Inch wollte schon protestieren, klappte den Mund aber wieder zu, als er Bolitho nicken sah.
«Das ist richtig. So verkürzen wir die Anfahrt um eine Stunde, und wenn wir Glück haben, mogeln wir uns mit einer Meile Abstand an den französischen Kriegsschiffen vorbei. «Bolitho sah Inch an.»Sie wollten etwas sagen?»
«Der Wind ist nicht nur für uns ungünstig, Sir. «Inch zuckte hilflos die Schultern.»Er hält auch den Rest des Geschwaders auf.»
«Das weiß ich.»
Von oben erklang gedämpftes Fußgetrappel, das Scharren und Knirschen und Poltern, mit dem Zwischenwände gelegt und andere Hindernisse beseitigt oder ins Orlopdeck hinuntergelassen wurden. Ein Kriegsschiff im Gefecht brauchte Decks, die vom Bug bis zum Heck freigeräumt waren; wo Männer gewohnt, gegessen, gehofft, geschlafen und geübt hatten, gehörte der Platz jetzt den Kanonen. Die Zeit der Prüfung war für alle gekommen.
«Schiff ist klar zum Gefecht, Sir!«rief der Erste Offizier.
Inch warf einen Blick auf seine Taschenuhr und strahlte.»Neun Minuten, Mr. Graham. Das ist eine gute Zeit.»
Plötzliche Trauer überfiel Bolitho, und er mußte sich abwenden. Genauso hatte auch Neale sich benommen.
Aber dann sagte er zu Inch:»Wenn wir uns verspäten, könnten wir in Grund und Boden geschossen werden. Ob Kommodore Herrick nun rechtzeitig zu unserer Unterstützung eintrifft oder nicht, wir müssen auf jeden Fall zwischen diese Landungsboote gelangen. «Er sah Inch fest an.»Nur das zählt, sonst nichts.»
Überraschenderweise schien Inch das zu freuen.»Ich weiß, Sir«, strahlte er.»Und Odin ist dafür genau das richtige Schiff.»
Bolitho mußte lächeln; dieser zuverlässige, vertrauenswürdige Mann würde niemals einen seiner Befehle in Frage stellen.
Die Tür ging auf, und Midshipman Stirling quetschte sich in den Kartenraum. Selbst im schwachen Laternenlicht fiel auf, daß er müde aussah und seine Augen rotgeädert waren.
«Bitte um Entschuldigung für meine Verspätung, Sir«, stotterte er.
«Ich habe verlernt, so tief zu schlafen«, meinte Bolitho, an Inch gewandt.
Inch wandte sich zum Gehen.»Ich lasse das Nachtsignal an Phalarope absetzen, Sir. Hoffentlich ist sie bei Tagesanbruch auch wirklich noch da!»
Bolitho beugte sich über die Seekarte und studierte die sauber geschriebenen Kursangaben und — linien. Gewiß, sein Plan barg ein großes Risiko. Aber schließlich war das immer so gewesen.
Selbst jetzt noch konnte sich alles gegen sie verschwören, ehe sie überhaupt in Landnähe kamen. Ein einsamer Fischer mochte es mit dem Wetter und dem Zorn einer französischen Patrouille aufnehmen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und zufällig das abgeblendete Lichtsignal sehen, das jetzt an Phalarope gegeben wurde.
«Verdammt noch mal!«explodierte Bolitho.»Der Zweifel bringt mehr Seeleute um als der Feind!»
Stirling warf hastig einen Blick in die Runde. Inch und der Master hatten den Kartenraum verlassen, der Admiral sprach mit ihm.
Unsicher fragte er:»Könnten die Franzosen uns noch daran hindern, in die Bucht einzulaufen, Sir?»
Erstaunt sah Bolitho ihn an; ihm war nicht klar gewesen, daß er laut gesprochen hatte.
«Sie können es jedenfalls versuchen, Mr. Stirling. «In einem plötzlichen Einfall gab er dem Jungen einen Klaps auf die Schulter.»Kommen Sie, begleiten Sie mich. Ich muß ein Gefühl für dieses Schiff bekommen.»
Stirling erglühte vor Stolz. Nicht einmal die Tatsache, daß Bo-litho unwissentlich seinen verletzten Arm gepackt hatte, konnte die Bedeutung des Augenblicks für ihn schmälern.
Allday, in dessen Gürtel jetzt ein neues Entermesser steckte, sah sie vorbeigehen und mußte trotz seiner trüben Gedanken grinsen.
Der Knabe und sein Held. Aber warum auch nicht? Es war ein Tag, an dem sie alle ihre Helden dringend brauchen würden.
«Der Wind steht durch, Sir!»
Bolitho trat zu Inch an die Querreling und spähte über das schwach erkennbare Deck nach vorn. Jenseits des Vorschiffs, das sich gerade zu drehen begann, weil die Rahen so dicht angebraßt wurden, daß sie fast mittschiffs standen, sah er nicht das geringste. Dabei war er eigens an Deck geblieben, damit seine Augen sich besser an die Dunkelheit gewöhnten, damit er sofort den ersten Schimmer des nahenden Tages bemerkte, die Trennlinie zwischen See und Himmel. Und das Land.
Das Schiff stampfte schwerfällig in der ablandigen Strömung; die Seesoldaten zurrten ihre Hängematten in den Netzen an der Reling noch einmal fester: ihre einzige Deckung und die Auflage für ihre Musketen, wenn sie später nach einem Ziel suchen würden.
Auf den Seitendecks, unter denen jede Kanone geladen und schußbereit wartete, ging ab und zu eine Gestalt hin und her. Andere enterten auf, um die Kettenschlingen um die Rahen und die schützenden Netze ein letztes Mal zu trimmen, um noch einen Sack mit Schrotkugeln für die Drehbassen im Krähennest hochzuhieven oder um eine letzte durchgescheuerte Leine zu spleißen.
Bolitho hörte und sah das alles. Und was er nicht sehen konnte, vermochte er sich leicht auszumalen. Wie all die Male zuvor spürte er Spannung, die ihm wie mit stählernem Griff das Herz zusammenpreßte, und die Furcht, doch noch irgend etwas übersehen zu haben.
Das Schiff hielt sich hervorragend. Inch hatte sich als ausgezeichneter Kommandant erwiesen, und Bolitho mochte es selbst nicht glauben, daß er ihm vor langer Zeit nicht mehr als das Leutnantspatent zugetraut hatte. Bolitho konnte es nicht verhindern, daß seine Gedanken abschweiften. Zu dem jungen Travers unten auf dem Batteriedeck, der nach ihrer Rückkehr Hochzeit halten wollte; jetzt wartete er wie alle seine Männer darauf, daß sich die Stückpforten in ihrem rot angestrichenen Höllenloch öffneten und die Kanonen zu brüllen begannen. Und Inch, der mit wehenden Rockschößen auf dem Achterdeck hin und her marschierte, während er
— den Hut mit kesser Schlagseite fest aufs Haupt gedrückt — mit seinem Ersten Offizier und dem Master plauderte. Inch hatte daheim in Weymouth eine Frau, Hanna, und zwei Kinder; was sollte aus ihnen werden, wenn er heute fiel? Warum bloß erfüllte es ihn mit Stolz und Freude, in ein Gefecht zu ziehen, das für sie alle das Ende bringen konnte?
Und dann Belinda. Unruhig ging Bolitho an den Finknetzen auf und ab, wobei er Stirling völlig vergaß, der sich wie ein Schatten dicht an seiner Seite hielt. Nein, an Belinda durfte er jetzt nicht denken.
Er hörte einen Mann leise sagen:»Da ist die alte Phalarope, Jim. Jeder Äppelkahn wäre mir lieber als sie!«Dann schien er Bolithos Nähe zu spüren und verstummte.
Bolitho starrte zu dem Schemen hinüber, der sich querab stampfend durch die Seen schob. Wie Odin fuhr auch sie ihre Rahen hart angebraßt, so daß die Segel eine hellere Pyramide bildeten, während der dunkle Rumpf noch mit dem Wasser verschmolz.
Zwei Schiffe und rund achthundert Offiziere, Matrosen und Soldaten, von einem einzigen Mann — ihm — in ein Gefecht auf Leben und Tod befohlen.
Bolitho blickte auf den Midshipman hinab.»Würden Sie lieber auf einer Fregatte fahren?»
Stirling dachte mit geschürzten Lippen darüber nach.»Lieber als anderswo, Sir.»
«Dann sollten Sie mal mit meinem Neffen sprechen, er. «Bo-litho brach ab, weil Stirlings Augen plötzlich aufleuchteten.
Erst jetzt folgte, scheinbar eine halbe Ewigkeit später, der dumpfe Donner einer fernen Detonation. Ein Lichtschein zuckte am Himmel auf, dann wurde alles wieder von den Geräuschen der See und des Windes verschluckt.
«Herrgott, was war das?«Inch stürmte heran, als sei Bolitho ihm eine Antwort schuldig.
Der sagte leise:»Die Sprengladung ist hochgegangen, Kapitän Inch.»
«Aber. «Inch starrte ihm in der Dunkelheit ins Gesicht.»Aber das war doch viel zu früh?»
Bolitho wandte sich ab. Ob nun zu früh oder zu spät, Browne mußte jedenfalls gute Gründe für die Zündung gehabt haben.
Bolitho merkte, daß Allday an ihn herantrat, und hob den Arm, damit er den Säbel an seinen Gürtel schnallen konnte.