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11.

Wir zählen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei den Einschlägen der Granaten wurden die gefrorenen Erdklumpen fast ebenso gefährlich wie die Splitter. Jetzt sind die Bäume wieder grün. Unser Leben wechselt zwischen Front und Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt, der Krieg ist eine Todesursache wie Krebs und Tuberkulose, wie Grippe und Ruhr. Die Todesfälle sind nur viel häufiger, verschiedenartiger und grausamer.

Unsere Gedanken sind Lehm, sie werden geknetet vom Wechsel der Tage – sie sind gut, wenn wir Ruhe haben, und tot, wenn wir im Feuer liegen. Trichterfelder draußen und drinnen.

Alle sind so, nicht wir hier allein – was früher war, gilt nicht, und man weiß es auch wirklich nicht mehr. Die Unterschiede, die Bildung und Erziehung schufen, sind fast verwischt und kaum noch zu erkennen. Sie geben manchmal Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen auch Nachteile mit sich, indem sie Hemmungen wachrufen, die erst überwunden werden müssen. Es ist, als ob wir früher einmal Geldstücke verschiedener Länder gewesen wären; man hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt denselben Prägestempel. Will man Unterschiede erkennen, dann muß man schon genau das Material prüfen. Wir sind Soldaten und erst später auf eine sonderbare und verschämte Weise noch Einzelmenschen.

Es ist eine große Brüderschaft, die ein Schimmer von dem Kameradentum der Volkslieder, dem Solidaritätsgefühl von Sträflingen und dem verzweifelten Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt zu einer Stufe von Leben, das mitten in der Gefahr, aus der Anspannung und Verlassenheit des Todes sich abhebt und zu einem flüchtigen Mitnehmen der gewonnenen Stunden wird, auf gänzlich unpathetische Weise. Es ist heroisch und banal, wenn man es werten wollte – doch wer will das?

Es ist darin enthalten, wenn Tjaden bei einem gemeldeten feindlichen Angriff in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck auslöffelt, weil er ja nicht weiß, ob er in einer Stunde noch lebt. Wir haben lange darüber diskutiert, ob es richtig sei oder nicht. Kat verwirft es, weil er sagt, man müsse mit einem Bauchschuß rechnen, der bei vollem Magen gefährlicher sei als bei leerem.

Solche Dinge sind Probleme für uns, sie sind uns ernst, und es kann auch nicht anders sein. Das Leben hier an der Grenze des Todes hat eine ungeheuer einfache Linie, es beschränkt sich auf das Notwendigste, alles andere liegt in dumpfem Schlaf; – das ist unsere Primitivität und unsere Rettung. Wären wir differenzierter, wir wären längst irrsinnig, desertiert oder gefallen. Es ist wie eine Expedition im hohen Eise; – jede Lebensäußerung darf nur der Daseinserhaltung dienen und ist zwangsläufig darauf eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnötig Kraft verzehren würde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze ich vor mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rätselhafte Widerschein des Früher in stillen Stunden wie ein matter Spiegel die Umrisse meines jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann darüber, wie das unnennbare Aktive, das sich Leben nennt, sich angepaßt hat selbst an diese Form. Alle anderen Äußerungen liegen im Winterschlaf, das Leben ist nur auf einer ständigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, – es hat uns zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu geben, – es hat uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen vor dem Grauen, das uns bei klarem, bewußtem Denken überfallen würde, – es hat in uns den Kameradschaftssinn geweckt, damit wir dem Abgrund der Verlassenheit entgehen, – es hat uns die Gleichgültigkeit von Wilden verliehen, damit wir trotz allem jeden Moment des Positiven empfinden und als Reserve aufspeichern gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein geschlossenes, hartes Dasein äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken. Dann aber schlägt überraschend eine Flamme schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.

Das sind die gefährlichen Augenblicke, die uns zeigen, daß die Anpassung doch nur künstlich ist, daß sie nicht einfach Ruhe ist, sondern schärfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns äußerlich in der Lebensform kaum von Buschnegern; aber während diese stets so sein können, weil sie eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskräfte höchstens fortentwickeln, ist es bei uns umgekehrt: unsere inneren Kräfte sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zurückentwicklung angespannt. Jene sind entspannt und selbstverständlich so, wir sind es äußerst angespannt und künstlich.

Und mit Schrecken empfindet man nachts, aus einem Traum aufwachend, überwältigt und preisgegeben der Bezauberung heranflutender Gesichte, wie dünn der Halt und die Grenze ist, die uns von der Dunkelheit trennt – wir sind kleine Flammen, notdürftig geschützt durch schwache Wände vor dem Sturm der Auflösung und der Sinnlosigkeit, in dem wir flackern und manchmal fast ertrinken. Dann wird das gedämpfte Brausen der Schlacht zu einem Ring, der uns einschließt, wir kriechen in uns zusammen und starren mit großen Augen in die Nacht.

Tröstlich fühlen wir nun den Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.

* * *

Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem dünnen Halt, und die Jahre verschleißen ihn rasch. Ich sehe, wie er allmählich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit Detering. Er war einer von denen, die sich sehr für sich hielten. Sein Unglück war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von der Front, und dieser Kirschbaum stand in der Nähe des neuen Quartiers an einer Wegbiegung überraschend in der Morgendämmerung vor uns. Er hatte keine Blätter, aber er war ein einziger weißer Blütenbusch.

Abends war Detering nicht zu sehen. Er kam schließlich 246 an und hatte ein paar Zweige mit Kirschblüten in der Hand. Wir machten uns lustig und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte sich auf sein Bett. Nachts hörte ich ihn rumoren, er schien zu packen. Ich witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wäre nichts, und ich sagte ihm:»Mach keinen Unsinn, Detering.«

»Ach wo – ich kann nur nicht schlafen.«

»Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?«

»Ich werde doch wohl noch Kirschzweige holen dürfen«, antwortet er verstockt – und nach einer Weile:»Zu Hause habe ich einen großen Obstgarten mit Kirschen. Wenn die blühen, sieht das vom Heuboden aus wie ein einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit.«

»Vielleicht gibt’s bald Urlaub. Es kann auch sein, daß du, als Landwirt, abkommandiert wirst.«

Er nickt, aber er ist abwesend. Wenn diese Bauern aufgerührt sind, haben sie einen sonderbaren Ausdruck, eine Mischung von Kuh und sehnsüchtigem Gott, halb blöde und halb hinreißend. Um ihn von seinen Gedanken abzubringen, verlange ich ein Stück Brot von ihm. Er gibt es mir ohne Einschränkung. Das ist verdächtig, denn er ist sonst knauserig. Deshalb bleibe ich wach. Es passiert nichts, er ist morgens wie sonst.

Wahrscheinlich hat er gemerkt, daß ich ihn beobachtet habe.

– Am übernächsten Morgen ist er trotzdem fort. Ich sehe es, sage jedoch nichts, um ihm Zeit zu lassen, vielleicht kommt er durch. Nach Holland haben es schon verschiedene Leute geschafft.

Beim Appell aber fällt sein Fehlen auf. Nach einer Woche hören wir, daß er gefaßt ist von den Feldgendarmen, diesen verachteten Kommißpolizisten. Er hatte die Richtung nach Deutschland genommen – das war natürlich aussichtslos -, und ebenso natürlich hatte er alles sehr dumm angefangen. Jeder hätte daraus wissen können, daß die Flucht nur Heimweh und momentane Verwirrung war. Doch was begreifen Kriegsgerichtsräte hundert Kilometer hinter der Linie davon? – Wir haben nichts mehr von Detering vernommen.

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