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Ich nahm einen mächtigen Schluck und gab ihr die Flasche zurück. „Ich habe sogar ein Glas", sagte sie. „Wir wollen die Zivilisation aufrechterhalten, solange wir können."

Sie füllte das Glas und trank. „Du riechst nach Sommer und Freiheit", sagte ich. „Wie ist es draußen?" „Wie im Frieden. Die Cafes sind voll. Der Himmel ist blau,"

Sie blickte auf die Reihe der Polizisten auf dem Podium und lachte. „Es sieht hier aus wie in einer Schießbude. Als könnte man auf die Figuren da oben feuern, und wenn sie umkippten, bekäme man eine Flasche Wein als Preis oder einen Aschenbecher."

„Hier haben die Figuren die Gewehre."

Helen holte eine Pastete aus dem Korb. „Vom Wirt", sagte sie. „Mit vielen Grüßen und dem Spruch: La guerre, merde! Es ist eine Geflügelpastete. Ich habe auch Gabeln und ein Messer. Noch einmal: Es lebe die Zivilisation!"

Ich war plötzlich heiter. Helen war da, nichts war verloren. Der Krieg hatte noch nicht begonnen, und vielleicht stimmte es, daß man uns bald freilassen würde.

Am nächsten Abend wußten wir, daß man uns trennen würde. Ich würde ins Sammellager in Colombes gebracht werden, Helen ins Gefängnis, La petite Roquette". Es hätte uns nichts genützt, wenn man uns geglaubt hätte, daß wir verheiratet waren. Auch Ehepaare wurden getrennt.

Wir saßen die Nacht durch im Keller. Ein barmherziger Wächter erlaubte es uns. Jemand hatte ein paar Kerzen mitgebracht. Ein Teil von uns war schon abtransportiert worden; wir waren noch ungefähr hundert Menschen. Auch spanische Emigranten waren dabei. Man hatte sie ebenfalls verhaftet. Der Eifer, mit dem die Antifaschisten in einem antifaschistischen Lande eingefangen wurden, war nicht ohne Ironie; man hätte glauben können, man wäre in Deutschland.

„Warum trennen sie uns?" fragte Helen.

„Ich weiß es nicht. Aus Stupidität; nicht aus Grausamkeit."

„Wenn Männer und Frauen im selben Lager wären, gäbe es nichts als Eifersucht und Krach", belehrte mich ein kleiner, alter Spanier. „Deshalb werden Sie getrennt. C'est la guerre!"

Helen schlief in ihrem Leopardenmantel neben mir. Es waren ein paar bequeme, gepolsterte Bänke da, aber sie wurden für vier oder fünf alte Frauen frei gemacht, die für diese Nacht auch hier untergebracht worden waren. Eine von ihnen bot Helen die Stunden von drei bis fünf zum Schlafen an; sie lehnte ab. „Ich kann später noch genug allein schlafen", sagte sie.

Es war eine seltsame Nacht. Die Stimmen verstummten allmählich. Das Weinen der alten Frauen hörte auf; nur manchmal, wenn sie erwachten, schluchzten sie und fielen dann wieder zurück in den Schlaf wie in schwarze Wolle, die sie erstickte. Die Kerzen verlöschten allmählich. Helen schlief an meiner Schulter. Sie legte im Schlaf die Arme um mich, und wenn sie erwachte, flüsterte sie mir Worte zu, die manchmal die eines Kindes und dann die einer Geliebten waren — Worte, die man am Tage nicht sagt und die man in einem geordneten Leben auch nachts selten sagt — es waren Worte der Not und des Abschieds, Worte des Körpers, der sich nicht trennen will, Worte der Haut, des Blutes und der Klage, der ältesten Klage der Welt: daß man nicht beieinander bleiben kann, daß einer immer der erste ist, der gehen muß, und daß der Tod jede Sekunde an unserer Hand zerrt, nicht stehenzubleiben, wenn wir doch müde sind und wenigstens eine Stunde die Illusion der Ewigkeit haben möchten. Später glitt sie langsam an meiner Brust entlang auf meine Knie. Ich hielt ihren Kopf in meinen Händen und sah sie atmen im Licht der letzten Kerze.

Ich hörte Männer aufstehen und zwischen den Kohlenhaufen tappen, um vorsichtig zu urinieren. Das schwache Licht flackerte, und Schatten huschten übergroß umher, als wären wir in einem Geisterdschungel und Helen wäre der flüchtige Leopard, den die Zauberer mit ihren Beschwörungen suchten. Dann erlosch das letzte Licht, und nur noch die stickige, schnarchende Dunkelheit war da. Ich fühlte Helen unter meinen Händen atmen. Einmal fuhr sie mit einem kleinen, hohen Schrei auf. „Ich bin da", flüsterte ich. „Erschrecke nicht. Alles ist wie vorher."

Sie legte sich zurück und küßte meine Hände. „Ja, du bist da", murmelte sie. „Du mußt immer dableiben."

„Ich bleibe immer da", flüsterte ich. „Und wenn wir auch für kurze Zeit getrennt werden, ich werde dich immer wiederfinden."

„Du wirst kommen?" murmelte sie, schon wieder im Schlaf.

„Ich werde immer kommen. Immer! Wo du auch sein magst, ich werde dich finden. So wie ich dich das letztemal gefunden habe."

„Gut", seufzte sie und drehte das Gesicht so, daß es in meinen Händen wie in einer Schale ruhte. Ich saß und schlief nicht. Ab und zu fühlte ich ihre Lippen an meinen Fingern, und einmal glaubte ich, Tränen zu spüren; aber ich sagte nichts. Ich liebte sie sehr und glaubte, ich hätte sie nie mehr geliebt, auch wenn ich sie besaß, als in dieser schmutzigen Nacht mit den Geräuschen des Schnarchens und dem sonderbar zischenden Laut, den Urin macht, wenn er auf Kohlen fällt. Ich war sehr still, und mein Selbst war ausgelöscht von Liebe. Dann kam der Morgen, das fahle frühe Grau, das jede Farbe stiehlt und das Skelett unter der Haut sichtbar macht, und mir war plötzlich, als läge Helen im Sterben und ich müßte sie wecken und halten. Sie erwachte und öffnete ein Auge. „Glaubst du, daß wir heißen Kaffee und Croissants bekommen können?" fragte sie.

„Ich werde versuchen, einen Wärter zu bestechen", sagte ich sehr glücklich.

Helen öffnete das zweite Auge und betrachtete mich, „Was ist passiert?" fragte sie. „Du siehst aus, als hätten wir das Große Los gewonnen. Werden wir freigelassen?"

„Nein", erwiderte ich. „Ich habe mir mich selbst freigelassen."

Sie bewegte schläfrig den Kopf in meinen Händen. „Kannst du dich selbst nicht einmal eine Zeitlang in Ruhe lassen?"

„Ja", sagte ich. „Ich werde es sogar müssen. Für lange Zeit sogar, fürchte ich. Ich werde nicht mehr viel Gelegenheit haben, selbst Entscheidungen zu treffen. Wenn man es so ansieht, ist das auch ein Trost."

„Alles ist ein Trost", erwiderte Helen und gähnte. „Solange wir leben, ist alles ein Trost, weißt du das noch nicht? Glaubst du, daß sie uns als Spione erschießen werden?"

„Nein. Sie werden uns einsperren."

„Sperren sie auch die Emigranten ein, die sie nicht für Spione halten?"

„Ja. Sie werden alle einsperren, die sie finden. Die Männer haben sie ja schon geholt."

Helen richtete sich halb auf. „Wo ist dann der Unterschied?"

„Vielleicht kommen die andern leichter frei."

„Das weiß man noch nicht. Vielleicht wird man uns besser behandeln, gerade weil man glaubt, wir wären Spione."

„Das ist Unsinn, Helen."

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist kein Unsinn. Das ist Erfahrung. Weißt du noch nicht, daß Unschuld in unserem Jahrhundert ein Verbrechen ist, das immer am schwersten bestraft wird? Mußt du in zwei Ländern eingesperrt werden, um das zu begreifen? Ach, du Gerechtigkeitsträumer! Ist noch Cognac da?"

„Cognac und Pastete."

„Gib mir beides", sagte Helen. „Es ist ein ungewöhnliches Frühstück; aber ich fürchte, wir haben noch ein abenteuerliches Leben vor uns!"

„Gut, daß du es so auffaßt", erwiderte ich und gab ihr den Cognac.

„Es ist die einzige Art, es aufzufassen. Oder willst du an Verbitterung und Leberversäuerung sterben? Wenn du den Begriff der Gerechtigkeit ausschaltest, ist es gar nicht so schwer, es als Abenteuer zu betrachten, findest du nicht?"

Der herrliche Geruch des alten Cognacs und der guten Pastete umwehte Helen wie ein Gruß goldenen Daseins. Sie aß mit großem Genuß. „Ich wußte nicht, daß es so einfach für dich sein würde", sagte ich.

„Mach dir um mich keine Sorgen", erwiderte sie und suchte in ihrem Korb nach weißem Brot. „Ich komme schon durch. Frauen ist die Gerechtigkeit nicht ganz so wichtig wie euch." „Was ist euch wichtig?"

„Dies." Sie zeigte auf das Brot und die Flasche und die Pastete. „Iß, mein Geliebter! Wir werden uns schon durchschlagen. Und in zehn Jahren wird es ein großes Abenteuer sein, und wir werden abends unseren Gästen so oft davon erzählen, daß es jeden langweilen wird. Futtere, Mann mit dem falschen Namen! Was wir jetzt essen, brauchen wir nachher nicht zu schleppen."

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