Bolitho wußte, daß die Destiny so lange außer Kontrolle war, bis der Besan gekappt war. Als er über die Bordwand blickte, sah er unten einen Seesoldaten, der sich noch an der Besanstenge festhielt, und einen anderen, der von dem Gewirr der Takelage unter Wasser gezogen wurde und ertrank. Er wandte sich ab zu Dumaresq, der wie ein Fels dastand und den Feind beobachtete, wobei er offensichtlich darauf bedacht blieb, daß seine Besatzung ihn sah.
Bolitho zwang sich, woanders hinzublicken. Er fühlte sich plötzlich bedrückt und schuldig, da er zufällig Dumaresqs Geheimnis entdeckt hatte. Das also war der Grund, warum er die scharlachrote Weste trug! Damit keiner seiner Leute etwas merken konnte, wenn er verwundet wurde.
Aber Bolitho hatte die frischen nassen Flecken erkannt, von denen Blut auf seine kräftigen Hände getropft war, als sein Bootssteurer John ihn stützend an die Reling geführt hatte.
Midshipman Cowdroy kletterte über die Trümmer und rief:»Ich brauche Hilfe auf dem Vorschiff, Sir!«Er sah aus, als wäre er kurz vorm Durchdrehen.
Bolitho sagte:»Sehen Sie zu, wie Sie allein damit fertig werden. «Das gleiche hatte Dumaresq anläßlich des Uhrendiebstahls zu ihm gesagt.
Er hörte Axtschläge aus dem Rauch und spürte, wie das Schiff sich aufrichtete, als der gebrochene Mast mit seiner Takelage von ihrer Bordwand freikam.
Wie nackt sie aussahen ohne den Besanmast und seine vollstehenden Segel!
Auf einmal bemerkte Bolitho, daß die San Augustin quer vor ihrem Bug lag. Sie feuerte immer noch, aber die Kurswechsel der Destiny, die von der überhängenden Takelage verursacht worden waren, machten ihr das Zielen im Qualm schwierig. Mehrere Kugeln schlugen dicht vor der Bordwand ein oder klatschten querab zu beiden Seiten ins Wasser. Aber die Kanonen der Destiny waren ebenfalls blind, mit Ausnahme der Buggeschütze. Bolitho hörte ihre scharfen Abschüsse, als sie das Feuer mit tödlicher Entschlossenheit erwiderten.
Doch eine weitere schwere Kugel schlug unter ihrer BackbordLaufbrücke ein, warf zwei Kanonen um und färbte das Deck blutrot, als sie eine Gruppe von Männern niedermähte, von denen viele bereits verwundet gewesen waren.
Bolitho sah, daß Rhodes hinfiel und versuchte, sich wieder aufzuraffen, aber dann endgültig niedersank.
Er lief hinüber, um ihm zu helfen, ihn vor dem beißenden Pulverqualm zu schützen, während die Welt um ihn herum verrückt zu spielen schien.
Rhodes sah ihm direkt ins Gesicht, und seine Augen waren klar, als er flüsterte:»Der >Herr und Meister< hat seinen Willen, sehen Sie, Dick?«Er schaute am Großmast vorbei in den Himmel.»Der Wind — endlich ist er da. Aber zu spät. «Er hob den Arm, um Bolithos Schulter zu berühren.»Passen Sie auf sich auf, Dick. Ich habe es immer gewußt…«Sein Blick wurde plötzlich starr und leblos.
Bolitho erhob sich mühsam und starrte in das Chaos und Elend ringsum. Stephen Rhodes war tot. Rhodes, der ihn als erster an Bord willkommen geheißen und das Leben immer auf die leichte Schulter genommen hatte.
Dann sah er durch die zerrissenen Netze und zerfetzten Hängematten die See. Die vorher so träge Dünung war lebhaft geworden. Er schaute hinauf zu den Segeln. Durchlöchert, wie sie waren, standen sie jetzt doch prall wie Brustharnische und trieben die Fregatte vorwärts in den Kampf. Sie waren noch nicht geschlagen! Rhodes hatte es gesehen.»Der Wind«, hatte er gesagt. Es war das letzte, was er auf Erden erkannt hatte.
Bolitho rannte an die Bordwand und sah die San Augustin an Steuerbord voraus erschreckend nahe. Männer schossen von drüben auf ihn, und überall war Qualm und Lärm, aber er spürte nichts. Aus der Nähe sah das feindliche Schiff nicht mehr so stolz und unverletzbar aus. Er konnte erkennen, wo die Kugeln der Destiny Spuren hinterlassen hatten.
Er hörte Dumaresqs Stimme, die ihm das Deck entlang folgte und trotz seiner unvermeidlichen Schmerzen immer noch kräftig und beherrschend klang.»An die Steuerbordbatterie, Mr. Bolitho!«Bolitho hob Rhodes schönen Säbel auf und schwenkte ihn wild.»An die Kanonen, Jungs! Doppelte Ladung!«Musketenkugeln prasselten wie Kieselsteine an Deck, und hier und da fiel ein Mann um. Aber die übrigen, die sich aus den Trümmern befreit hatten, überließen die Kanonen an der Backbordseite sich selber und gehorchten taumelnd Bolithos Ruf. Sie luden die verbliebenen Zwölfpfünder, kauerten dahinter wie verschreckte Raubtiere und warteten, bis das hohe Achterschiff der San Augustin sich Meter für Meter wie ein vergoldeter Fels vor ihnen auftürmte.»Ziel auffassen!»
Wer gab die Befehle? Dumaresq, Palliser, oder war er so mitgerissen von der Wildheit der Schlacht, daß er sie selber ausgestoßen hatte?
«Feuer!»
Er sah die Kanonen im Rückstoß binnenbords rollen und ihre Bedienungen durch die Stückpforten schauen, um den Erfolg ihrer Schüsse zu überprüfen. Denn jede der mörderischen Kugeln pflügte jetzt vom Heck bis zum Bug durch das spanische Schiff und verbreitete überall Tod und Verderben.
Kein Geschützführer, auch Stockdale nicht, machte Anstalten, neu zu laden. Es war, als wisse jeder Bescheid.
Die San Augustin trieb nach Lee ab. Vielleicht war ihr Ruder zerschossen oder sämtliche Offiziere waren in der letzten feurigen Umarmung getötet worden.
Bolitho ging langsam nach achtern und stieg den Niedergang hoch aufs Achterdeck. Holzsplitter lagen überall herum, und an den Sechs-pfündern waren nur noch wenige Männer übrig, die Hurra rufen konnten, als ein Teil der Takelage des Feindes in die Qualmwolken stürzte.
Dumaresq wandte sich mühsam um:»Ich glaube, sie brennt.»
Bolitho sah Gulliver tot neben seinen Rudergängern liegen; Slade stand an seinem Platz, als ob er von Anfang an zum Master bestimmt gewesen sei. Colpoys, der seinen roten Rock wie ein Cape um die bandagierte Brust gehängt hatte, musterte seine Männer, die von ihren Waffen zurückgetreten waren. Palliser saß auf einem Faß, während einer von Bulkleys Leuten seinen Arm untersuchte.
Bolitho hörte sich sagen:»Wir werden den Schatz verlieren, Sir.»
Eine Explosion schüttelte die schwer mitgenommene San Augustin. Man sah Gestalten über Bord springen und jeden niedertrampeln, der sie aufzuhalten versuchte.
Dumaresq blickte auf seine rote Weste herunter.»Sie verlieren ihn aber auch.»
Bolitho beobachtete das andere Schiff und sah, wie der Qualm dik-ker wurde und erste Flammen unterhalb des Großmasts hervorbrachen. Wenn Garrick noch lebte, würde er nicht mehr weit kommen.
Bulkley lief übers Achterdeck.»Sie müssen nach unten gehen, Sir, ich muß Sie untersuchen.»
«Müssen?«Dumaresq lächelte grimmig.»Das ist kein Wort, das ich. «Dann fiel er ohnmächtig in die Arme seines Bootssteurers.
Trotz allem, was schon geschehen war, schien Bolitho dieser Anblick unerträglich. Er sah zu, wie Dumaresq aufgehoben und vorsichtig zum Niedergang getragen wurde.
Palliser trat an die Querreling, aschfahl im Gesicht, aber er sagte:»Wir werden uns in sicherer Entfernung halten, bis das verdammte Schiff entweder gesunken oder in die Luft geflogen ist.»
«Was soll ich jetzt tun, Sir?«Das war Midshipman Henderson, der wunderbarerweise oben im Großmast überlebt hatte.
Palliser sah ihn an.»Sie übernehmen Mr. Bolithos Aufgaben. «Er stockte, den Blick auf Rhodes' Leiche am Fockmast gerichtet.»Mr. Bolitho ist jetzt Zweiter Offizier.»
Eine heftigere Explosion als alle bisherigen erschütterte die San Augustin so stark, daß ihre Fock- und Großmarsstengen in den Qualm hinabstürzten, das ganze Schiff sich schwer auf die Seite legte und schließlich kenterte.
Jury kam den Niedergang hoch und stellte sich an Bolithos Seite, um die letzten Augenblicke des einst so schönen Schiffes mit anzusehen.»War es das alles wert, Sir?»
Bolitho sah ihn an und schaute sich an Deck um. Schon waren Leute dabei, die Schäden auszubessern und das Schiff wieder flott zu machen. Tausenderlei Dinge gab es zu tun: die Verwundeten mußten betreut werden. Der übriggebliebene Schoner war zu jagen und zu erobern. Überlebende mußten aus dem Wasser gefischt und als Gefangene von den spanischen Seeleuten getrennt werden. Eine Menge Arbeit für eine kleine Fregatte mit reduzierter Besatzung.