Der Seesoldat vor der Tür störte ihn auf.»Midshipman der Wache, Sir!»
Müde wandte sich Herrick dem eintretenden Kadetten zu.»Was gibt's, Mr. Stirling?»
Der Junge war knapp vierzehn, hatte sich aber nach den ersten schwierigen Wochen auf der Benbow, seinem ersten Schiff, prächtig eingelebt. Seine Jugend und Gesundheit isolierten ihn wie Schutzschichten vor dem Drama, das sich rund um ihn abspielte.
«Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und der Horizont wird schon heller.»
Hastig schweifte sein Blick durch die geräumige Kajüte, die im Vergleich zur Fähnrichsmesse unten im Orlopdeck ein Palast war. Wenn er sich alles gut merkte, konnte er es im nächsten Brief seinen Eltern erzählen oder — gleich nachher — seinen Kameraden während der Freiwache.
Herrick wäre das Kinn vor Erschöpfung um ein Haar auf die Brust gesunken.»Und der Wind?«blaffte er.
Der Junge schluckte krampfhaft.»Stetig aus Ost, Sir. Der Master glaubt, daß er jetzt bald nachlassen wird.»
«So, glaubt er das?«Herrick streckte sich gähnend.»Meistens behält er ja recht.»
Er merkte, daß der Midshipman den glänzenden Prunksäbel an der Wand anstarrte. Das erinnerte ihn an die Zeit, als Neale auf der alten Phalarope Midshipman gewesen war, an Adam Pascoe, der sich nach einem eigenen Schiff verzehrte, jetzt aber um seinen geliebten Onkel trauerte — und an die Dutzende, ja Hunderte junger Offiziersanwärter, die er im Lauf der Jahre hatte kommen und gehen sehen. Einige hatten inzwischen Kapitänsrang erreicht, andere den Dienst quittiert, um ihr Glück anderswo zu suchen. Und viele von ihnen waren nicht einmal so alt geworden wie der junge Stirling hier.
Freundlich sagte Herrick:»Nehmen Sie den Säbel ruhig herunter und sehen Sie ihn sich an.»
Der Junge ging in seinem salz- und teerverkrusteten Bootsrock unter den aufmerksamen Blicken Herricks und Ozzards zur Wand hinüber, nahm den Säbel vorsichtig ab und drehte ihn langsam unter dem Licht der Lampe hin und her, um die eingravierten Worte und Verzierungen zu studieren.
Ehrfürchtig sagte er:»Ich wußte gar nicht, Sir — ich meine…«Mit glänzenden Augen wandte er sich um.»Er muß ein großartiger Offizier gewesen sein, Sir.»
Herrick fuhr auf.»Gewesen sein?«Bei seinem Ton zuckte der Junge so erschreckt zusammen, daß er gemäßigter fortfuhr:»Ja, Mr. Stirling, das war er. Mehr noch: ein großartiger Mann.»
Sorgsam hängte der Midshipman den Säbel zurück an die Wand.»Tut mir leid, Sir, ich wollte Sie nicht kränken.»
«Das haben Sie auch nicht getan, Mr. Stirling. Ich hoffte auf das Unmögliche und vergaß, daß es keine Wunder mehr gibt.»
«Ich — ich verstehe, Sir.»
Stirling zog sich zur Tür zurück, fest entschlossen, kein Detail in diesem Raum, kein Wort dieses Gesprächs mit dem Kommodore jemals zu vergessen.
Herrick sah ihm nach. Junge, du verstehst noch nicht die Hälfte, dachte er. Aber eines Tages, wenn du Glück hast und überlebst, wirst du mich wirklich begreifen.
Kurz darauf entfiel das Glas seinen erschlaffenden Fingern und zerschellte auf dem Boden Ozzard, der den Schlafenden nicht aus den Augen gelassen hatte, bückte sich nach den Scherben. Doch dann richtete er sich unvermittelt wieder auf und zog eine verächtliche Grimasse. Sollte doch der Steward des Kommodore die Bescherung wegräumen, dachte er. Er warf einen Blick zur Kombüsentür und verbannte Herricks Worte aus seinem Gedächtnis. Was Bolitho betraf, irrte sich der Kommodore. Alle irrten sich.
Ozzard schlich in die Kombüse und setzte sich in eine Ecke, hörte das Schiff um sich herum in allen Verbänden ächzen. Nein, er war Konteradmiral Bolithos Steward, niemandes sonst, und würde hier warten, bis er zurückkehrte. Basta!
Herrick eilte quer übers Achterdeck und spähte, von der Gischt fast geblendet, zu Wolfes hoher Gestalt bei den Finknetzen hinüber.
«Da, Sir!«rief Wolfe ihm entgegen.»Hören Sie?»
Herrick befeuchtete sich die Lippen und ignorierte die Neugier der Umstehenden. Ja, da war es wieder. Nun bestand kein Zweifel mehr.
«Kanonenfeuer«, sagte er heiser.
Wolfe nickte.»Leichte Schiffsartillerie, Sir. Wahrscheinlich Ganymede im Gefecht mit einem Fahrzeug ähnlicher Größe.»
Herrick stapfte das schräge Deck nach Luv hinauf und spähte angestrengt über die weißmähnigen Wellenkämme in das erste schwache Grau des Morgens.
«Na, Mr. Grubb?»
Der Master schürzte die Lippen, nickte aber.»Die Peilung stimmt, Sir. Unwahrscheinlich, daß sich ein anderes englisches Kriegsschiff hier aufhält.»
Wütend wie ein Tier in der Falle fixierte Herrick die wogende Wasserwüste.»Ist inzwischen eines unserer Schiffe wieder in Sicht gekommen?»
«Ich habe die Ausguckposten schon vergattert, Sir«, berichtete Wolfe.»Aber noch gibt es nichts zu melden.»
Wieder hörte Herrick das ferne Krachen, das wie Donner mit dem Wind heranrollte. Ja, das waren zwei Schiffe. Trotz des Sturms im Gefecht miteinander, weil sie sich wahrscheinlich rein zufällig begegnet waren.
«Irgendwelche Befehle, Sir?«erkundigte sich Wolfe.
«Bis wir Nicator sichten, bleiben wir beigedreht liegen, Mr. Wolfe. «Er wandte den Blick ab.»Andererseits aber…»
Wolfe verzog das Gesicht.»Stimmt, Sir, das ist ein großes Aber.»
Herrick kniff die Augen zusammen, als könne er dann die Umrisse der französischen Küste eher erkennen. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, gegen diesen Oststurm anzukreuzen. Aber andererseits konnte Ganymede bereits in einer verzweifelten Lage sein und dringend Hilfe benötigen. Wenn sie mit dem ersten Tageslicht die Mastspitzen der Benbow über die Kimm steigen sahen, mochte ihnen das frischen Mut geben und ihren Gegner verunsichern.
Kapitän Keen auf Nicator würde auch allein zurechtkommen. Sobald er erkannte, daß der Konvoi versprengt worden war, würde er sich mit seinem Linienschiff auf die Suche machen und seine verirrten Schützlinge wieder zusammentreiben.
Aber angenommen, Keen konnte nicht alle aufspüren, und das eine oder andere Handelsschiff mußte sich ohne Begleitschutz nach Gibraltar durchschlagen? Herrick gab sich keinen Illusionen hin. In diesem Fall konnte er die Bestätigung seines Kommodoreranges sofort vergessen, und auch jede künftige Beförderung würde nur noch in Dulcies Träumen existieren.
Sein Blick wanderte von Wolfe zu Grubbs klobiger Gestalt und dann zu dem junge Midshipman namens Stirling, der mit seiner Bewunderung für Bolithos Prunksäbel ahnungslos einen wunden Punkt berührt hatte. Dann glitt sein Blick nach vorn, über die ganze Länge des Schiffes hinweg. Seine Benbow. Wenn er sich entschloß, setzte er zweifellos auch sie aufs Spiel.
Wolfe starrte Herrick schweigend an; er ahnte, daß der Kommandant eine für sie alle wichtige Entscheidung traf.
Aber Grubb, der alte Salzwasserbuckel, der seinerzeit unbeirrt ein Lied gepfiffen hatte, als Lysander in die Schlacht gesegelt und rundum die Hölle losgebrochen war, der alte Grubb verstand.
Er brummte:»Wenn wir über Stag gehen, Sir, und auf Backbordbug…»
Herrick fuhr herum und starrte Grubb an. Hatte er sich erst einmal entschieden, war der Rest einfach.
«Einverstanden. «Und zu seinem hochgewachsenen Ersten Offizier sagte er:»Rufen Sie alle Mann an Deck, Mr. Wolfe. Wir setzen Segel. Lassen Sie aufentern und auch die Bramsegel setzen, bitte. «Er starrte zur Kimm, als der Sturm von querab wieder Kanonendonner herantrug.»Wollen mal nachsehen, was Ganymede da aufgespürt hat.»
Als die Pfeifen schrillten und Seeleute wie Soldaten auf Stationen eilten, wandte Herrick sich ab und schritt nach achtern. Am großen Rad blieb er kurz neben Grubb stehen, der seine Rudergänger auf die Kursänderung vorbereitete. Auch der junge Stirling stand da und kritzelte etwas auf eine Schiefertafel, während er darauf wartete, daß ein Schiffsjunge das Stundenglas umstülpte. Der Midshipman hob den Blick, als Herrick herantrat, und lächelte ihn an.