»Jaja, mein Kind.«
»Ihr dürft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben draußen genug zu essen. Ihr könnt es hier besser brauchen.«
Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles. Als ich schon gehen will, sagt sie hastig:»Ich habe dir noch zwei Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt nicht vergessen, sie dir einzupacken.«
Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann man es begreifen, daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir müssen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie können.
»Gute Nacht, Mutter.«
»Gute Nacht, mein Kind.«
Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her. Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die Kastanien rauschen.
Auf dem Vorplatz stolpere ich über meinen Tornister, der fertig gepackt daliegt, weil ich morgen sehr früh fort muß.
Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fäuste um die Eisenstäbe meines Bettes. Ich hätte nie hierherkommen dürfen. Ich war gleichgültig und oft hoffnungslos draußen; – ich werde es nie mehr so sein können. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich hätte nie auf Urlaub fahren dürfen.
8.
Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt, wie immer. Nur einige der Leute habe ich früher flüchtig gesehen.
Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern ‘ spiele. Zwei Mädchen bedienen, eins davon ist jung. Das Lager ist von hohen Drahtzäunen umgeben. Wenn wir spät aus dem Soldatenheim kommen, müssen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem Posten versteht, kriecht natürlich auch so durch.
Zwischen Wacholderbüschen und Birkenwäldern üben wir jeden Tag Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr verlangt. Man rennt vorwärts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel und Blüten der Heide hin und her. Der klare Sand ist, so dicht am Boden gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben. Aber das schönste sind die Wälder mit ihren Birkenrändern. Sie wechseln jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stämme im hellsten Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte Grün des Laubes; – im nächsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau, das silbrig vom Rande her streicht und das Grün forttupft; – aber sogleich vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke über die Sonne geht. Und dieser Schatten läuft wie ein Gespenst zwischen den nun fahlen Stämmen entlang, weiter über die Heide zum Horizont, – inzwischen stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor dem rotgoldenen Geloder ihres sich färbenden Laubes.
Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos überhöre; – wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben. Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wünsche ihn auch nicht über das normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu mauscheln. Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist von uns zwar durch Drahtwände getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen doch, zu uns herüberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ängstlich, dabei haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie verprügelte Bernhardiner.
Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckrüben, in sechs Teile geschnitten und in Wasser gekocht, Mohrrübenstrünke, die noch schmutzig sind; fleckige Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Höchste ist dünne Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
Trotzdem wird natürlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm gern abnehmen. Nur die Reste, die der Löffel nicht mehr erreicht, werden ausgespült und in die Abfalltonnen geschüttet. Dazu kommen dann manchmal einige Steckrübenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
Dieses dünne, trübe, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie schöpfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren Blusen fort.
Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen, breite Nasen, breite Lippen, breite Hände, wolliges Haar. Man müßte sie zum Pflügen und Mähen und Apfelpflücken verwenden. Sie sehen noch gutmütiger aus als unsere Bauern in Friesland.
Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen. Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja längst nicht satt zu essen. Sie haben Ruhr, mit ängstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige Hemdzipfel heraus. Ihre Rücken, ihre Nacken sind gekrümmt, die Knie geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, – betteln mit diesen weichen, leisen Bässen, die wie warme Öfen und Heimatstuben sind.
Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; – aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen vorbei. Mitunter, wenn sie sehr elend sind allerdings, gerät man darüber in Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen wollten, – was für ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsöhne bei uns, die von zu Hause Fettigkeiten geschickt erhalten, können sie sich leisten. Der Preis für ein Paar Stiefel ist ungefähr zwei bis drei Kommißbrote oder ein Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
Aber fast alle Russen haben längst ihre Sachen abgegeben, die sie hatten. Sie tragen nur noch erbärmliches Zeug und versuchen kleine Schnitzereien und Gegenstände, die sie aus Granatsplittern und Stücken von kupfernen Führungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen natürlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Mühe gemacht haben – sie gehen für ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zäh und schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stück Brot oder Wurst so lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken 174 ihre Beute mit all der Umständlichkeit, deren sie fähig sind, holen ihr dickes Taschenmesser heraus, schneiden langsam und bedächtig für sich selber einen Ranken Brot von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stück von der harten guten Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu sehen, man möchte ihnen auf die dicken Schädel trommeln. Sie geben selten etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.