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„Ich will Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen", sagte Schwarz. „Sie kennen ja den Weg der Emigranten. Ich blieb nur ein paar Tage im Stadion Colombes. Helen kam in das „Petite Roquette". Am letzten Tag erschien der Wirt unseres Hotels im Stadion. Ich sah ihn nur von weitem; es war uns nicht erlaubt, mit Besuchern zu sprechen. Der Wirt hinterließ einen kleinen Kuchen und eine große Flasche Cognac. Im Kuchen fand ich einen Zettel: „Madame ist gesund und guter Laune. Nicht in Gefahr. Erwartet irgendwann Transport in ein Frauenlager, das in den Pyrenäen eingerichtet wird. Briefe über Hotel. Madame est formidable!" Eingefaltet war ein sehr kleiner Zettel mit Helens Handschrift: „Sorge dich nicht. Keine Gefahr mehr. Es bleibt ein Abenteuer. Auf bald. Liebe."

Sie hatte es fertiggebracht, die nachlässige Blockade zu durchbrechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie. Später erzählte sie mir, daß sie erklärt habe, Dokumente holen zu müssen, die ihr fehlten. Man hatte sie mit einem Polizisten zum Hotel geschickt. Sie hatte dem Wirt den Zettel zugesteckt und ihm zugeflüstert, wie er ihn mir schicken solle. Der Polizist, der für Liebe Verständnis zeigte, hatte das übersehen. Sie hatte keine Dokumente zurückgebracht, dafür aber Parfüm, Cognac und einen Korb mit Essen. Sie liebte zu essen. Wie sie dabei schlank blieb, ist mir immer unerklärlich geblieben. Wenn ich in der Zeit, als wir noch frei waren, aufwachte und sie nicht neben mir fand, brauchte ich nur dahin zu gehen, wo wir unsere Speisen aufhoben — sie hockte dort im Mondschein und nagte mit selbstvergessenem Lächeln an einem Schinkenknochen oder stopfte sich voll mit dem Dessert vom Abend vorher, das sie aufgehoben hatte. Dazu trank sie Wein aus der Flasche. Sie war wie eine Katze, die nachts hungrig wird. Sie erzählte mir, daß sie, als sie verhaftet wurde, den Polizisten warten lassen konnte, bis die Pastete, die der Wirt des Hotels gerade im Ofen hatte, fertiggebacken war. Es war ihre Lieblingspastete, und sie wollte sie mitnehmen. Der Polizist kapitulierte knurrend, da sie sich glatt weigerte, vorher zu gehen. Die Flies scheuten davor zurück, jemand mit Gewalt in den Polizeiwagen zu schleppen. Helen vergaß nicht einmal, ein Paket Papierservietten mitzunehmen.

Am folgenden Tag wurden wir verladen nach den Pyrenäen. Die trostlose und erregende Odyssee von Angst, Komik, Flucht, Bürokratie, Verzweiflung und Liebe begann."

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„Es mag sein, daß unsere Zeit einmal die der Ironie genannt wird", sagte Schwarz. „Natürlich nicht die der geistvollen des achtzehnten Jahrhunderts, sondern die der unfreiwilligen und allenfalls bösartigen oder dummen unseres plumpen Zeitalters des Fortschritts in der Technik und des Rückschritts in der Kultur. Hitler schreit es nicht nur in die Welt hinaus, sondern er glaubt es auch selbst, daß er ein Apostel des Friedens sei und daß die andern ihm den Krieg aufgezwungen haben. Mit ihm glauben das fünfzig Millionen Deutsche. Daß nur sie allein durch viele Jahre gerüstet haben, während keine andere Nation auf den Krieg vorbereitet war, ändert nichts an ihrer Auffassung. So war es auch nicht verwunderlich, daß wir, die den deutschen Lagern entkommen waren, nun in französischen landeten. Man konnte nicht einmal viel dagegen sagen — eine Nation, die um ihr Leben kämpft, hat Wichtigeres zu tun, als jedem Emigranten volle Gerechtigkeit zu erweisen. Wir wurden nicht gefoltert, nicht vergast und nicht erschossen, nur eingesperrt; was mehr konnten wir verlangen?" „Wann haben Sie Ihre Frau wiedergetroffen?" fragte ich.

„Es dauerte lange. Waren Sie in Le Vernet?" „Nein; aber ich weiß, daß es eines der schlimmsten französischen Lager war."

Schwarz lächelte ironisch. „Das ist eine Sache von Graden. Kennen Sie die Geschichte von den Krebsen, die in einen Kessel mit kaltem Wasser geworfen wurden, um darin gekocht zu werden? Als das Wasser fünfzig Grad heiß war, schrien sie, es sei nicht zum Aushalten, und jammerten nach der schönen Zeit, als es nur vierzig Grad warm war; als es sechzig war, jammerten sie nach der guten Zeit, als es nur fünfzig war, dann, bei siebzig, nach der von sechzig — und so fort. — Le Vernet war tausendmal besser als das beste deutsche Konzentrationslager; ebenso wie ein Konzentrationslager ohne Gaskammern besser ist als eines mit Giftgasanlagen — so kann man die Krebsparabel in unsere Zeit übertragen."

Ich nickte. „Was geschah mit Ihnen?"

„Es wurde bald kalt. Wir hatten natürlich nicht genug Decken und keine Kohlen. Die übliche Schlamperei; aber Kummer ist schwerer zu ertragen, wenn man friert. Ich will Sie nicht langweilen mit der Schilderung des Winters im Lager. Ironie ist da billig. Hätten Helen und ich zugegeben, wir wären Nazis, so wäre es uns besser ergangen — wir wären in Speziallager gebracht worden. Während wir hungerten und froren und Diarrhöe hatten, sah ich in den Zeitungen Photos der internierten deutschen Gefangenen, die keine Emigranten waren; sie hatten Messer und Gabeln, Stühle und Tische, Betten, Decken, ja sogar einen eigenen Eßraum. Die Zeitungen waren stolz darauf, wie anständig man die Feinde behandelte. Mit uns brauchte man nicht so vorsichtig zu sein; wir waren nicht gefährlich.

Ich lebte mich ein. Ich schaltete den Begriff Gerechtigkeit aus, so wie Helen es mir geraten hatte. Abend für Abend, nach der Arbeit, saß ich in meinem Teil der Baracke. Ich hatte etwas Stroh, einen Meter breit und zwei Meter lang, als meinen Platz zugewiesen bekommen und trainierte mich, diese Zeit als einen Übergang zu betrachten, der nichts mit meinem Selbst zu tun hatte. Dinge geschahen, und ich hatte wie ein geschicktes Tier darauf zu reagieren. Kummer konnte ebenso töten wie Dysenterie, und Gerechtigkeit war ein Luxus für ruhige Zeiten."

„Glaubten Sie das wirklich?" fragte ich. „Nein", erwiderte Schwarz. „Ich mußte es mir von Stunde zu Stunde neu einhämmern. Es war die kleine Ungerechtigkeit, über die man sich am schwierigsten hinwegtäuschen konnte. Nicht die große. Man mußte sich immer wieder über die kleine, alltägliche, die um das kleinere Stück Brot, die schwerere Arbeit, hinwegsetzen, um in der Erbitterung darüber nicht die große zu verlieren."

„Sie lebten also wie ein geschicktes Tier?" „Ich lebte so, bis der erste Brief von Helen kam", sagte Schwarz. „Er kam nach zwei Monaten über die Adresse unseres Hoteliers in Paris. Das war so, als ob in einem stickigen dunklen Raum ein Fenster aufgerissen wird. Das Leben ist zwar auf der anderen Seite, aber es ist wieder da. Die Briefe kamen unregelmäßig; manchmal keine für Wochen. Es war sonderbar, wie sie das Bild Helens veränderten und bestätigten. Sie schrieb, daß es ihr gut gehe, daß sie endlich in ein Lager eingewiesen sei und in der Küche und später in der Kantine beschäftigt wäre. Sie brachte es fertig, mir zweimal ein Paket mit Lebensmitteln zu schicken, wie und durch welche Tricks und Bestechungen, weiß ich nicht. Gleichzeitig begann aus den Briefen ein anderes Gesicht mich anzusehen. Wie viel davon der Abwesenheit, meinen eigenen Wünschen und der Fälschung durch die Phantasie zuzuschreiben war, weiß ich nicht. Sie wissen, wie alles sich vergrößert, fast ins Unwirkliche, wenn man gefangen ist und nichts hat als ein paar Briefe. Ein unbeabsichtigter Satz, der nichts bedeutet, wenn er unter anderen Umständen geschrieben wird, kann zum Blitz werden, der einem das Dasein zerstört; und ebenso kann ein zweiter einem für Wochen Wärme geben, obschon er ebenso unbeabsichtigt war wie der erste. Man grübelt über Dinge für Monate, die der andere schon vergessen hatte, als er den Brief zuklebte. Irgendwann kam auch eine Photographie; Helen stand vor ihrer Baracke mit einer anderen Frau und einem Mann. Sie schrieb, es seien Franzosen, die zur Lageraufsicht gehörten."

Schwarz blickte auf. „Wie ich das Gesicht des Mannes studiert habe! Ich lieh mir ein Vergrößerungsglas von einem Uhrmacher aus. Ich verstand nicht, warum Helen das Bild geschickt hätte. Sie selbst hatte sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Oder doch? Ich weiß es nicht. Kennen Sie so etwas?"

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