Bolitho ließ sich nichts anmerken.»Wenn Sie nur deshalb gekommen sind, um mir das zu sagen, war Ihre Fahrt überflüssig,
m'sieu.»
Charlois schüttelte den Kopf.»Ich bedaure, daß ich Sie verletzt habe, Captain. Aber ich werde langsam alt und bin über die natürliche Vorsicht eines Offiziers, der noch Karriere machen möchte, hinaus. «Er lächelte, als dächte er an ein Geheimnis.»Aber ich muß mich auf Ihr Wort als Gentleman verlassen können, daß alles, was ich Ihnen jetzt sage, strikt unter uns bleibt. Ich habe Frau und Kinder in St. Clar und wünsche nicht, daß sie meinetwegen leiden.»
Ehe Bolitho antworten konnte, fuhr er fort:»Sie sind sich wohl nicht klar darüber, daß meine Soldaten nicht zur regulären Armee gehören, eh? Sie sind Milizen, zum größten Teil in St. Clar selbst rekrutiert und alle miteinander aufgewachsen. Wir sind einfache
Leute und wollten weder Krieg noch Revolution; aber wir mußten damit fertig werden, so gut es ging. Mit dem Garnisonskommandeur war es etwas anderes — der war Berufsoffizier. «Müde hob er die Schultern.»Aber er ist im Kampf gefallen.»
Bolitho legte die Hände auf den Tisch und verschränkte die Finger, um seine wachsende Ungeduld zu meistern.»Was wollen Sie mir eigentlich erzählen?»
Charlois senkte die Lider.»Es geht die Rede, daß Ihr Lord Hood die Stadt Toulon attackieren will. Die dortige Bevölkerung hat sehr gemischte Gefühle, weil der König bei der Revolution den Tod gefunden hat. «Er holte tief Atem.»Nun, Captain, in meiner kleinen Heimatstadt denkt man genauso.»
Bolitho erhob sich und trat zu der Seekarte, die auf dem Eßtisch ausgebreitet lag. Er wußte, was dieses Bekenntnis den französischen Offizier gekostet hatte, und was es für seine Zukunft bedeuten mußte, wenn durchsickerte, daß er — wenn auch nur in Worten — sein Vaterland an einen englischen Kapitän verraten hatte. Endlich fragte er:»Wieso können Sie dessen so sicher sein?»
«Ich habe Anzeichen dafür gesehen«, entgegnete Charlois melancholisch.»St. Clar ist eine Kleinstadt, genau wie hundert andere auch. Wir haben ein paar Weinberge, ein bißchen Fischerei, ein bißchen Küstenhandel. Bis zur Revolution gingen die Geschäfte langsam, aber zufriedenstellend. Doch diese Unruhe in Toulon und weiter östlich brachte alles durcheinander. Eben jetzt schickt die Regierung eine Armee, um die Royalisten ein für allemal zu zerschmettern. Und wenn das erst erledigt ist, werden sie noch we iter-gehen. Bei einem Krieg mit England kann unsere Regierung auch nicht die kleinste Unbotmäßigkeit riskieren.»
Bolitho wandte sich um und sah ihm aufmerksam ins Gesicht.»Sie meinen, diese Armee wird auch in St. Clar einmarschieren?»
Charlois nickte bedeutsam.»Es wird Hinrichtungen und Repressalien geben. Alte Schulden werden mit Blut bezahlt werden. Das wäre das Ende für uns.»
Erregung stieg in Bolitho auf, als er die Worte des Franzosen überdachte. Letzten Endes hatte Lord Hood doch gesagt, daß die Einnahme Cozars hauptsächlich deswegen so wichtig war, weil sie bei den Franzosen der Eindruck hervorrufen würde, man wolle das Festland an mehreren Punkten zugleich angreifen. Aber selbst er hatte nie daran gedacht, daß die Franzosen eine solche Invasion willkommenheißen würden.
Charlois musterte ihn besorgt und gespannt.»Wir könnten unterhandeln. Das ließe sich arrangieren. Ich kenne den Bürgermeister gut, er ist mit meiner Cousine verheiratet. Es wäre nicht schwierig.»
«Es klingt sogar zu einfach, m'sieu. Mein Schiff wäre in Gefahr, wenn sich Ihre Worte als unzutreffend erwiesen. «Er hielt aufmerksam nach einem Zeichen von Schuldbewußtsein Ausschau, doch las er nur Verzweiflung in den Augen des Mannes.
«Ich habe viele Tage darüber nachgedacht. Sie haben meine Männer in Gefangenschaft, und in St. Clar halten sie die Besatzung Ihrer Fairfax fest, die wir hier überwältigt haben. Man könnte über einen Gefangenenaustausch verhandeln. Das ist doch nichts Ungewöhnliches, eh? Und dann, wenn die Anzeichen günstig sind, könnten wir erkunden, ob es nicht möglich wäre, gemeinsam mit Toulon gegen die Königsmörder zu kämpfen!«Er schwitzte mächtig, aber nicht nur vor Hitze.
Bolitho biß sich auf die Lippen, bis der Schmerz seine rasenden Gedanken beruhigte.»Na schön. «Er sah Charlois fordernd an.»Ich will aber zusätzlich Wasser.»
Charlois erhob sich mühsam, doch offensichtlich erleichtert.»Das wäre kein Problem, Capitaine. Die Insel sollte in einem Monat oder so Nachschub bekommen, und die Lastkähne mit Wasser liegen bereits in St. Clar.»
Bolitho trat an die Tür.»Der Erste Offizier zu mir!«Dann schritt er wieder zum Tisch und sah dem französischen Offizier sekundenlang in die Augen.»Wenn Sie versucht haben, mich zu täuschen«, sagte er gemessen,»so werden Sie das bereuen.»
Quarme trat ein.»Sir?»
«Schaffen Sie alle französischen Gefangenen an Bord, und zwar innerhalb einer Stunde. Inzwischen habe ich die neuen Befehle für Captain Ashby fertig, denn wir segeln ohne ihn.»
Quarme starrte ihn an.»Wir segeln, Sir?»
Bolitho gab dem wartenden Pikett ein Zeichen, Charlois an Deck zu führen, und sagte dann gelassen:»Sofort alle Boote zu Wasser. Unsere Männer können das Schiff aus dem Hafen schleppen. Mit einigem Glück erwischen wir draußen eine ablandige Brise und können Kurs aufnehmen.»
Quarme begriff anscheinend immer noch nicht, was da vor sich ging.»Aber Sir, die Leute sind zu durstig und erschöpft für eine so schwere Arbeit. Manche liegen wie tot unter Deck!»
«Dann scheuchen Sie sie hoch, Mr. Quarme!«Er blickte durchs Fenster auf die in der Hitze flirrenden Berge.»Geben Sie alles Wasser aus, bis zum letzten Tropfen! Ich will das Schiff schleunigst auf See haben, verstehen Sie? Heute abend will ich in St. Clar sein und dort verhandeln. «Er sah, daß Quarme völlig verwirrt war, und fuhr beinahe freundlich fort:»Vielleicht ist das die Brise, von der ich vorhin sprach. «Oben auf Deck hörte man das Schrillen der Pfeifen und wie das Wachtboot klariert wurde.»Noch vor dem nächsten Morgenrot, Mr. Quarme, werden wir einiges verändert haben. Entweder haben wir den Weg für weitere Operationen auf dem Festland geebnet — oder wir sind Kriegsgefangene. «Er läche l-te breit in Quarmes starres Gesicht.»So oder so — auf jeden Fall bekommen wir zu trinken.»
Langsam schritt Bolitho über das Achterdeck und hielt seine Uhr dicht an die Kompaßlampe. In ihrem düsteren Schein erkannte er, daß es halb vier Uhr morgens war; vor weniger als einer Viertelstunde hatte er zuletzt auf die Uhr gesehen. Ebenso langsam ging er wieder auf die andere Seite des Achterdecks, jeder Schritt eine konzentrierte Anstrengung, um die Spannung und die immer stärker werdende Verzagtheit zu unterdrücken. Es war volle zwei Stunden her, daß die Hyperion beigedreht und ihre Jolle in das schwarze, wogende Wasser abgefiert hatte. Zwei Stunden Warten und Grübeln, während die Hyperion kaum zwei Meilen vor dem großen Festlandkeil langsam patrouillierte. Bald würde es heller werden. Er starrte durch das schwarze Liniengewirr der Takelage zu den hellen, unbewegt funkelnden Sternen auf, und es kam ihm vor, als stünden manche nur ein paar Fuß über dem langsam kreisenden Besantopp. In ihrem bleichen Glanz standen die Segel ge isterhaft weiß und verletzlich vor dem nachtschwarzen Himmel. Die ablandige Brise hielt sich und wirkte nach der Tageshitze eiskalt. Obwohl das Schiff gefechtsklar war, ruhten die meisten Geschützbedienungen neben ihren Kanonen, noch völlig erschöpft von dem anstrengenden Verholen aus der Einfahrt von Cozar. Sie hatten sich an den Riemen abgelöst, als die Boote das Schiff wie Zugochsen von seinem Liegeplatz weggeschleppt hatten, und nun waren ihre Hände wund und voller Schwielen. Einmal hatte es ausgesehen, als wolle die Hyperion auf den Bänken vor dem Hafenbecken stranden, und nur mit äußerster Anstrengung, unter den Schlägen und Flüchen der Deckoffiziere, konnten die Männer sie freiholen. Aber selbst das war noch nicht genug. Die erschöpften, keuchenden Matrosen hatten hoffnungsvoll nach achtern gestarrt, ob die Segel nicht ein Zeichen von Leben verrieten. Doch die Leinwand hing wie zum Hohn schlapp von den Rahen, als gäbe es überhaupt keinen Wind auf der Welt.