Ein Mann schrie erstickt auf, als ein Vogel dicht vor seinen Füßen aufflatterte und krächzend in der Dunkelheit verschwand.
«Verdammter Mist!«fluchte Searle.
«Ruhe!«Browne preßte sich an die Mauer und erwartete, einen fragenden Anruf oder einen Schuß zu hören.
Als nichts geschah, drückte er sich entschlossen von der Wand ab und spähte an dem viereckigen normannischen Kirchturm empor, dessen Silhouette sich schwach vom Himmel abhob. Aus einem schmalen Fensterschlitz weiter oben fiel ein Lichtschimmer.
Mit Mühe zwang er seine rasenden Gedanken zur Ruhe und versuchte, sich zu erinnern, was er über diese optischen Telegraphen erfahren hatte. In England wurden sie in der Regel von vier bis fünf Männern betrieben: einem Offizier, einem Unteroffizier und zwei bis drei Seeleuten. Da dieser hier in der Nachbarschaft der Festung stand, war es wahrscheinlich, daß zumindest einige Männer der Turmbesatzung die Nacht dort verbrachten. In diesem Fall.
Browne schlich zu Searle und flüsterte:»Probieren wir die Tür.»
Der Kanonier namens Jones packte den schweren Eisenring, der als Klinke diente, und drehte ihn vorsichtig. Er quietschte, aber die Tür gab nicht nach.
«Verschlossen, Sir.»
Searle winkte einen zweiten Mann heran.»Moubray, mach den Wurfanker klar!»
Browne hielt den Atem an, als der Wurfanker nach oben flog, von der Mauer abprallte und wieder zwischen ihnen aufschlug.
Doch beim zweiten Versuch fanden seine Flunken Halt, und Browne sah einen Mann an der Leine nach oben verschwinden — so schnell, als hätte die alte Kirche ihn bei lebendigem Leibe verschluckt.
Gepreßt sagte Searle:»Tüchtiger Mann. Saß als Sträfling in Li-me House, bis die Werber ihn zu fassen kriegten.»
Wieder quietschte der Türring, und diesmal schwang die Tür auf. Im Spalt stand der Seemann und grinste breit.
«Kommt rein, hier drin ist's wärmer!»
«Nicht so laut, verdammt noch mal!«Searle spähte ins dunkle Turminnere.
«Keine Sorge, Sir. Hier ist niemand mehr. «Der Seemann schob die Blende einer Laterne hoch und hielt sie so, daß ihr Schein auf eine steinerne Wendeltreppe fiel. Auf den Stufen lag ein uniformierter Körper so verrenkt, wie er hingestürzt war; weit offene, starre Augen reflektierten das Licht.
Browne mußte schlucken. Dem Mann war die Kehle durchschnitten worden, sein Blut hatte die Wände bespritzt.
Ruhig berichtete der Seemann:»Er saß allein hier. War nicht schwerer, als einem blinden Kind die Geldbörse zu klauen.»
Searle steckte seinen Säbel in die Scheide.»Das kannst du ja beurteilen, Cooper. «Er wandte sich der Treppe zu.»Harding und Jones, macht eure Sprengladungen klar. «Dann blickte er zu Browne zurück und grinste mit schmalen Lippen.»Und wir gehen uns die Maschine ansehen, ja?»
Bolitho fuhr aus dem Schlaf hoch und packte die Armlehnen von Inchs komfortabler Chaiselongue, wo er seit Beginn der Nacht unruhig geschlummert hatte und immer wieder aufgewacht war.
Sofort fiel ihm auf, daß die Schiffsbewegungen heftiger waren und das Wasser am Rumpf lauter ablief, weil sich Odin stärker überlegte.
Bis auf den Schein einer einzelnen, halb abgeblendeten Laterne lag die Achterkajüte im Dunkeln, so daß die See vor den salzverkrusteten Fenstern drohend nahe und gierig wirkte.
Die Tür ging auf und gab Alldays Silhouette frei.
«Was ist los?«Also konnte auch Allday nicht schlafen.
«Der Wind hat gedreht, Sir.»
«Und aufgefrischt?»
«Ja. Er kommt jetzt aus Nordost. «Das klang bedrückt.
Bolitho dachte über die neue Lage nach. Mit einem Wechsel der Windrichtung hatte er gerechnet, aber daß der Wind bis Nordost herumgehen würde, war undenkbar gewesen. Für ihre heimliche Annäherung blieben ihnen nur noch einige wenige Stunden, und bei dieser Windrichtung konnten sie praktisch nur kriechen. Das bedeutete möglicherweise einen Angriff bei vollem Tageslicht dann aber wurde jedes feindliche Schiff im Umkreis vieler Meilen rechtzeitig alarmiert und konnte zum Gegenangriff übergehen.
«Meine Kleider!«Bolitho erhob sich und spürte das Deck unter seinen Füßen bocken, als spotte die See seiner Pläne.
«Ozzard kommt gleich«, sagte Allday.»Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, als ich hörte, wie Sie sich herumwarfen. Diese Chaiselongue ist kein Platz zum Schlafen.»
Bolitho wartete, bis Allday die Blenden der Laterne etwas angehoben hatte. Das ganze Schiff war verdunkelt, selbst das Kombüsenfeuer gelöscht. Es hätte das Maß voll gemacht, wenn ausgerechnet aus dem Admiralsquartier der verräterische Lichtschein gekommen wäre.
Dann roch er Kaffeeduft und sah Ozzards schmächtige Gestalt auf sich zukommen.
Der Steward murmelte:»Habe mir erlaubt, noch Kaffee zu kochen, ehe das Feuer gelöscht wurde, Sir. Die Kanne habe ich in eine Decke gewickelt und warm gehalten.»
Dankbar schlürfte Bolitho den Kaffee, aber im Geiste arbeitete er schon verschiedene Alternativen aus. Umkehren konnte er nicht, selbst wenn er gewollt hätte. Browne mußte inzwischen beim Turm angekommen sein oder tot inmitten seiner Freiwilligen liegen.
Egal, was passierte, er würde den Angriff nicht abblasen, das wußte er, obwohl ihm seine vieldeutig abgefaßten Befehle bis zur letzten Minute Spielraum ließen.
Bolitho schlüpfte in seinen Rock und ging zur Tür. Das Warten konnte er keinen Augenblick länger ertragen.
An Deck überfiel ihn der Lärm; Segel knallten, Blöcke quietschten. Gestalten kamen und gingen im Finstern, und um das große Doppelrad standen der Master und seine Rudergänger wie Überlebende eines Schiffbruchs, die sich auf einem winzigen Eiland zusammendrängten.
Inchs schlacksige Gestalt eilte herbei, um den Admiral zu begrüßen.
«Guten Morgen, Sir. «Inch war kein Schauspieler und konnte seine Überraschung nicht verhehlen.»Stimmt etwas nicht?»
Bolitho nahm seinen Arm und führte ihn abseits an die Reling.»Der Wind«, sagte er.
Inch starrte ihn an.»Der Master glaubt, er wird noch weiter drehen, Sir.»
«Aha. Glaubt er das?«Der alte Grubb hätte es gewußt, dachte Bolitho, so sicher, als hätte er Gott auf seiner Seite.
Gischt wehte durch die straffen Wanten, und jenseits davon, querab, aber immer noch in Position, konnte er schwach den Umriß von Phalarope erahnen; ein Geisterschiff, in der Tat.
Bolitho biß sich auf die Lippen.»Gehen wir in den Kartenraum«, sagte er knapp. Inch und der Master folgten ihm in den abgeblendeten Raum unter der Hütte und starrten angestrengt auf die Seekarte nieder. Bolitho spürte, wie Inch gespannt auf seine Entscheidung wartete, vor allem aber spürte er das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit. Wie Sand im Stundenglas: nichts konnte sie aufhalten oder bremsen.
Er begann:»Wir können nicht länger warten. Rufen Sie alle Mann an Deck und machen Sie klar zum Gefecht. «Er wartete, bis Inch den Befehl an einen Bootsmann draußen vor der Tür weitergegeben hatte.»Sie schätzen, daß wir etwa zehn Meilen südwestlich der Landzunge stehen?»
Der Master nickte wortlos, und Bolitho sah flüchtig in ein besorgtes, aber sachkundiges Gesicht. Plötzlich fiel es ihm wieder ein: Dieser Mann hier war als Erster Steuermann eingesprungen, als der alte Master vor Kopenhagen gefallen war. Damals war er ein unbeschriebenes Blatt gewesen. Und jetzt?
Inch beugte sich vor und beobachtete, wie Bolitho den Stechzirkel über die Seekarte wandern ließ.
«Das französische Geschwader ankert vor der Landspitze hier, nördlich der Loire-Mündung. «Bolitho sprach seine Gedanken laut aus.»Wenn wir beim ursprünglichen Plan blieben, würden wir Stunden brauchen, um gegen den Wind dorthin aufzukreuzen. Aber wir müssen noch vor Tagesanbruch an dem französischen Geschwader vorbei sein und in die Bucht hineinsegeln, wo die Landungsflotte verankert liegt. «Er blickte den Master an.
«Also?»
«Na los, Mr. M'Ewan«, sagte Inch ermunternd.
Der Master befeuchtete sich die Lippen, dann sagte er entschlossen:»Wir könnten luven, Sir, bis wir dicht unter Land sind, dann wenden und nordwestlichen Kurs segeln, hoch am Wind, bis in die Bucht hinein. Vorausgesetzt, der Wind dreht nicht noch weiter. Denn wenn das passiert, rennen wir uns fest, Sir, und dann gnade uns Gott.»