasser holen gegangen, um den SS-Mann wieder zu Bewußtsein zu bringen, damit er von ihm zum Tode geführt werden konnte. Ich erinnerte mich an diese Erzählung, aber ich blieb trotzdem so verstört und in solch einem Widerstreit von Hilflosigkeit, Seibstverachtung, Angst und einem Gefühl fast von Frivolität, nach eigenem Glück auszublicken, während andere ermordet wurden, daß ich zum Hotel ging, meine Sachen holte und zum Bahnhof fuhr, obschon es noch zu früh dafür war. Es schien mir angepaßter, im Wartesaal zu sitzen als mich im Hotelzimmer zu verbergen. Das kleine Risiko, das ich dadurch nahm, gab in einer kindischen Weise meinem Selbstgefühl wenigstens einen geringen Halt.

8

Ich fuhr die Nacht durch und den folgenden Tag und kam ohne Schwierigkeiten nach Österreich. Die Zeitungen waren voll von Forderungen, Beteuerungen und den üblichen Meldungen von Grenzzwischenfällen, die stets Kriegen vorangehen und bei denen es sonderbar ist, daß immer die schwachen Nationen von den starken der Aggressivität beschuldigt werden. Ich sah Züge mit Truppen; aber die meisten Leute, mit denen ich sprach, glaubten nicht an den Krieg. Sie erwarteten, daß ein neues München jedesmal dem vorjährigen folgen würde und daß Europa viel zu schwach und dekadent sei, um einen Krieg mit Deutschland zu wagen. Es war ein scharfer Unterschied zu Frankreich, wo jeder wußte, daß der Krieg unausbleiblich war; aber der Bedrohte weiß ja immer mehr und weiß es früher als der Angreifer.

Ich kam nach Feldkirch und nahm ein Zimmer in einer kleinen Pension. Es war Sommer und die Zeit für Touristen; ich fiel nicht auf. Die beiden Koffer machten mich respektabel. Ich beschloß, sie im Stich zu lassen und nur so viel Gepäck mitzunehmen, wie mich nicht behinderte. Ich packte es in einen Rucksack, das war am unauffälligsten. Meine Zimmermiete zahlte ich auf eine Woche voraus.

Ich brach am nächsten Tag auf. Bis Mitternacht blieb ich in der Nähe der Grenze in einer Lichtung versteckt. Ich weiß noch, daß Mücken mich anfangs plagten und daß ich einen blauen Molch beobachtete, der im klaren Wasser eines Tümpels lebte. Er hatte einen Kamm und kam ab und zu hoch, um Luft zu schöpfen. Dann zeigte er einen gefleckten, gelbroten Bauch. Ich beobachtete ihn und dachte daran, daß für ihn die Welt in diesem Tümpel ihre Grenze hatte. Das kleine Wasserloch war die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Afrika und Yokohama für ihn, alles in einem. Friedlich tauchte er auf und unter, völlig in Harmonie mit dem Abend.

Ich schlief ein paar Stunden und machte mich dann bereit. Ich war sehr zuversichtlich. Zehn Minuten später tauchte, wie aus der Erde gewachsen, ein Zollbeamter neben mir auf. „Halt! Stehenbleiben! Was machen Sie hier?"

Er mußte im Dunkeln seit langem gelauert haben. Meine Erklärung, daß ich ein harmloser Spaziergänger sei, beachtete er nicht. „Sie können das alles auf der Zollstation vorbringen", sagte er und ließ mit entsicherter Waffe mich vor sich hergehen, zurück zum nächsten Ort.

Ich ging, niedergeschmettert, dumpf und nur in einer kleinen Ecke meines Gehirns sehr wach — wie ich entkommen könnte. Aber es war nicht möglich; der Zollbeamte kannte seinen Dienst zu gut. Er war genau im richtigen Abstande hinter mir; ich konnte ihn nicht überraschend anfallen, und ich konnte keine fünf Schritte weit entkommen, ohne daß er nicht sofort gefeuert hätte.

In der Zollstation öffnete er ein kleines Zimmer. „Gehen Sie hinein. Warten Sie hier."

„Wie lange?"

„Bis Sie vernommen werden."

„Können Sie das nicht gleich tun? Ich habe nichts getan, um eingesperrt zu werden."

„Dann brauchen Sie ja keine Sorge zu haben."

„Ich habe keine Sorge", sagte ich und legte meinen Rucksack ab. „Fangen wir also an."

„Wir fangen an, wann wir hier dazu bereit sind", sagte der Beamte und zeigte ein außerordentlich gutes, weißes Gebiß. Es sah aus wie ein Jäger und wirkte auch so.

„Morgen früh kommt der zuständige Beamte. Auf dem Sessel da können Sie schlafen. Es ist nur noch ein paar Stunden. Heil Hitler!"

Ich sah mich in der Kammer um. Das Fenster war vergittert; die Tür kräftig und von außen verschlossen. Ich konnte nicht entfliehen. Außerdem hörte ich Leute nebenan. Ich saß und wartete. Es war trostlos. Endlich wurde der Himmel grau und dann langsam blau und hell. Ich hörte wieder Stimmen und roch Kaffee. Die Tür wurde aufgeschlossen. Ich tat, als ob ich erwache, und gähnte. Ein Zollbeamter trat ein; er war rot und dick und sah gemütlicher aus als der Jäger. „Endlich!" sagte ich. „Es ist verdammt unbequem, hier zu schlafen."

„Was wollten Sie an der Grenze?" fragte er und begann meinen Rucksack zu öffnen. „Ausreißen? Schmuggeln?"

„Gebrauchte Hosen schmuggelt man nicht", erwiderte ich. „Gebrauchte Hemden auch nicht."

„Schön. Was wollten Sie dann nachts da?" Er legte meinen Rucksack beiseite. Ich dachte plötzlich an das Geld, das ich bei mir hatte. Wenn er es fand, war ich verloren. Hoffentlich untersuchte er mich nicht weiter. „Mir den Rhein bei Nacht ansehen", sagte ich lächelnd. „Ich bin Tourist. Und Romantiker." „Woher kommen Sie?"

Ich nannte den Namen meiner Pension und den Ort, aus dem ich kam. „Ich wollte heute morgen dorthin zurück", sagte ich. „Meine Koffer sind noch da. Ich habe dort auch meine Miete für eine Woche vorausbezahlt. Das sieht nicht nach Schmuggel aus, wie?"

„Soso", erwiderte er. „Das werden wir ja alles feststellen. Ich hole Sie in einer Stunde ab. Wir gehen zusammen hin. Mal sehen, was Sie in den Koffern haben."

Es war ein langer Weg. Auch der Dicke war wachsam wie ein Schäferhund. Er schob sein Fahrrad neben sich her und rauchte. Endlich kamen wir an.

„Da ist er ja!" rief jemand aus dem Fenster der Pension. Gleich darauf stand die Wirtin vor mir. Sie war puterrot vor Aufregung. „Mein Gott, wir dachten schon, es wäre Ihnen etwas zugestoßen! Wo waren Sie denn die Nacht über?"

Die Frau hatte am Morgen mein unaufgedecktes Bett entdeckt und geglaubt, ich sei ermordet worden. Angeblich triebe sich jemand in der Gegend herum, der schon ein paar Raubüberfälle auf dem Gewissen hatte. Sie habe deshalb die Polizei geholt. Der Polizist kam hinter ihr aus dem Hause. Er glich dem Jäger. „Ich habe mich verirrt", sagte ich, so ruhig ich konnte. „Und dann war es eine so schöne Nacht! Ich habe zum erstenmal seit meiner Kindheit wieder im Freien geschlafen. Es war herrlich! Ich bedaure, Ihnen Sorge gemacht zu haben. Leider bin ich aus Versehen zu nahe an die Grenze gekommen. Bitte erklären Sie dem Zollbeamten doch, daß ich hier wohne."

Die Wirtin tat es. Der Zollbeamte erklärte sich bereits für befriedigt; aber der Polizist hatte aufgemerkt. „Woher kommen Sie?" fragte er. „Von der Grenze? Haben Sie Papiere? Wer sind Sie?"

Mir fehlte einen Augenblick der Atem. Das Geld von Helen steckte in meiner Brusttasche; wenn er es entdeckte, geriet ich in Verdacht, daß ich es in die Schweiz schmuggeln wollte, und wäre sofort festgenommen worden. Was dann noch kam, war nicht auszudenken.

Ich nannte meinen Namen, zeigte aber meinen Paß noch nicht vor; Deutsche und Österreicher brauchen in ihrem eigenen Lande keinen. „Wer beweist uns, daß Sie nicht gerade der Verbrecher sind, den wir suchen?" erwiderte der Polizist, der dem Jäger glich.

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