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„Schlaftabletten?"

„Tabletten gegen Kopfschmerzen. Du mußt jetzt gehen, Georg. Ich muß sie ausschlafen."

„Tabletten sind Unsinn", erklärte Georg. „Zieh dich an und geh mit mir spazieren. Es ist wunderbar draußen. Frische Luft ist besser als alle Tabletten."

„Ich habe sie bereits genommen und muß sie ausschlafen. Ich will nicht herumlaufen."

Sie redeten eine Weile weiter. Georg wollte Helen später abholen, aber sie weigerte sich. Er fragte, ob sie genug zu essen im Hause habe. Ja, sie habe zu essen. Wo das Mädchen sei? Das Mädchen habe seinen freien Nachmittag, es komme zurück, das Abendessen zu machen.

„Es ist also alles in Ordnung?" fragte Georg.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein?"

„Nun, ich meine nur! Man macht sich oft unnütze Gedanken. Schließlich..."

„Was, schließlich?" fragte Helen scharf.

„Nun, damals..."

„Was, damals?"

„Du hast recht", sagte Georg. „Wozu darüber reden? Wenn alles in Ordnung ist, ist alles in Ordnung. Ich bin schließlich dein Bruder, da fragt man mal..."

„Ja."

„Was?"

„Du bist mein Bruder."

„Ich wollte, du verständest das besser. Ich meine es gut mit dir!"

„Ja, ja", sagte Helen ungeduldig. „Du hast mir das schon oft erklärt."

„Was hast du nur heute? Du bist doch sonst anders."

„Ja?"

„Vernünftiger, meine ich. Wenn der alte Kram jetzt wieder losgeht..."

„Nichts geht los. Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles! Und ich hasse es, konlrolliert zu werden."

„Niemand kontrolliert dich! Ich bin nur besorgt um dich."

„Sorge dich nicht. Mir fehlt nichts."

„Das sagst du immer. Damals..."

„Wir wollen nicht von damals sprechen", sagte Helen schroff.

„Natürlich nicht! Ich schon bestimmt nicht. Bist du beim Arzt gewesen?"

„Ja", erwiderte Helen nach einem Augenblick.

„Was sagt er?"

„Nichts."

„Er muß doch etwas sagen."

„Er sagt, ich solle mich ausruhen", sagte Helen ärgerlich. „Ich solle schlafen, wenn ich müde sei und Kopfschmerzen habe, und mich nicht streiten und auch nicht um Erlaubnis fragen, ob es mit meinen Pflichten als Volksgenossin und Bürgerin des glorreichen Tausendjährigen Reiches vereinbar wäre." „Hat er das gesagt?"

„Nein, er hat das nicht gesagt", erwiderte Helen laut und schnell. „Ich habe das hinzugefügt! Er hat mir nur gesagt, mich nicht unnötig aufzuregen! Er hat also kein Verbrechen begangen und braucht in kein Konzentrationslager gebracht zu werden. Er ist ein aufrechter Anhänger der Regierung. Ist das genug?"

Georg murmelte etwas. Ich nahm an, daß er sich zum Gehen anschickte, und da ich gelernt hatte, daß das ein riskanter Augenblick ist, weil Unvorhergesehenes passieren kann, zog ich die Schranktür bis auf einen kleinen Spalt hinter mir zu. Gleich darauf hörte ich ihn in das Schlafzimmer kommen. Ich sah seinen Schatten durch den schmalen Spalt Licht gleiten und hörte, wie er ins Badezimmer ging. Mir schien, als käme Helen auch herein, aber ich sah sie nicht. Ich schloß die Schranktür ganz und stand nun im Dunkeln, das Papiermesser fest an mich gedrückt, zwischen den Kleidern Helens.

Ich wußte, daß Georg mich nicht entdeckt hatte, und ich wußte, daß er wahrscheinlich aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer zurückgehen und sich verabschieden würde; trotzdem spürte ich die Enge im Halse, während zur selben Zeit der Schweiß von den Achselhöhlen am Körper heruntersickerte. Es ist anders mit der Angst vor dem Unbekannten als mit der vor etwas, was man kennt. Wenn es unbekannt ist, mag es gefährlich erscheinen, aber es ist unbestimmt, und man kann die Angst mit Disziplin oder sogar mit Tricks kontrollieren. Wenn man aber weiß, was einem bevorsteht, ist nicht viel mit Disziplin oder psychologischem Salto mortale anzufangen. Die erste Angst hatte ich gekannt, bevor ich ins Konzentrationslager gebracht worden war; die zweite spürte ich jetzt, nachdem ich wußte, was mich im Lager erwartete, wenn ich wieder eingeliefert würde.

Es war sonderbar, daß ich mir all die Zeit, seit ich die Grenze Überschriften hatte, nie Rechenschaft darüber gegeben hatte und auch nicht hatte geben wollen. Es hätte mich aufgehalten, und etwas in mir wollte nicht aufgehalten werden. Dazu kam, daß unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen. Es versucht, das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens. Sie kennen das?"

„Ja, ich kenne es", erwiderte ich. „Aber es ist kein Vergessen; es ist eine Art Halbschlaf. Ein Stoß genügt, und alles ist wieder hellwach."

Schwarz nickte. „Ich stand in der dunklen, parfümierten Enge des Mauerverlieses, zwischen Kleidern, eingeengt von ihnen wie von den weichen Flügeln riesiger Fledermäuse, regungslos, und atmete flach und oberflächlich, um zu vermeiden, daß die Seide raschelte oder daß ich husten oder niesen müßte. Ich begriff zum ersten Male voll, was ich getan hatte. Die Angst stieg aus dem Boden wie ein schwarzes Gas, und ich hatte Furcht zu ersticken. Mir selber war im Lager nicht das Schlimmste passiert; ich war in der üblichen Weise schlecht behandelt worden, aber man hatte mich wieder entlassen, und vielleicht hatte das dazu beigetragen, meine Erinnerung zu trüben. Jetzt aber stand plötzlich das wieder vor mir, was ich gesehen hatte, das, was anderen passiert war und wovon ich gehört und Zeichen gesehen hatte — und ich begriff den Irrsinn und die Verwimheit nicht, die mich dazu gebracht hatten, so gesegnete Länder zu verlassen, in denen ich für die Tatsache meiner Existenz nur mit Gefängnis und Ausweisung bestraft wurde. Sie schienen mir jetzt Häfen der Humanität zu sein.

Ich hörte Georg nebenan im Badezimmer. Die Wand war dünn, und Georg, als echter Herrenmensch, war nicht leise. Er warf den Deckel der Toilette mit einem Knall zurück und verrichtete sein Bedürfnis. Daß ich seinem Urinieren zuhören mußte, erschien mir später als der Gipfel der Beschämung, obschon es mir zeigte, daß er sorglos war und keinen Verdacht hatte. Es erinnerte mich an Fälle von Diebstahl und Raub, wenn die Verbrecher, bevor sie fliehen, noch die Wohnungen beschmutzen, teils aus Hohn und teils aus Scham, weil der Drang dazu vorher ein Zeichen ihrer eigenen Angst gewesen ist.

Ich hörte die Wasserspülung rauschen, und ich hörte Georg flott und stramm das Badezimmer verlassen und durch das Schlafzimmer marschieren. Dann kam das gedämpfte Klappen der Korridortür, die Schranktür wurde aufgerissen, und Licht und die dunkle Silhouette Helens vor dem Licht waren da. „Er ist fort", flüsterte sie.

Ich trat hinaus, als wäre ich, in einem fernen Vergleich, ein Achill, erwischt in Frauenkleidern. Der Wechsel von Angst zu Lächerlichkeit und Verlegenheit war so rasch, daß alle drei ineinander übergingen und zu gleicher Zeit da waren. Ich war gewohnt, daß sie rasch kamen und gingen; aber es ist ein Unterschied, ob der jähe Griff nach der Kehle eine Ausweisung oder den Tod bedeutet.

„Du mußt fort", flüsterte Helen.

Ich blickte sie an. Ich weiß nicht, warum ich etwas wie Verachtung auf ihrem Gesicht erwartet hatte; es mußte damit zusammenhängen, daß ich mich selbst, eine Minute nachdem die Gefahr vorbei war, als Mann beschämt fand, etwas, was mir mit jemand anderem als Helen nie passiert wäre.

Ihr Gesicht zeigte nichts als nackte Angst. „Du mußt fort", wiederholte sie. „Es war Irrsinn, daß du hergekommen bist!"

Obschon ich das vor einem Augenblick selbst gedacht hatte, schüttelte ich den Kopf. „Jetzt nicht", sagte ich. „In einer Stunde. Es kann sein, daß er sich noch auf der Straße herumtreibt. Kann er wiederkommen?"

„Ich glaube, nicht. Er vermutet nichts."

Helen ging ins Wohnzimmer, drehte die Lampe ab, öffnete die Vorhänge und spähte hinaus. Das Licht vom Schlafzimmer fiel in einem goldenen Rhomboid durch die offene Tür auf den Boden. Sie stand dahinter, vorgebeugt und angespannt, als beobachte sie ein Wild. „Du darfst nicht zum Bahnhof gehen", flüsterte sie. „Man könnte dich erkennen. Aber du mußt fort! Ich werde mir Ellas Wagen leihen und dich nach Münster bringen. Was für Narren wir gewesen sind! Du darfst nicht hier bleiben!"

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