Als wir die Stadt hinter uns hatten, wurde sie ruhiger. „Wann willst du von Münster weiterfahren?" fragte sie.
Ich wußte es nicht, weil es kein Ziel gab. Ich wußte nur, daß ich nicht lange mehr bleiben konnte. Das Schicksal gibt einem nur eine gewisse Narrenfreiheit; dann warnt es und schlägt zu. Man spürt manchmal, wenn die Zeit da ist. Ich spürte, daß sie da war. „Morgen", sagte ich.
Sie erwiderte eine Weile nichts. „Und wie willst du es machen?" fragte sie dann.
Ich hatte darüber nachgedacht, während ich allein im dunklen Wohnzimmer saß. Zu versuchen, den Zug zu nehmen und einfach an der Grenze meinen Paß vorzuweisen, schien mir ein viel zu großes Risiko zu sein. Man konnte mich nach anderen Papieren fragen, nach einer Auswanderungserlaubnis, einer Reichsfluchtsteuer-Bestätigung, nach einem Vermerk im Paß — alles das besaß ich nicht. „Denselben Weg, den ich gekommen bin", sagte ich. „Durch Österreich. Über den Rhein in die Schweiz. Nachts." Ich wandte mich Helen zu. „Laß uns nicht darüber reden", sagte ich. „Oder sowenig wie möglich."
Sie nickte. „Ich habe Geld mitgebracht. Du wirst es brauchen. Wenn du heimlich über die Grenze gehst, kannst du es mitnehmen. Kann man es in der Schweiz wechseln?"
„Ja. Aber brauchst du es nicht selbst?"
„Ich kann es nicht mitnehmen. Ich werde an der Grenze kontrolliert. Man darf nur ein paar Mark bei sich haben."
Ich starrte sie an. Was redete sie da? Sie mußte sich versprochen haben. „Wieviel ist es?" fragte ich.
Helen blickte mich rasch an. „Nicht so wenig, wie du denkst. Ich habe es schon seit langer Zeit beiseite gelegt. Es ist in der Tasche dort."
Sie zeigte auf eine kleine Ledertasche. „Es sind meistens Hundertmarkscheine. Ein Päckchen Zwanziger ist auch dabei, für Deutschland, damit du keinen großen Schein wechseln mußt. Zahle es nicht. Nimm es. Es ist ohnehin dein Geld."
„Hat die Partei mein Konto nicht beschlagnahmt?"
„Ja, aber nicht früh genug. Ich konnte dieses hier vorher abheben. Jemand bei der Bank hat mir geholfen. Ich wollte es für dich haben und es dir einmal schicken; aber ich wußte nie, wo du warst."
„Ich habe dir nicht geschrieben, weil ich dachte, du würdest beobachtet. Ich wollte vermeiden, daß man dich auch in ein Lager sperrte."
„Nicht allein deshalb", sagte Helen ruhig. „Nein, vielleicht nicht allein deshalb." Wir fuhren durch ein Dorf mit weißen westfälischen Häusern und Strohdächern und schwarzem Gebälk.
Junge Leute in Uniform stolzierten umher. Aus einer Kneipe dröhnte das Horst-Wessel-Lied.
„Es gibt Krieg", sagte Helen plötzlich. „Bist du deshalb zurückgekommen?"
„Woher weißt du, daß es Krieg gibt?" „Von Georg. Bist du deshalb gekommen?" Ich wußte nicht, weshalb sie das noch wissen wollte. War ich nicht schon wieder auf der Flucht?
„Ja", erwiderte ich. „Ich bin auch deshalb gekommen, Helen."
„Du wolltest mich holen?"
Ich starrte sie an. „Mein Gott, Helen", sagte ich schließlich. „Sprich nicht so darüber. Du hast keine Ahnung, wie es drüben ist. Es ist kein Abenteuer, und es wird undenkbar, wenn es Krieg gibt. Man wird alle Deutschen einsperren."
Wir mußten an einer Bahnüberführung halten. Vor dem Bahnwärterhäuschen blühte ein kleiner Garten mit Dahlien und Rosen. Der Wind klirrte an dem Gestänge der Schranken, als wären sie Harfen. Neben uns kamen andere Wagen heran — zuerst ein kleiner Opel mit vier dicken, ernsten Männern; ihm folgte ein offener grüner Zweisitzer mit einer alten Frau; dann schob sich, lautlos, eine schwarze Mercedes-Limousine wie ein Leichenwagen dicht neben uns. Ein Chauffeur in schwarzer SS-Uniform war am Steuer, und im Fond saßen zwei SS-Offiziere mit sehr bleichen Gesichtern. Der Wagen stand so dicht neben uns, daß ich hätte hinüberreichen können. Es dauerte ziemlich lange, bis der Zug kam. Helen saß schweigend neben mir. Der Mercedes mit dem vielen Chrom schob sich noch etwas weiter vor, so daß der Kühler fast die Schranken berührte. Er wirkte tatsächlich wie ein Trauerwagen, in dem zwei Tote transportiert wurden. Wir hatten soeben vom Krieg gesprochen, und hier, neben uns, schien sein Symbol sich herangeschoben zu haben: die schwarzen Uniformen, die Leichengesichter, die silbernen Totenköpfe, der schwarze Wagen und die Stille, die nicht mehr nach Rosen zu riechen schien, sondern schon nach bitterem Immergrün und Verwesung.
Der Zug lärmte heran wie das Leben selbst. Es war ein Schnellzug mit Schlafabteilen und einem hellerleuchteten Speisewagen mit weißgedeckten Tischen. Als die Schranken hochgingen, schoß der Mercedes den anderen Wagen voran in die Dunkelheit, wie ein dunkleres Torpedo, das gespenstisch die Landschaft entfärbte, als wären die Baume bereits schwarze Skelette. „Ich gehe mit dir", flüsterte Helen.
„Was? Was sagst du da?" „Warum nicht?"
Sie hielt den Wagen an. Die Stille überfiel uns wie ein lautloser Schlag, und dann hörten wir die Geräusche der Nacht. „Warum nicht?" fragte Helen plötzlich sehr erregt. „Willst du mich wieder zurücklassen?"
Ihr Gesicht war so blaß im blauen Schein des Instrumentenbrettes wie das der Offiziere — als wäre auch sie bereits vom Tode, der in der Juninacht umherschlich, gezeichnet worden. Ich begriff in diesem Augenblick, daß das meine tiefste Angst gewesen war: daß der Krieg zwischen uns kommen würde und daß wir uns nie wiederfinden würden, nachdem er ausgetobt hätte, weil man nicht, selbst mit größter Vermessenheit, auf soviel persönliches Glück hoffen konnte, nach einem Erdbeben, das alles zerstören würde.
„Wenn du nicht gekommen bist, um mich zu holen, dann ist es ein Verbrechen, daß du überhaupt gekommen bist! Verstehst du das nicht?" sagte Helen, geschüttelt vor Zorn.
„Ja", erwiderte ich.
„Weshalb weichst du dann aus?"
„Ich weiche nicht aus. Aber du weißt nicht, was es bedeutet."
„Weißt du es so genau? Weshalb bist du dann gekommen? Lüge nicht! Um noch einmal Abschied zu nehmen?"
„Nein."
„Weshalb dann? Um hierzubleiben und Selbstmord zu begehen?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich erkannte, daß es nur eine Antwort gab, die sie verstehen würde, und nur eine, die ich jetzt geben durfte, selbst wenn es nie geschähe. Ich mußte sie geben. „Um dich zu holen", sagte ich. „Weißt du das denn immer noch nicht?"
Ihr Gesicht veränderte sich. Der Zorn verschwand. Es wurde sehr schön. „Ja", murmelte sie. „Aber du mußt es mir doch sagen. Weißt du das denn noch immer nicht?"
Ich nahm meinen Mut zusammen. „Ich will es dir hundertmal sagen, Helen, und ich möchte es dir jede Minute sagen — am meisten aber sage ich es dir, wenn ich dir erklären muß, daß es unmöglich ist." „Es ist nicht unmöglich. Ich habe einen Paß." Ich schwieg einen Augenblick. Das Wort schlug ein, als wäre es ein Blitz in den konfusen Wolken meiner Überlegungen. „Du hast einen Paß?" wiederholte ich. „Einen Auslandspaß?"
Helen öffnete ihre Handtasche und nahm ihren Paß heraus. Sie hatte ihn nicht nur, sie hatte ihn auch bei sich. Ich betrachtete ihn, wie man den heiligen Gral ansehen würde. Ein gültiger Paß war nichts anderes: er war Erklärung und Recht zugleich. „Seit wann?" fragte ich.
„Seit zwei Jahren", sagte sie. „Er ist noch drei Jahre gültig. Ich habe ihn dreimal gebraucht, einmal, um nach Österreich zu fahren, als es noch unabhängig war, und zweimal für die Schweiz."
Ich blätterte ihn durch. Ich mußte mich fassen. Die Wirklichkeit stand plötzlich vor mir. Ein Paß knisterte in meiner Hand. Es war nicht mehr ausgeschlossen, daß Helen Deutschland verlassen konnte. Ich hatte geglaubt, es wäre nur möglich, wenn sie fliehen und heimlich die Grenze überschreiten würde, wie ich. „Einfach, nicht wahr?" sagte Helen, die mich beobachtet hatte.
Ich nickte, als wäre ich ein Idiot. „Du kannst also einen Zug nehmen und einfach abfahren", erwiderte ich und sah noch einmal den Paß an. Daran hatte ich nie gedacht. „Aber du hast kein Visum nach Frankreich."