»Aber Franz«- ich umfasse seine Schulter und lege mein Gesicht an seins.»Willst du jetzt schlafen?«Er antwortet nicht. Die Tränen laufen ihm die Backen herunter. Ich möchte sie abwischen, aber mein Taschentuch ist zu schmutzig.
Eine Stunde vergeht. Ich sitze gespannt und beobachte jede seiner Mienen, ob er vielleicht noch etwas sagen möchte. Wenn er doch den Mund auftun und schreien wollte! Aber er weint nur, den Kopf zur Seite gewandt. Er spricht nicht von seiner Mutter und seinen Geschwistern, er sagt nichts, es liegt wohl schon hinter ihm; – er ist jetzt allein mit seinem kleinen neunzehnjährigen Leben und weint, weil es ihn verläßt.
Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen habe, obwohl es bei Tiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brüllte, ein bärenstarker Kerl, und der den Arzt mit aufgerissenen Augen angstvoll mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
Plötzlich stöhnt Kemmerich und fängt an zu röcheln. Ich springe auf, stolpere hinaus und frage:»Wo ist der Arzt? Wo ist der Arzt?«
Als ich den weißen Kittel sehe, halte ich ihn fest.»Kommen Sie rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst.«
Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen:»Was soll das heißen?«
Der sagt:»Bett 26, Oberschenkel amputiert.«Er schnauzt:»Wie soll ich davon etwas wissen, ich habe heute fünf Beine amputiert«, schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen:»Sehen Sie nach«, und rennt zum Operationssaal.
Ich bebe vor Wut, als ich mit dem Sanitäter gehe. Der Mann sieht mich an und sagt:»Eine Operation nach der andern, seit morgens fünf Uhr – doll, sage ich dir, heute allein wieder sechzehn Abgänge – deiner ist der siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll -«
Mir wird schwach, ich kann plötzlich nicht mehr. Ich will nicht mehr schimpfen, es ist sinnlos, ich möchte mich fallen lassen und nie wieder aufstehen.
Wir sind am Bette Kemmerichs. Er ist tot. Das Gesicht ist noch naß von den Tränen. Die Augen stehen halb offen, sie sind gelb wie alte Hornknöpfe. – Der Sanitäter stößt mich in die Rippen.
»Nimmst du seine Sachen mit?«
Ich nicke.
Er fährt fort:»Wir müssen ihn gleich wegbringen, wir brauchen das Bett. Draußen liegen sie schon auf dem Flur.«
Ich nehme die Sachen und knöpfe Kemmerich die Erkennungsmarke ab. Der Sanitäter fragt nach dem Soldbuch. Es ist nicht da. Ich sage, daß es wohl auf der Schreibstube sein müsse, und gehe. Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
Vor der Tür fühle ich wie eine Erlösung das Dunkel und den Wind. Ich atme, so sehr ich es vermag, und spüre die Luft warm und weich wie nie in meinem Gesicht. Gedanken an Mädchen, an blühende Wiesen, an weiße Wolken fliegen mir plötzlich durch den Kopf. Meine Füße bewegen sich in den Stiefeln vorwärts, ich gehe schneller, ich laufe. Soldaten kommen an mir vorüber, ihre Gespräche erregen mich, ohne daß ich sie verstehe. Die Erde ist von Kräften durchflossen, die durch meine Fußsohlen in mich überströmen. Die Nacht knistert elektrisch, die Front gewittert dumpf wie ein Trommelkonzert. Meine Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fühle meine Gelenke stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt, ich lebe. Ich spüre Hunger, einen größeren als nur vom Magen. – Müller steht vor der Baracke und erwartet mich. Ich gebe ihm die Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau. – Er kramt in seinen Vorräten und bietet mir ein schönes Stück Zervelatwurst an. Dazu gibt es heißen Tee mit Rum.
3.
Wir bekommen Ersatz. Die Lücken werden ausgefüllt, und die Strohsäcke in den Baracken sind bald belegt. Zum Teil sind es alte Leute, aber auch fünfundzwanzig Mann junger Ersatz aus den Feldrekrutendepots werden uns überwiesen. Sie sind fast ein Jahr jünger als wir. Kropp stößt mich an:»Hast du die Kinder gesehen?«
Ich nicke. Wir werfen uns in die Brust, lassen uns auf dem Hof rasieren, stecken die Hände in die Hosentaschen, sehen uns die Rekruten an und fühlen uns als steinaltes Militär.
Katczinsky schließt sich uns an. Wir wandern durch die Pferdeställe und kommen zu den Ersatzleuten, die gerade Gasmasken und Kaffee empfangen. Kat fragt einen der jüngsten:»Habt wohl lange nichts Vernünftiges zu futtern gekriegt, was?«
Der verzieht das Gesicht.»Morgens Steckrübenbrot – mittags Steckrübengemüse, abends Steckrübenkoteletts und Steckrübensalat.«
Katczinsky pfeift fachmännisch.»Brot aus Steckrüben? Da habt ihr Glück gehabt, sie machen es auch schon aus Sägespänen. Aber was meinst du zu weißen Bohnen, willst du einen Schlag haben?«
Der Junge wird rot.»Verkohlen brauchst du mich nicht.«Katczinsky antwortet nichts als:»Nimm dein Kochgeschirr.«
Wir folgen neugierig. Er führt uns zu einer Tonne neben seinem Strohsack. Sie ist tatsächlich halb voll weißer Bohnen mit Rindfleisch. Katczinsky steht vor ihr wie ein General und sagt:»Auge auf, Finger lang! Das ist die Parole bei den Preußen.«
Wir sind überrascht. Ich frage:»Meine Fresse, Kat, wie kommst du denn dazu?«
»Die Tomate war froh, als ich ihr’s abnahm. Ich habe drei Stück Fallschirmseide dafür gegeben. Na, weiße Bohnen schmecken kalt doch tadellos.«
Er gibt gönnerhaft dem Jungen eine Portion auf und sagt:»Wenn du das nächstemal hier antrittst mit deinem Kochgeschirr, hast du in der linken Hand eine Zigarre oder einen Priem. Verstanden?«
Dann wendet er sich zu uns.»Ihr kriegt natürlich so.«
* * *
Katczinsky ist nicht zu entbehren, weil er einen sechsten Sinn hat. Es gibt überall solche Leute, aber niemand sieht ihnen von vornherein an, daß es so ist. Jede Kompanie hat einen oder zwei davon. Katczinsky ist der gerissenste, den ich kenne. Von Beruf ist er, glaube ich, Schuster, aber das tut nichts zur Sache, er versteht jedes Handwerk. Es ist gut, mit ihm befreundet zu sein. Wir sind es, Kropp und ich, auch Haie Westhus gehört halb und halb dazu. Er ist allerdings schon mehr ausführendes Organ, denn er arbeitet unter dem Kommando Kats, wenn eine Sache geschmissen wird, zu der man Fäuste braucht. Dafür hat er dann seine Vorteile.
Wir kommen zum Beispiel nachts in einen völlig unbekannten Ort, ein trübseliges Nest, dem man gleich ansieht, daß es ausgepowert ist bis auf die Mauern. Quartier ist eine kleine, dunkle Fabrik, die erst dazu eingerichtet worden ist. Es stehen Betten darin, vielmehr nur Bettstellen, ein paar Holzlatten, die mit Drahtgeflecht bespannt sind. Drahtgeflecht ist hart. Eine Decke zum Unterlegen haben wir nicht, wir brauchen unsere zum Zudecken. Die Zeltbahn ist zu dünn.
Kat sieht sich die Sache an und sagt zu Haie Westhus:»Komm mal mit.«Sie gehen los, in den völlig unbekannten Ort hinein. Eine halbe Stunde später sind sie wieder da, die Arme hoch voll Stroh. Kat hat einen Pferdestall gefunden und damit das Stroh. Wir könnten jetzt warm schlafen, wenn wir nicht noch einen so entsetzlichen Kohldampf hätten.
Kropp fragt einen Artilleristen, der schon länger in der Gegend ist:»Gibt es hier irgendwo eine Kantine?«Der lacht:»Hat sich was! Hier ist nichts zu holen. Keine Brotrinde holst du hier.«»Sind denn keine Einwohner mehr da?«Er spuckt aus.»Doch, ein paar. Aber die lungern selbst um jeden Küchenkessel herum und betteln.«Das ist eine böse Sache. Dann müssen wir eben den Schmachtriemen enger schnallen und bis morgen warten, wenn die Furage kommt. Ich sehe jedoch, wie Kat seine Mütze aufsetzt, und frage:»Wo willst du hin, Kat?«
»Mal etwas die Lage spannen.«Er schlendert hinaus. Der Artillerist grinst höhnisch.»Spann man! Verheb dich nicht dabei.«
Enttäuscht legen wir uns hin und überlegen, ob wir die eisernen Portionen anknabbern sollen. Aber es ist uns zu riskant. So versuchen wir ein Auge voll Schlaf zu nehmen.