* * *
Die Einschläge haben aufgehört. Ich drehe mich zum Trichter und winke den andern. Sie klettern herauf und reißen sich die Masken herunter. Wir umfassen den Verwundeten, einer nimmt seinen geschienten Arm. So stolpern wir hastig davon.
Der Friedhof ist ein Trümmerfeld. Särge und Leichen liegen verstreut. Sie sind noch einmal getötet worden; aber jeder von ihnen, der zerfetzt wurde, hat einen von uns gerettet.
Der Zaun ist verwüstet, die Schienen der Feldbahn drüben sind aufgerissen, sie starren hochgebogen in die Luft. Vor uns liegt jemand. Wir halten an, nur Kropp geht mit dem Verwundeten weiter.
Der am Boden ist ein Rekrut. Seine Hüfte ist blutverschmiert; er ist so erschöpft, daß ich nach meiner Feldflasche greife, in der ich Rum mit Tee habe. Kat hält meine Hand zurück und beugt sich über ihn:»Wo hat’s dich erwischt, Kamerad?«
Er bewegt die Augen; er ist zu schwach zum Antworten.
Wir schneiden vorsichtig die Hose auf. Er stöhnt.»Ruhig, ruhig, es wird ja besser -«
Wenn er einen Bauchschuß hat, darf er nichts trinken. Er hat nichts erbrochen, das ist günstig. Wir legen die Hüfte bloß. Sie ist ein einziger Fleischbrei mit Knochensplittern. Das Gelenk ist getroffen. Dieser Junge wird nie mehr gehen können.
Ich wische ihm mit dem befeuchteten Finger über die Schläfe und gebe ihm einen Schluck. In seine Augen kommt Bewegung. Jetzt erst sehen wir, daß auch der rechte Arm blutet.
Kat zerfasert zwei Verbandspäckchen so breit wie möglich, damit sie die Wunde decken. Ich suche nach Stoff, um ihn lose darüberzuwickeln. Wir haben nichts mehr, deshalb schlitze ich dem Verwundeten das Hosenbein weiter auf, um ein Stück seiner Unterhose als Binde zu verwenden. Aber er trägt keine.
Ich sehe ihn genauer an: es ist der Flachskopf von vorhin.
Kat hat inzwischen aus den Taschen eines Toten noch Päckchen geholt, die wir vorsichtig an die Wunde schieben. Ich sage dem Jungen, der uns unverwandt ansieht:»Wir holen jetzt eine Bahre.«
Da öffnet er den Mund und flüstert:»Hierbleiben -«Kat sagt:»Wir kommen ja gleich wieder. Wir holen für dich eine Bahre.«
Man kann nicht erkennen, ob er verstanden hat; er wimmert wie ein Kind hinter uns her:»Nicht weggehen -«Kat sieht sich um und flüstert:»Sollte man da nicht einfach einen Revolver nehmen, damit es aufhört?«Der Junge wird den Transport kaum überstehen, und höchstens kann es noch einige Tage mit ihm dauern. Alles bisher aber wird nichts sein gegen diese Zeit, bis er stirbt. Jetzt ist er noch betäubt und fühlt nichts. In einer Stunde wird er ein kreischendes Bündel unerträglicher Schmerzen werden. Die Tage, die er noch leben kann, bedeuten für ihn eine einzige rasende Qual. Und wem nützt es, ob er sie noch hat oder nicht – Ich nicke.»Ja, Kat, man sollte einen Revolver nehmen.«
»Gib her«, sagt er und bleibt stehen. Er ist entschlossen, ich sehe es. Wir blicken uns um, aber wir sind nicht mehr allein. Vor uns sammelt sich ein Häuflein, aus den Trichtern und Gräbern kommen Köpfe.
Wir holen eine Bahre.
Kat schüttelt den Kopf.»So junge Kerle«- Er wiederholt es:»So junge, unschuldige Kerle -«
* * *
Unsere Verluste sind geringer, als anzunehmen war: fünf Tote und acht Verwundete. Es war nur ein kurzer Feuerüberfall. Zwei von unseren Toten liegen in einem der aufgerissenen Gräber; wir brauchen sie bloß zuzubuddeln. Wir gehen zurück. Schweigend trotten wir im Gänsemarsch hintereinander her. Die Verwundeten werden zur Sanitätsstation gebracht. Der Morgen ist trübe, die Krankenwärter laufen mit Nummern und Zetteln, die Verletzten wimmern. Es beginnt zu regnen. Nach einer Stunde haben wir unsere Wagen erreicht und klettern hinauf. Jetzt ist mehr Platz als vorher da. Der Regen wird stärker. Wir breiten Zeltbahnen aus und legen sie auf unsere Köpfe. Das Wasser trommelt darauf nieder. An den Seiten fließen die Regensträhnen ab. Die Wagen platschen durch die Löcher, und wir wiegen uns im Halbschlaf hin und her.
Zwei Mann vorn im Wagen haben lange gegabelte Stücke bei sich. Sie achten auf die Telefondrähte, die quer über die Straße hängen, so tief, daß sie unsere Köpfe wegreißen können. Die beiden Leute fangen sie mit ihren gegabelten Stöcken auf und heben sie über uns hinweg. Wir hören ihren Ruf:»Achtung – Draht«, und im Halbschlaf gehen wir in die Kniebeuge und richten uns wieder auf. Monoton pendeln die Wagen, monoton sind die Rufe, monoton rinnt der Regen. Er rinnt auf unsere Köpfe und auf die Köpfe der Toten vorn, auf den Körper des kleinen Rekruten mit der Wunde, die viel zu groß für seine Hüfte ist, er rinnt auf das Grab Kemmerichs, er rinnt auf unsere Herzen.
Ein Einschlag hallt irgendwo. Wir zucken auf, die Augen sind gespannt, die Hände wieder bereit, um die Körper über die Wände des Wagens in den Straßengraben zu werfen.
Es kommt nichts weiter. – Monoton nur die Rufe:»Achtung
– Draht«- wir gehen in die Knie, wir sind wieder im Halbschlaf.
5.
Es ist beschwerlich, die einzelne Laus zu töten, wenn man Hunderte hat. Die Tiere sind etwas hart, und das ewige Knipsen mit den Fingernägeln wird langweilig. Tjaden hat deshalb den Deckel einer Schuhputzschachtel mit Draht über einem brennenden Kerzenstumpf befestigt. In diese kleine Pfanne werden die Läuse einfach hineingeworfen – es knackt, und sie sind erledigt.
Wir sitzen rundherum, die Hemden auf den Knien, den Oberkörper nackt in der warmen Luft, die Hände bei der Arbeit. Haie hat eine besonders feine Art von Läusen: sie haben ein rotes Kreuz auf dem Kopf. Deshalb behauptet er, sie aus dem Lazarett in Thourhout mitgebracht zu haben, sie seien von einem Oberstabsarzt persönlich. Er will auch das sich langsam in dem Blechdeckel ansammelnde Fett zum Stiefelschmieren benutzen und brüllte eine halbe Stunde lang vor Lachen über seinen Witz. Doch heute hat er wenig Erfolg; etwas anderes beschäftigt uns zu sehr.
Das Gerücht ist Wahrheit geworden. Himmelstoß ist da. Gestern ist er erschienen, wir haben seine wohlbekannte Stimme schon gehört. Er soll zu Hause ein paar junge Rekruten zu kräftig im Sturzacker gehabt haben. Ohne daß er es wußte, war der Sohn des Regierungspräsidenten dabei. Das brach ihm das Genick.
Hier wird er sich wundern. Tjaden erörtert seit Stunden alle Möglichkeiten, wie er ihm antworten will. Haie sieht nachdenklich seine große Flosse an und kneift mir ein Auge. Die Prügelei war der Höhepunkt seines Daseins; er hat mir erzählt, daß er noch manchmal davon träumt.
* * *
Kropp und Müller unterhalten sich. Kropp hat als einziger ein Kochgeschirr voll Linsen erbeutet, wahrscheinlich bei der Pionierküche. Müller schielt gierig hin, beherrscht sich aber und fragt:»Albert, was würdest du tun, wenn jetzt mit einemmal Frieden wäre?«
»Frieden gibt’s nicht!«äußert Albert kurz.
»Na, aber wenn -«, beharrt Müller,»was würdest du machen?«
»Abhauen!«knurrt Kropp.
»Das ist klar. Und dann?«
»Mich besaufen«, sagt Albert.
»Rede keinen Quatsch, ich meine es ernst -«
»Ich auch«, sagt Albert,»was soll man denn anders machen.«
Kat interessiert sich für die Frage. Er fordert von Kropp seinen Tribut an den Linsen, erhält ihn, überlegt dann lange und meint:»Besaufen könnte man sich ja, sonst aber auf die nächste Eisenbahn – und ab nach Muttern. Mensch, Frieden, Albert -«
Er kramt in seiner Wachstuchbrieftasche nach einer Fotografie und zeigt sie stolz herum.»Meine Alte!«Dann packt er sie weg und flucht:»Verdammter Lausekrieg -«
»Du kannst gut reden«, sage ich.»Du hast deinen Jungen und deine Frau.«
»Stimmt«, nickt er,»ich muß dafür sorgen, daß sie was zu essen haben.«