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„Später. Wenn alle weg sind. Warte." Ich schlich zurück in das Gehölz, gerade weit genug, um nicht gesehen zu werden, wenn jemand eine Taschenlampe auf den Wald richten würde. Ich lag auf dem Boden und roch den starken Geruch des toten Laubes. Ein schwacher Wind kam auf, und um mich raschelte es, als kröchen tausend Spione auf mich zu. Meine Augen gewöhnten sich mehr und mehr an die Dunkelheit, und ich sah jetzt Helens Schatten und darüber ungewiß ihr bleiches Gesicht, dessen Züge ich nicht erkennen konnte. Sie hing wie eine schwarze Pflanze mit einer weißen Blüte im Stacheldraht, und dann wieder schien sie eine dunkle namenlose Figur aus dunklen Zeiten zu sein, und gerade daß ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, machte es zu allen Gesichtern aller Leidenden der Welt. Ein Stück weiter weg erkannte ich eine zweite Frau, die ebenso wie Helen stand, und dann eine dritte und eine vierte weiter weg — sie standen wie ein Fries von Karyatiden, die einen Himmel von Trauer und Hoffnung trugen.

Es war fast unerträglich, und ich blickte fort. Als ich wieder hinsah, waren die anderen drei lautlos verschwunden, und ich sah, daß Helen sich bückte und am Stacheldraht zerrte. „Halt ihn auseinander", sagte sie.

Ich trat auf den unteren Draht und hob die nächsten an.

„Warte", flüsterte Helen. „Wo sind die anderen?" fragte ich. „Zurück. Eine ist eine Nazi. Ich konnte deshalb nicht früher durch. Sie hätte mich verraten. Die, die weinte."

Helen zog ihre Bluse und ihren Rock aus und reichte sie mir durch den Draht. „Sie dürfen keine Risse bekommen", sagte sie. „Ich habe keine anderen mehr."

Es war wie bei armen Familien, bei denen es weniger wichtig ist, daß Kinder sich die Knie zerschlagen, als daß sie die Strümpfe zerreißen, da die Wunden heilen, aber man Strümpfe neu kaufen muß.

Ich fühlte die Kleider in meinen Händen. Helen beugte sich nieder und kroch vorsichtig durch den Draht. Sie erhielt einen Riß an der Schulter. Wie eine sehr dünne schwarze Schlange stieg das Blut aus der Haut. Sie erhob sich. „Können wir fliehen?" fragte ich.

„Wohin?"

Ich wußte keine Antwort. Wohin? „Nach Spanien", sagte ich. „Nach Portugal. Nach Afrika."

„Komm", sagte Helen. „Komm und laß uns nicht darüber sprechen. Niemand kann von hier fliehen ohne Papiere. Deshalb passen sie ja nicht einmal genau auf."

Sie ging mir voran in den Wald. Sie war fast nackt und geheimnisvoll und sehr schön. Es war nur eine Ahnung von Helen, meiner Frau aus den letzten Monaten, übriggeblieben; gerade genug, um sie süß und schmerzlich zu erkennen unter dem Hauch der Vergangenheit, in dem die Haut sich fröstelnd und voll Erwartung zusammenzog. Dafür aber war jemand da, fast ohne Namen noch, herabgestiegen aus dem Karyatidenfries, umgeben von neun Monaten einer Fremde, die mehr war als zwanzig Jahre in einem normalen Dasein."

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Der Besitzer der Kneipe, in der wir vorher gewesen waren, kam zu uns heran. „Sie ist ausgezeichnet, die Dicke", erklärte er würdig. „Französin. Ein raffinierter Satan, sehr zu empfehlen, meine Herren! Unsere Frauen sind feurig, aber zu schnell." Er schnalzte. „Ich verabschiede mich jetzt. Nichts besser, als sich das Blut von einer Französin reinigen zu lassen. Sie verstehen das Leben. Man braucht bei ihnen auch weniger zu lügen als bei unseren Frauen. Gute Heimkehr, meine Herren! Nehmen Sie nicht Lolita oder Juana. Beide sind nichts wert, und Lolita stiehlt gern dann, wenn man nicht aufpassen kann."

Er ging. Als er die Tür öffnete, sprang der Morgen herein, und man hörte den Lärm der Frühe. „Wir müssen wohl auch gehen", sagte ich.

„Ich bin bald fertig mit meiner Erzählung", erwiderte Schwarz, "und wir haben noch etwas Wein." Er bestellte Wein und Kaffee für die drei Frauen, um Ruhe zu haben. „Es war eine Nacht, in der wir wenig sprachen", fuhr er fort. „Ich hatte meine Jacke ausgebreitet, und als es kühler wurde, deckten wir uns mit Helens Rock und Bluse und meinem Sweater zu. Helen schlief ein und wachte wieder auf; einmal hatte ich, im Halbschlaf, das Gefühl, daß sie weinte, und dann war sie wieder von einer ungestümen Zärtlichkeit und voll von Liebkosungen, die ich von ihr nicht kannte. Ich fragte sie nichts und erzählte ihr auch nicht, was ich im Lager gehört hatte. Ich liebte sie sehr und war doch in einer unerklärlichen, kühlen Weise entfernt von ihr. In die Zärtlichkeit mischte sich eine Trauer, die die Zärtlichkeit noch verstärkte; es war, als lägen wir dicht am Jenseits angeschmiegt, viel zu weit, um je noch zurückzukommen oder je irgendwo anzukommen, nur noch Flug, Beieinandersein und Verzweiflung, das war es, Verzweiflung, lautlose, jenseitige Verzweiflung, in die unsere glücklichen Tränen tropften, ungeweinte Schattentränen eines Wissens, das das Vergehen kennt, aber keine Ankunft und keine Rückkehr mehr.

„Können wir nicht fliehen?" fragte ich noch einmal, bevor Helen wieder zurück durch den Stacheldraht schlüpfte.

Sie antwortete nicht, bevor sie auf der anderen Seite war. „Ich kann nicht", flüsterte sie dann. „Ich kann nicht. Andere würden dafür bestraft. Komm wieder! Komm morgen abend wieder. Kannst du morgen abend wiederkommen?"

„Wenn ich nicht vorher erwischt werde."

Sie starrte mich an. „Was ist aus unserm Leben geworden?" sagte sie dann. „Was haben wir getan, daß so etwas aus unserm Leben geworden ist?"

Ich gab ihr ihre Bluse und ihren Rock. „Sind das deine besten Sachen?" fragte ich.

Sie nickte.

„Ich danke dir, daß du sie angezogen hast", sagte ich. „Ich bin sicher, daß ich morgen abend wieder hier sein kann. Ich werde mich im Wald verstecken."

„Du mußt essen. Hast du etwas?"

„Ich habe etwas. Und dann gibt es vielleicht Beeren im Wald. Und Pilze oder Nüsse."

„Kannst du es aushalten bis morgen abend? Ich bringe dann etwas mit."

„Natürlich. Es ist ja schon fast Morgen."

„Iß keine Pilze. Du kennst sie nicht. Ich bringe genug zu essen mit." Sie zog ihren Rock an. Er war weit und hellblau, mit weißen Blumen, und sie warf ihn um sich herum und knöpfte ihn zu, als gürte sie sich zu einem Gefecht. „Ich liebe dich", sagte sie verzweifelt. „Ich liebe dich viel mehr, als du jemals wissen kannst. Vergiß das nicht! Nie!"

Sie sagte es fast jedesmal, bevor sie sich von mir trennte. Es war die Zeit, als wir das Freiwild aller waren, sowohl der französischen Gendarmen, die aus einem wildgewordenen Ordnungssinn nach uns fahndeten, als auch der Gestapo, die in die Lager einzudringen versuchte, obschon es hieß, daß ein Abkommen mit der Regierung Petain bestehe, das dies untersagte. Man wußte nie, wer einen schnappen würde, und jeder Abschied am Morgen war immer der letzte.

Helen brachte mir Brot und Obst und manchmal ein Sfück Wurst oder Käse. Ich traute mich nicht hinunter in das nächste Städtchen, um dort zu wohnen. Ich richtete mich im Walde ein und lebte in dem Rest eines alten, zerstörten Klosters, das ich ein Stück entfernt entdeckte. Tagsüber schlief ich dort, oder ich las, was Helen mir brachte, und beobachtete die Straße von einem Gebüsch aus, in dem ich nicht gesehen werden konnte.

Helen brachte mir auch die Nachrichten und die Gerüchte: daß die Deutschen näher und näher rückten und sich nicht um ihre Verträge kümmerten.

Es war trotzdem ein fast panisches Leben. Die Furcht kam ab und zu bitter wie Magensaft hoch; aber die Gewohnheit, nur der Stunde zu leben, siegte immer wieder. Wir hatten gutes Wetter, und der Himmel war nachts voll mit Sternen. Helen hatte eine Zeltplane besorgt, auf der wir unter trockenem Laub in dem zerstörten Klostergang lagen und auf die Geräusche der Nacht horchten. „Wie kommt es, daß du so fort kannst?" fragte ich sie einmal. „Und so oft?"

„Ich habe eine Vertrauensstelle und etwas Protection", erwidere Sie nach einer Weile. „Du hast ja gesehen " ich bin auch manchmal im Dorf."

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