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„Ich kann nach Zürich fahren und mir dort eins geben lassen. Für die Schweiz brauche ich keins."

„Das ist wahr." Ich starrte sie an. „Und deine Familie?" fragte ich. „Lassen sie dich gehen?"

„Ich werde sie nicht fragen. Und ihnen nichts sagen, Ich werde ihnen erklären, ich müsse nach Zürich, um zu einem Arzt zu gehen. Ich habe das schon vorher getan."

„Bist du denn krank?"

„Natürlich nicht", sagte Helen. „Ich habe es getan, um einen Paß zu bekommen. Um hier herauszukommen. Ich war am Ersticken."

Ich erinnerte mich, daß Georg sie gefragt hatte, ob sie beim Arzt gewesen sei. „Du bist nicht krank?" fragte ich, noch einmal.

„Unsinn. Meine Familie glaubt es aber. Ich habe es ihr eingeredet, damit ich Ruhe habe. Und damit ich heraus konnte. Martens hat mir dabei geholfen. Es braucht Zeit, einen echten Deutschen davon zu überzeugen, daß es vielleicht in der Schweiz Spezialisten geben könne, die noch mehr wissen als die Autoritäten in Berlin."

Helen lachte plötzlich. „Sei nicht so dramatisch! Es geht nicht um Leben und Tod, und es ist keine Flucht bei Nacht und Nebel. Ich fahre einfach morgen für einige Tage nach Zürich, um mich untersuchen zu lassen, so wie ich es schon vorher getan habe. Vielleicht sehe ich dich dann dort, wenn du auch da bist. Klingt das besser?"

„Ja", sagte ich. „Aber laß uns weiterfahren. Ich bin noch wie jemand, dessen Kopf abwechselnd rasch in kochendes und eiskaltes Wasser getaucht wird und der den Unterschied nicht fühlt. Warum habe ich nie daran gedacht? Es ist alles plötzlich so einfach, daß, ich furchte, eine Brigade SS müsse gleich aus dem Wald brechen."

„Alles ist scheinbar einfach, wenn man verzweifelt ist, Liebster!" sagte Helen sehr sanft.

„Eine sonderbare Kompensation. Ist das immer so?"

„Ich hoffe, wir brauchen nie darüber nachzudenken."

Der Wagen glitt aus dem Staub des Sommerweges auf die Fahrbahn. „Ich bin sogar vorbereitet, immer so zu leben", sagte Helen, ohne irgendein Anzeichen der Verzweiflung.

Sie ging mit mir ins Hotel, Es war überraschend, wie schnell sie sich in meiner Situation zurechtfand. „Ich gehe mit dir in die Halle", erklärte sie. „Männer allein sind verdächtiger als ein Mann mit einer Frau." „Du lernst rasch."

Sie schüttelte den Kopf. „Das habe ich gelernt, bevor du kamst. In den Jahren der Denunziation. Nationale Erhebungen sind wie Steine, die man vom Boden hebt — das Ungeziefer kriecht darunter hervor. Es hat für seine Vulgarität endlich große Worte, die es decken." Der Hotelassistent gab mir meinen Schlüssel, und ich ging auf mein Zimmer. Helen blieb unten, um auf mich zu warten.

Mein Koffer stand neben der Tür auf einem Kofferstand. Ich blickte mich in dem belanglosen Zimmer um. Es war wie viele, in denen ich gehaust hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich angekommen war, aber die Erinnerung daran verschwamm bereits. Ich erkannte, daß ich nicht mehr am Ufer stand oder mich versteckte und auf den Strom blickte — ich schwamm schon auf einer Planke mit.

Ich stellte den Koffer, den ich mitgebracht hatte, neben den, den ich früher gekauft hatte. Dann ging ich wieder hinunter zu Helen.

„Wie lange hast du Zeit?" fragte ich.

„Ich muß den Wagen heute nacht zurückbringen."

Ich sah sie an. Ich begehrte sie so, daß ich einen Augenblick nicht sprechen konnte. Ich starrte auf die braunen und grünen Sessel der Halle und auf die Portiersloge und den scharfbeleuchteten Tisch mit den vielen Brieffächern im Hintergrund und wußte, daß es hier unmöglich war, Helen auf mein Zimmer zu bringen. „Wir können noch zusammen essen", sagte ich. „Laß uns so tun, als ob wir uns morgen wiedersähen."

„Nicht morgen", erwiderte Helen. „Übermorgen." Übermorgen mochte etwas für sie bedeuten; für mich war es noch so wie niemals oder eine unsichere Chance in einer Lotterie mit wenigen Gewinnen und zahllosen Nieten. Ich hatte zu viele Übermorgen erlebt, und sie waren alle anders gewesen, als ich gehofft hatte.

„Übermorgen", sagte ich. „Übermorgen oder einen Tag später. Es richtet sich nach dem Wetter. Wir wollen heute nicht daran denken."

„Ich denke an nichts anderes", erwiderte Helen. Wir gingen in den Domkelter, ein altdeutsch eingerichtetes Restaurant, und fanden einen Tisch, an dem wir nicht belauscht werden konnten. Ich bestellte eine Flasche Wein, und wir besprachen, was zu besprechen war. Helen wollte morgen nach Zürich fahren. Dort würde sie auf mich warten: Ich wollte den Weg über Österreich und den Rhein nehmen, den ich kannte, und sie anrufen, wenn ich Zürich erreicht hätte. „Und wenn du nicht kommst?" fragte sie. „Man darf aus Schweizer Gefängnissen schreiben. Warte eine Woche. Wenn du dann nichts von mir gehört hast, fahre zurück."

Helen sah mich lange an. Sie wußte, was ich meinte. Aus deutschen Gefängnissen gab es keine Gelegenheit mehr, zu schreiben. „Ist die Grenze scharf bewacht?" flüsterte sie.

„Nein", sagte ich. „Und denk nicht darüber nach. Ich bin hereingekommen — warum sollte ich nicht hinauskommen?"

Wir versuchten, den Abschied zu ignorieren; aber wir konnten es nicht ganz. Wie eine mächtige schwarze Säule stand er zwischen uns, und alles, was wir tun konnten, war, um ihn herum gelegentlich einen Blick auf unsere verstörten Gesichter zu erhaschen. „Es ist wie vor fünf Jahren", sagte ich. „Nur dieses Mal gehen wir beide."

Helen schüttelte den Kopf. „Sei vorsichtig!" sagte sie. „Sei um Gottes willen vorsichtig! Ich werde warten. Länger als eine Woche! Solange du willst. Riskiere nichts!"

„Ich werde vorsichtig sein. Laß uns nicht darüber sprechen. Man kann Vorsicht zerreden. Sie ist dann nicht mehr gut."

Sie legte ihre Hand auf meine Hand. „Ich begreife erst jetzt, daß du gekommen bist! Jetzt, wo du wieder gehst! So spät!"

„Ich auch", erwiderte ich. „Es ist gut, daß wir es jetzt wissen."

„So spät", murmelte sie. „Erst jetzt, wo du gehst."

„Nicht erst jetzt. Wir haben es immer gewußt. Wäre ich sonst gekommen, und hättest du auf mich gewartet? Wir können es uns nur jetzt zum erstenmal sagen."

„Ich habe nicht immer gewartet", sagte sie.

Ich schwieg. Ich hatte auch nicht gewartet, aber ich wußte, daß ich es ihr nie sagen durfte. Am wenigsten jetzt. Wir waren beide ganz offen und ohne jede Verteidigung. Wenn wir je zusammen leben würden, dann war es dieser Augenblick in einem lärmenden Restaurant in Münster, zu dem wir immer wieder und jeder für sich zurückkehren konnten, um Kraft und Bestätigung zu holen. Er würde ein Spiegel sein, in den wir blicken konnten, und er würde uns zwei Bilder zeigen: das, wie das Schicksal uns gewollt, und das, wozu es uns gemacht hatte — und das war viel; die Irrtümer kommen immer daher, daß man das erste Bild verloren hat.

„Du mußt jetzt gehen", sagte ich. „Sei vorsichtig. Fahre nicht zu schnell."

Ihre Lippen zuckten. Ich merkte die Ironie erst, nachdem ich es gesagt hatte. Wir standen in der windigen Straße zwischen den alten Häusern. „Sei du vorsichtig", flüsterte sie. „Du brauchst es mehr."

Ich blieb eine Zeitlang in meinem Zimmer, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zum Bahnhof, kaufte mir eine Fahrkarte nach München und schrieb mir die Züge auf. Es gab einen, der noch am selben Abend fuhr. Ich beschloß, ihn zu nehmen.

Die Stadt war still. Ich kam am Domplatz vorbei und blieb stehen. Im Dunkel konnte ich nur einen Teil der alten Gebäude erkennen. Ich dachte an Helen und an das, was geschehen würde, aber es wurde so mächtig und undeutlich wie die hohen Fenster im Schatten der Kirche; ich wußte plötzlich nicht mehr, ob es richtig war, sie zu holen, oder ob es zum Untergang führen würde und ob ich ein frivoles Verbrechen begangen oder eine unerhörte Gnade empfangen hatte, und vielleicht war es beides.

In der Nahe des Hotels horte ich unterdrücktes Sprechen und Schritte. Zwei SS-Leute kamen aus einer Haustür und stießen einen Mann auf die Straße. Ich sah sein Gesicht im Schein einer Straßenlaterne. Es war schmal und wächsern, und von der rechten Seite des Mundes lief ein schwarzer Blutfaden über das Kinn. Der Kopf war kahl, aber über den Schläfen wuchs dunkles Haar. Die Augen waren weit aufgerissen und voll eines solchen Entsetzens, wie ich es lange nicht mehr gesehen hatte. Der Mann schwieg. Seine Begleiter stießen und zerrten ihn ungeduldig vorwärts. Sie waren nicht laut; die ganze Szene hatte etwas Unterdrücktes, Gespenstisches. Die SS-Leute blickten mich wütend und herausfordernd an, als sie an mir vorüberkamen, und der Gefangene starrte mit seinen paralysierten Augen auf mich und machte etwas wie eine Geste um Hilfe, und seine Lippen bewegten sich; aber kein Laut kam hervor. Es war die eiwige Szene der Menschheit — die Knechte der Gewalt, das Opfer und der ewige Dritte, der Zuschauer, der die Hände nicht hebt und das Opfer nicht verteidigt und nicht versucht, es zu befreien, weil er für seine eigene Sicherheit fürchte! und dessen eigene Sicherheit ebendeshalb immer in Gefahr ist.

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