Bolitho schritt zu den offenen Heckfenstern. Das war es also. Eigentlich hätte er es voraussehen müssen. Allday ging nach wie vor leicht gekrümmt, als hindere ihn die tiefe Wunde daran, sich aufzurichten.
Leise fuhr Allday fort:»Für einen Admiral wäre ich ein trauriger Bootsführer, deshalb wollte ich.»
Bolitho unterbrach ihn.»Niemand, den ich kenne, hat sich das bequeme Leben an Land so ehrlich verdient wie du. In Falmouth wartet Arbeit auf dich, aber das weißt du längst.»
«Ja, und ich danke Ihnen dafür, Sir. Aber das allein ist es nicht. «Allday sah auf den Säbel nieder.»Sie brauchen mich nicht mehr. Nicht dafür.»
Bolitho nahm ihm den Säbel aus den Händen und legte ihn auf den Tisch.»Wofür? Bloß weil du im Moment etwas wacklig auf den Beinen bist? Glaub mir, binnen kurzem bist du wieder der alte rebellische Haudegen. «Er legte ihm die Hand auf die Schulter.»Ich werde nie ohne dich segeln, es sei denn, du willst nicht mitkommen. Mein Wort darauf.»
Allday stand auf und unterdrückte eine Grimasse, als ihn ein stechender Schmerz durchfuhr.»Dann ist das also geregelt, Sir.»
Schleppenden Schrittes verließ er die Kajüte.
Alldays Entschlossenheit und Stolz waren ungebrochen, dachte Bo-litho traurig. Und er lebte, das war die Hauptsache.
Später am Tag, als sich die Sonne schon der glatten See zuneigte, trat Bolitho in die Offiziersmesse; nach der Geräumigkeit seiner Kajüte und der Keens kam sie ihm eng und überfüllt vor.
Steif machte Quantock Meldung:»Alle Offiziere und Decksoffiziere wie befohlen zugegen, Sir.»
Bolitho nickte. Quantock war ein kalter Fisch, den auch das Gefecht nicht menschlicher gemacht hatte.
Als Adam die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte der Vizeadmiral:»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren, und Dank für die Einladung. «Der alte Brauch amüsierte ihn immer wieder. In der Offiziersmesse war jeder Vorgesetzte, sogar Keen, lediglich ein geduldeter Gast. Aber hatte man wirklich jemals einem Vorgesetzten den Eintritt verwehrt? fragte er sich.
Er musterte die erwartungsvollen Gesichter. Sonnengebräunt und zuverlässig. Selbst die Kadetten und Fähnriche, die sich ganz achtern um den Ruderschaft drängten, machten den Eindruck von Männern, nicht mehr von Jungen. Die Leutnants und die beiden Anführer der Marinesoldaten, der mönchshafte Segelmaster Knocker und der Schiffsarzt Tuson — er hatte sie kennen und verstehen gelernt, seit seine Flagge im Vortopp gehißt worden war.
Bolitho begann:»Sie wissen inzwischen, daß die Kurierbrigg aus England auch Depeschen für uns an Bord hatte. Ihre Lordschaften haben sich mit den Berichten aus San Felipe eingehend beschäftigt und sind sich der wichtigen Rolle bewußt, die Ihrem Einsatz bei dieser schwierigen Mission zukommt.»
Er sah, wie Mountsteven seinen Freund, den Sechsten Offizier, anstieß.
«Weiterhin hat man mich unterrichtet, daß Frankreichs Einmischung im Mittelmeer und der Druck, den es auf die Regierung Seiner Majestät wegen der Evakuierung Maltas ausübt — einer Vereinbarung in eben jenem Vertrag, der uns zur Übergabe dieser Insel hier zwang — , daß all dies weitere Verhandlungen verhindert. Als unmittelbare Folge daraus werden alle französischen und holländischen Kolonien, in deren Rückgabe wir eingewilligt hatten, in britischem Besitz bleiben. Und das, meine Herren, gilt natürlich auch für San Felipe.»
Bolitho konnte es immer noch nicht ganz glauben. Es fiel schwer, hinter den abgewogenen Formulierungen der Depeschen die komplizierten Verhandlungen zu sehen, die überall in Europa stattgefunden hatten, während die Crew von Achates um ihr Überleben kämpfte.
Bonaparte, jetzt auf Lebenszeit zum Konsul ernannt, hatte Piemont und Elba annektiert und machte keinen Hehl aus seiner Absicht, Malta wieder in Besitz zu nehmen, sobald England dort seine Flagge zugunsten einer scheinbaren Unabhängigkeit der Insel gestrichen hatte.
Mit dem Begreifen ging eine Welle der Erregung durch die Messe. Das war das Ende des Friedens von Amiens, dachte Bolitho. Er hatte kaum so lange gewährt, wie die Unterschriften zum Trocknen brauchten.
Er fuhr fort:»Wir haben Befehl, auf San Felipe zu bleiben, bis entsprechende Streitkräfte aus Antigua und Jamaika eintreffen, um die Inselgarnison zu verstärken. «Und in Keens Richtung, der den Blick abwandte, weil er offenbar ahnte, was nun kam:»Der augenblickliche Gouverneur wird so schnell wie möglich abgelöst. Sir Humphrey Rivers kehrt nach England zurück, um sich vor Gericht wegen Hochverrats zu verantworten.»
Es bereitete Bolitho keine Genugtuung, sich vorzustellen, wie Rivers nach seinem Leben in Luxus und Reichtum die Heimkehr auf einem Kriegsschiff schmecken würde, dem ersten halbwegs geeigneten, das die Insel Richtung England verließ. Und nach dieser unerwarteten politischen Entwicklung erwartete ihn wahrscheinlich der Strick des Henkers.
Bolitho blickte von einem Gesicht zum anderen und schloß:»Sie alle haben sich äußerst tapfer geschlagen, und ich möchte Sie bitten, auch der Mannschaft meinen Dank zu übermitteln.»
Keen sah Bolitho zum erstenmal seit langem lächeln.»Und wenn alles geregelt ist«, setzte ihr Vizeadmiral hinzu,»fahren wir heim.»
Das brachte sie auf die Beine; sie lachten und schrien durcheinander wie Schuljungen.
Keen hielt die Tür auf, damit sich Bolitho unauffällig zurückziehen konnte. Er hatte zwei Briefe von Belinda erhalten und nun endlich Zeit, sie in Ruhe noch einmal von Anfang bis Ende zu lesen.
Als Keen und Adam ihm die Treppe hinauf folgten, fragte der Kommandant:»Bedeutet das Krieg, Sir?»
Bolitho dachte an die jungen, jubelnden Gesichter, die er gerade verlassen hatte, und auch an Quantocks säuerliche Mißbilligung.
«Für mich gibt es daran kaum noch Zweifel, Val«, antwortete er.
Keen sah sich im Halbdunkel um, als müsse er sein Schiff sogleich gefechtsklar machen.»Herr im Himmel, Sir, wir haben uns vom letzten noch kaum erholt!»
Als sich Bolitho der rotuniformierten Wache vor seiner Kajüte zuwandte, hörte er Alldays neuerdings so schleppenden Schritt hinter der Tür.»Manche werden sich nie mehr erholen«, sagte er.»Für sie ist es zu spät.»
Keen seufzte und sagte zu Adam:»Kommen Sie mit, Mr. Bolitho, wir trinken einen Schluck. Zweifellos werden Sie ein eigenes Schiff befehligen, wenn es zum Krieg kommt. «Er lächelte schief.»Erst dann werden Sie merken, wie hart das Leben sein kann.»
In seiner großen Achterkajüte machte Bolitho es sich bequem und entfaltete den ersten Brief.
Es ging heimwärts. Seine Leute wären überrascht gewesen zu hören, daß diese Worte für ihren Vizeadmiral genausoviel bedeuteten wie für sie selbst.
Und dann glaubte er, ihre sanfte Stimme aus den Zeilen sprechen zu hören, als er las: Mein geliebter Richard…
«Sorgen Sie dafür, Yovell, daß diese Briefe mit den anderen an Bord der Kurierbrigg gebracht werden.»
Bolitho lauschte dem Knarren der Taljen, das durchs Oberlicht hereindrang, dem Getrappel vieler Füße, als wieder ein Netz mit frischem Proviant über das Schanzkleid gehievt wurde.
Nach dem monatelangen Warten fiel es immer noch schwer zu glauben, daß der Augenblick des Aufbruchs für sie gekommen war. Obwohl sie wirklich keine Zeit zur Muße gefunden hatten.
Eine schnittige Fregatte und zwei Mörserboote lagen nun unterhalb der Batterie vor Anker, und ein großer Truppentransporter hatte die versprochene Verstärkung für die Garnison gebracht. Bolitho mußte lächeln, als ihm einfiel, wie Lemoine seine Ablösung durch einen Obersten kommentiert hatte.
«Und dabei habe ich gerade Geschmack an der Macht gefunden«, hatte der Leutnant gesagt.
Bolitho hörte Alldays Schritt in der Pantry und blickte auf, um ihn zu begrüßen. Allday hatte große Fortschritte gemacht und sogar wieder etwas Farbe gewonnen, aber er konnte die Schultern immer noch nicht gerade halten, und der blaue Rock mit den Goldknöpfen hing lose um seine mächtige Gestalt.