Ein Matrose — in der einen Hand eine Pistole, um die andere einen behelfsmäßigen Verband — rief:»Hier geht's runter, Sir!»
Bolitho kletterte eine Leiter hinab. Sein Magen rebellierte beim Anblick von so viel Leid und Schmerz. Drei Männer lagen besinnungslos oder tot vor ihm, ein vierter kroch, so gut er konnte, an seine Gefechtstation zurück.
Egmont stand an einem Tisch und trocknete sich die Hände an einem Fetzen Stoff, während ein Matrose eine Lampe für ihn putzte.
Er erkannte Bolitho und bedachte ihn mit müdem Schulterzucken.»Ein unerwartetes Zusammentreffen, Leutnant.»
Bolitho fragte:»Haben Sie die Verwundeten versorgt?»
«Sie kennen die Marine, Leutnant. Es ist sehr lange her, seit ich unter dem Vater Ihres Kommandanten diente, aber was man einmal gelernt hat, vergißt man nie.»
Bolitho hörte das eifrige Schnaufen der Pumpen und das Scharren von Blöcken und Taljen, die geschäftig über das Oberdeck gezogen wurden. Die Matrosen der Destiny waren wieder an der Arbeit, und er wurde gebraucht, um Palliser zu helfen und die Leute — notfalls mit Gewalt — anzutreiben.
Sie waren in einem wilden Gefecht gewesen, und einige hatten dabei ihr Leben verloren. Nun mußten sie abermals heran. Ließ man sie verschnaufen, würden sie sich fallen lassen. Erlaubte man ihnen, den Verlust eines guten Freundes zu beklagen, würden sie ihren Kampfgeist verlieren.
Bolitho fragte:»Ihre Frau — ist sie in Sicherheit?»
Egmont wies auf ein Schott.»Da drin.»
Bolitho warf sich mit der Schulter dagegen, wobei ihn die Angst, wieder unter Deck eingeklemmt zu werden, packte. Im schwachen Lampenlicht sah er drei Frauen in einer fenster- und luftlosen Kammer: Aurora Egmont, ihre Zofe und eine füllige Dame, in der er die Frau des Kapitäns vermutete. Er sagte:»Gott sei Dank, Sie sind unversehrt. «Aurora kam auf ihn zu, und da ihre Füße in dem Dämmerlicht der Kammer unsichtbar waren, schien es, als ob sie auf ihn zuschwebe. Sie hob eine Hand, strich ihm über das Gesicht und sein nasses Haar und sagte leise:»Ich dachte, Sie wären noch in Rio. «Ihre Hände berührten seine Brust und seine herabhängenden Arme.»Mein armer Leutnant, was hat man Ihnen angetan?«Bolitho meinte, den Verstand zu verlieren. Selbst hier, in den Ausdünstungen der Bilge und des Todes, roch er ihr Parfüm; er spürte den leichten Druck ihrer Finger auf seinem Gesicht und hätte sie gern umarmt, ihren Körper an sich gepreßt wie in seinem Traum, die Sorgen mit ihr geteilt, ihr sein Verlangen offenbart.»Bitte. «Er versuchte, zurückzutreten.»Ich bin naß und schmutzig. Ich wollte mich nur vergewissern, daß Sie unverletzt sind. «Sie wischte seinen Protest beiseite und legte ihm die Hände auf die Schultern.»Mein tapferer Leutnant!«Dann wandte sie sich zu ihrer Zofe um und sagte scharf:»Hör auf zu heulen, du dummes Mädchen. Wo ist dein Stolz?»
In diesen Sekunden fühlte Bolitho, daß sich ihre Brust gegen sein nasses Hemd preßte, als sei kein Stoff mehr zwischen ihren Körpern. Er murmelte:»Ich muß gehen!»
Sie sah ihn so eindringlich an, als suche sie sich jeden Zug einzuprägen.»Wollen Sie wieder kämpfen? Müssen Sie?»
Bolitho fühlte neue Kraft in seinen Körper strömen. Er vermochte sogar zu lächeln, als er sagte:»Ich habe jetzt jemanden, für den ich kämpfe, Aurora.«»Sie wissen noch meinen Namen?»
Dann zog sie seinen Kopf herunter und küßte ihn fest auf den Mund. Dabei zitterte sie genau wie er. Die Beschimpfung der Zofe war nur eine Ablenkung gewesen. Sie flüsterte:»Nimm dich in acht, Richard.»
Als Bolitho zurückeilte und die Leiter hochkletterte, hörte er schon von fern Pallisers Stimme. Palliser beobachtete die beiden großen Schoner durch ein Fernrohr; ohne es zu senken, sagte er trocken:»Darf ich annehmen, daß unten alles wohlauf ist?»
Bolitho wollte an seinen Hut tippen, erinnerte sich aber, daß er ihn schon vor langer Zeit verloren hatte.
«Aye, Sir. Egmont hilft den Verwundeten.»
«Tatsächlich?«Palliser schob das Teleskop mit einem Knall zusammen.»Hören Sie gut zu: Die Teufel werden versuchen, unsere Kräfte zu zersplittern. Einer wird etwas abhalten, während der andere anläuft, um uns zu entern. «Er dachte laut.»Wir haben einen Kampf überlebt, nun wollen sie den völligen Sieg. Sie werden kein Pardon geben.»
Bolitho nickte.»Wir könnten sie uns vom Leibe halten, wenn jede Kanone voll bemannt wäre, Sir.»
Palliser schüttelte den Kopf.»Nein. Wir treiben steuerlos und können nicht verhindern, daß einer oder beide hinter uns vorbeisegeln und unser wehrloses Heck unter Feuer nehmen. «Er beobachtete einige Matrosen der Brigg, die vorbeischlurften.»Diese Leute sind erledigt, haben keinen Kampfgeist mehr. Alles hängt von uns ab. «Er nickte kräftig, sein Entschluß stand fest.»Wir werden einen der Schurken herankommen lassen und sie voneinander trennen. Mal sehen, wie ihnen das gefällt.»
Bolitho musterte die abgebrochenen Masten und herumliegenden Toten, zwischen denen die Männer der Destiny sich wie Leichenfledderer auf einem Schlachtfeld bewegten. Er strich sich mit seinen Fingern über den Mund, als könne er die Stelle spüren, wo sie ihn mit solcher Leidenschaft geküßt hatte. Er sagte:»Ich werde es den anderen ausrichten, Sir. «Palliser sah ihn düster an.»Ja, tun Sie das. Erklärungen können später gegeben werden, wenn wir gewonnen haben. Wenn nicht, kommt's darauf auch nicht mehr an.»
Palliser senkte sein Teleskop und sagte bitter:»Sie haben mehr Leute, als ich dachte.»
Bolitho beschattete seine Augen und beobachtete die beiden Schoner. Ihre großen Gaffelsegel am vorderen und achteren Mast standen wie Vogelschwingen vor dem hellen Himmel. Langsam arbeiteten sie sich nach Luv von der hilflosen Brigg. Das größere der beiden Schiffe, dessen Segel von den Kartätschenladungen während des abenteuerlichen Gefechts wie mit Pockennarben übersät waren, war ein Toppsegelschoner.[10] Er rief eine Erinnerung in Bolitho wach.»Ich glaube, dies ist das Fahrzeug, das den Hafen verließ, als wir bei Eg-mont zu Besuch waren, Sir. Ich erinnere mich an das Rigg.»
«Stimmt wahrscheinlich. Es gibt nur wenige davon in diesen Gewässern.»
Palliser beobachtete die methodische Annäherung der Schoner. Einer hielt sich weit in Luv, der andere manövrierte von Backbord aus auf den Bug der Rosario zu, wo er von deren übriggebliebenen Kanonen am schlechtesten zu bestreichen war. Immerhin waren es solide Sechspfünder, die unter Littles erfahrener Leitung jedem gefährlich werden konnten, der ihnen zu nahe kam.
Palliser reichte Bolitho das Glas.»Sehen Sie selbst. «Er ging zum Kompaß hinüber und sprach mit Slade und dem Kapitän der Brigg.
Bolitho richtete das Glas mit angehaltenem Atem auf den näherstehenden Schoner. Er wirkte von Wind und Wetter zerzaust und wenig gepflegt. Viele Männer schauten zur trotzigen, wenn auch machtlosen Brigg herüber. Ihre herausfordernden und höhnischen Rufe waren auf die Entfernung schwach zu hören.
Bolitho dachte an die Frau in der Kammer und an das, was diese Kerle mit ihr machen würden, und packte seinen Säbel so fest, daß ihm die Handfläche wehtat. Er hörte den Kapitän der Brigg sagen:»Ich will nicht mit einem Offizier des Königs streiten, aber machen Sie mich nicht für das verantwortlich, was kommt.»
Slade fügte leise hinzu:»Sie können es nicht mit ihnen aufnehmen, Sir. Es ist nicht richtig, es darauf ankommen zu lassen.»
Pallisers Stimme war hart und kompromißlos:»Was empfehlen Sie? Daß wir auf ein Wunder warten? Beten, daß die Destiny aus der Weite des Meeres auftaucht und unsere armen Seelen rettet?«Er gab sich keine Mühe, Sarkasmus und Verachtung zu verbergen.»Verdammt, Slade, ich hätte mehr von Ihnen erwartet.»
Er wandte sich um und sah, daß Bolitho die diskutierende kleine Gruppe beobachtete.»In etwa fünfzehn Minuten wird der Halsabschneider versuchen, uns zu entern. Wenn wir ihn zurückschlagen, wird er wieder auf Abstand gehen; beide werden uns dann eine Weile beschießen. Dann werden sie es wieder versuchen. Und später noch einmal. «Er wies mit einer weitausholenden Armbewegung auf das zerfurchte Deck und die müden Matrosen.»Glauben Sie, daß die Leute das durchstehen werden?»