Rhodes sagte:»Haben Sie es bemerkt, Dick? Die Trinkwasserprähme sind nicht wie versprochen gekommen. Unser Vorrat muß ziemlich zu Ende sein. Kein Wunder, daß unser >Herr und Meister< vor Zorn rot anläuft.»
Bolitho erinnerte sich an Dumaresqs Worte, daß die Destiny am Tag nach ihrer Ankunft Frischwasser übernehmen wolle. Das hatte er über all dem, was seine Gedanken inzwischen gefangennahm, vergessen.
«Mr. Rhodes!«Dumaresq trat an die Querreling des Achterdecks.»Signalisieren Sie der Heloise, daß sie auf der äußeren Reede ankern soll. Mr. Slade soll nicht versuchen, bei Dunkelheit näher ans Land heranzusegeln. Um ganz sicherzugehen, schicken Sie ihm ein Boot mit dem Befehl, daß er frei von der Landzunge vor Anker gehen soll.»
Das Trillern der Bootsmannsmaatenpfeife brachte die Bootscrew im Laufschritt nach achtern. Einige stöhnten, als sie sahen, wie weit die Brigantine entfernt war. Das gab eine lange Strecke zu pullen, und zwar hin und zurück.
Rhodes suchte den Midshipman der Wache.»Mr. Lovelace, Sie fahren mit!«Er ließ sich nichts anmerken, als er Bolitho zuzwinkerte.»Verdammte Kadetten, was, Dick? Müssen ein bißchen beschäftigt werden.»
«Mr. Bolitho!«Dumaresq hatte ihn beobachtet.»Kommen Sie bitte zu mir.»
Bolitho eilte nach achtern, bis sie beide außer Hörweite der anderen an der Heckreling standen.
«Ich muß Ihnen mitteilen, daß Mr. Palliser keinen anderen Schuldigen gefunden hat. «Dumaresq musterte Bolitho eindringlich.»Das beunruhigt Sie, wie ich sehe.»
«Ja, Sir. Ich habe keinen Gegenbeweis, aber ich bin überzeugt, daß Murray unschuldig ist.»
«Ich werde warten, bis wir wieder auf See sind. Aber dann muß die Bestrafung vollzogen werden. Jedoch empfiehlt es sich nicht, Leute vor den Augen Fremder auszupeitschen.»
Bolitho wartete ab, da er ahnte, daß noch mehr kommen würde.
Dumaresq beschattete seine Augen, als er zum Wimpel an der Mastspitze emporschaute.»Eine schöne Brise. «Dann sagte er:»Ich brauche einen neuen Schreiber. Auf einem Kriegsschiff gibt es mehr Schriftstücke und Listen als Pulver und Blei. «Sein Tonfall wurde schärfer.»Oder Trinkwasser, was das betrifft!»
Bolitho straffte sich, als Palliser nach achtern kam und wie vor einer unsichtbaren Linie stehenblieb.
Dumaresq sagte:»Wir sind fertig. Was ist, Mr. Palliser?»
«Ein Boot nähert sich, Sir. «Er beachtete Bolitho nicht.»Das gleiche, welches Schweinefleisch für die Messe gebracht hat.»
Dumaresq hob die Brauen.»Wirklich? Das interessiert mich. «Er machte abrupt kehrt und sagte:»Ich bin in meinen Räumen. Und was den Schreiber betrifft, so habe ich mich entschieden, den neuen Gehilfen des Schiffsarztes, Spillane, mit der Aufgabe zu betrauen. Er scheint ein gebildeteter Mann zu sein und weiß, wie man sich Vorgesetzten gegenüber benimmt; außerdem will ich den guten Doktor nicht verwöhnen, er hat genügend andere Hilfskräfte, die sein Krankenrevier versorgen können.»
Palliser tippte an seinen Hut.»Zu Befehl, Sir.»
Bolitho ging zur Backbord-Laufbrücke, um das näherkommende Boot zu betrachten. Ohne Glas konnte er erkennen, daß niemand darin saß, den er kannte. Fast hätte er über sich selber gelacht, daß er so dumm sein konnte. Was hatte er erwartet? Daß Jonathan Egmont selbst herauskam, um den Kommandanten zu besuchen? Oder daß seine reizende Frau die unbequeme und anstrengende Fahrt unternahm, um ihm zuzuzwinkern? Er wurde offenbar schon kindisch. Vielleicht war er zu lange auf See gewesen, oder sein letzter Heimaturlaub in Falmouth, der so viel Unglück nach sich zog, hatte ihn anfällig für Phantastereien und unerfüllbare Träume gemacht?
Das Boot kam an die Großrüsten, und nach einer längeren Diskussion in Zeichensprache zwischen den Ruderern und dem Bootsmannsmaat der Wache wurde ein Briefumschlag zu Rhodes hinaufgereicht, den er sofort nach achtern zur Kajüte trug. Das Boot wartete ein paar Yards vom Schiff entfernt; seine dunkelhäutigen Insassen beobachteten die geschäftigen Matrosen und Seesoldaten und schätzten wahrscheinlich die Stärke einer Breitseite der Destiny ab.
Schließlich kam Rhodes zurück, rief das Boot heran und reichte dem Bootssteurer einen anderen Umschlag hinunter. Er sah, daß Bo-litho zuschaute, und kam zu ihm an die Hängemattsnetze.
«Ich weiß, daß Sie es nicht gern hören werden, Dick«, und dabei konnte er ein inneres Lachen nicht ganz unterdrücken,»aber wir sind heute abend zum Essen eingeladen. Ich glaube, Sie kennen das Haus bereits.»
«Wer wird hingehen?«Bolitho bemühte sich, seine plötzliche Besorgnis nicht zu zeigen.
Rhodes grinste.»Der >Herr und Meisten, alle Offiziere und — als höfliche Geste — der Schiffsarzt.»
«Das kann ich nicht glauben! Der Kommandant würde das Schiff doch niemals verlassen, wenn nicht wenigstens ein Offizier an Bord bliebe. «Bolitho schaute nach achtern, wo Dumaresq gerade an Deck erschien.»Bestimmt nicht!»
Dumaresq rief:»Holen Sie Macmillan und meinen neuen Schreiber Spillane!«Sein Ton war frohlockend, anders als in den letzten Tagen.»In einer halben Stunde brauche ich meine Gig.»
Rhodes eilte schon davon, als Dumaresq ihm laut nachrief:»Ich möchte, daß Sie, Mr. Bolitho und unser tapferer Rotrock bis dahin anständig angezogen sind. «Er lächelte.»Der Doktor ebenfalls. «Er ging mit langen Schritten davon, während sein Steward wie ein Ter-rier hinterhertrippelte.
Bolitho schaute auf seine Hände. Sie wirkten ruhig, aber er hatte das Gefühl, als habe er die Herrschaft über sie — genau wie über sein Herz — verloren.
In der Messe herrschte wüstes Tohuwabohu. Poad und seine Gehilfen suchten nach sauberen Hemden und gebügelten Uniformröcken, um ihre Schützlinge aus wetterharten Seeoffizieren in geschniegelte Gentlemen zu verwandeln.
Colpoys verfluchte seinen Burschen wie ein Kavallerist, während der Mann seine Stiefel auf Hochglanz brachte und er sich selber im Handspiegel betrachtete.
Bulkley, zerknittert und eulenhaft wie immer, brummte:»Er nimmt mich nur mit, um das Unrecht, das er mir mit meinem Gehilfen angetan hat, wiedergutzumachen.»
Palliser hakte ein.»Ach du lieber Himmel! Wahrscheinlich will er nur nicht riskieren, Sie allein an Bord zurückzulassen.»
Gulliver war offensichtlich entzückt, daß er als zeitweilig Verantwortlicher für das Schiff fungieren sollte. Auf der langen Überfahrt von Funchal hierher hatte er sichtlich an Selbstvertrauen gewonnen, und außerdem haßte er die Gepflogenheiten der vornehmen Gesellschaft, wie er Codd einmal anvertraut hatte.
Bolitho war als erster am Fallreep. Er sah, daß Jury gerade die Wache auf dem Achterdeck übernahm. Ihre Blicke trafen sich und wanderten dann weiter. Es würde anders werden, wenn das Schiff erst wieder in See war. Dann konnten gemeinsame Aufgaben die Spannung zwischen ihnen beseitigen, nur: Murrays Schicksal war auch dann noch nicht entschieden.
Dumaresq erschien an Deck und musterte seine Offiziere.»Gut!
Recht gut!«Er musterte die längsseits liegende Gig unten, die Mannschaft in den karierten Hemden und mit den geteerten Hüten und den Bootssteurer, der zum Ablegen bereit wartete.»Gut gemacht, Johns!»
Bolitho dachte daran, wie er das letztemal mit Dumaresq an Land gefahren war, der so nebenbei zu Johns gesagt hatte, er solle sich um die Angelegenheit mit Jurys verschwundender Uhr kümmern. Johns war als Bootssteurer des Kommandanten bei den Unteroffizieren und dienstälteren Leuten sehr angesehen. Ein Wort zur rechten Zeit, ein Wink an den Wachtmeister, der keines großen Anstoßes bedurfte, wenn es darauf ankam, die Leute unter Druck zu setzen, und eine schnelle Durchsuchung hätten das übrige getan.
«Ins Boot!»
In genauer Beachtung des Dienstalters und von einigen wachfreien Leuten auf der Laufbrücke beobachtet, kletterten die Offiziere der Destiny in die Gig hinunter. Als letzter nahm Dumaresq in seinem goldbetreßten Rock mit den weißen Aufschlägen auf dem Hecksitz Platz. Als das Boot vorsichtig von der Bordwand absetzte, sagte Rho-des:»Erlauben Sie mir zu sagen, Sir, daß wir Ihnen sehr dankbar für diese Einladung sind.»