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Und selbst wenn man sie uns wiedergäbe, diese Landschaft unserer Jugend, wir würden wenig mehr mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und geheimen Kräfte, die von ihr zu uns gingen, können nicht wiedererstehen. Wir würden in ihr sein und in ihr umgehen; wir würden uns erinnern und sie lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber es wäre das gleiche, wie wenn wir nachdenklich werden vor der Fotografie eines toten Kameraden; es sind seine Züge, es ist sein Gesicht, und die Tage, die wir mit ihm zusammen waren, gewinnen ein trügerisches Leben in unserer Erinnerung; aber er ist es nicht selbst.

Wir würden nicht mehr verbunden sein mit ihr, wie wir es waren. Nicht die Erkenntnis ihrer Schönheit und ihrer Stimmung hat uns ja angezogen, sondern das Gemeinsame, dieses Gleichfühlen einer Brüderschaft mit den Dingen und Vorfällen unseres Seins, die uns abgrenzte und uns die Welt unserer Eltern immer etwas unverständlich machte; – denn wir waren irgendwie immer zärtlich an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mündete uns einmal immer den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das Vorrecht unserer Jugend – wir sahen noch keine Bezirke, und nirgendwo gaben wir ein Ende zu; wir hatten die Erwartung des Blutes, die uns eins machte mit dem Verlauf unserer Tage.

Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie Reisende. Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie Händler und Notwendigkeiten wie Schlächter. Wir sind nicht mehr unbekümmert – wir sind fürchterlich gleichgültig. Wir würden da sein; aber würden wir leben?

Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.

* * *

Meine Hände werden kalt, und meine Haut schauert; dabei ist es eine warme Nacht. Nur der Nebel ist kühl, dieser unheimliche Nebel, der die Toten vor uns beschleicht und ihnen das letzte, verkrochene Leben aussaugt. Morgen werden sie bleich und grün sein und ihr Blut gestockt und schwarz.

Immer noch steigen die Leuchtschirme empor und werfen ihr erbarmungsloses Licht über die versteinerte Landschaft, die voll Krater und Lichtkälte ist wie ein Mond. Das Blut unter meiner Haut bringt Furcht und Unruhe herauf in meine Gedanken. Sie werden schwach und zittern, sie wollen Wärme und Leben. Sie können es nicht aushaken ohne Trost und Täuschung, sie verwirren sich vor dem nackten Bilde der Verzweiflung.

Ich höre das Klappern von Kochgeschirren und habe sofort das heftige Verlangen nach warmem Essen, es wird mir gut tun und mich beruhigen. Mit Mühe zwinge ich mich, zu warten, bis ich abgelöst werde.

Dann gehe ich in den Unterstand und finde einen Becher mit Graupen vor. Sie sind fett gekocht und schmecken gut, ich esse sie langsam. Aber ich bleibe still, obschon die andern besser gelaunt sind, weil das Feuer eingeschlafen ist.

* * *

Die Tage gehen hin, und jede Stunde ist unbegreiflich und selbstverständlich. Die Angriffe wechseln mit Gegenangriffen, und langsam häufen sich auf dem Trichterfeld zwischen den Gräben die Toten. Die Verwundeten, die nicht sehr weit weg liegen, können wir meistens holen. Manche aber müssen lange liegen, und wir hören sie sterben.

Einen suchen wir vergeblich zwei Tage hindurch. Er muß auf dem Bauche liegen und sich nicht mehr umdrehen können. Anders ist es nicht zu erklären, daß wir ihn nicht finden; denn nur wenn man mit dem Munde dicht auf dem Boden schreit, ist die Richtung so schwer festzustellen.

Er wird einen bösen Schuß haben, eine dieser schlimmen Verletzungen, die nicht so stark sind, daß sie den Körper rasch derart schwächen, daß man halb betäubt verdämmert, und auch nicht so leicht, daß man die Schmerzen mit der Aussicht ertragen kann, wieder heil zu werden. Kat meint, er hätte entweder eine Beckenzertrümmerung oder einen Wirbelsäulenschuß. Die Brust sei nicht verletzt, sonst besäße er nicht so viel Kraft zum Schreien. Man müßte ihn bei einer anderen Verletzung sich auch bewegen sehen.

Er wird allmählich heiser. Die Stimme ist so unglücklich im Klang, daß sie überall herkommen könnte. In der ersten Nacht sind dreimal Leute von uns draußen. Aber wenn sie glauben, die Richtung zu haben, und schon hinkriechen, ist die Stimme beim nächstenmal, wenn sie horchen, wieder ganz anderswo.

Bis in die Dämmerung hinein suchen wir vergeblich.

Tagsüber wird das Gelände mit Gläsern durchforscht; nichts ist zu entdecken. Am zweiten Tag wird der Mann leiser; man merkt, daß die Lippen und der Mund vertrocknet sind.

Unser Kompanieführer hat dem, der ihn findet, Vorzugsurlaub und drei Tage Zusatz versprochen. Das ist ein mächtiger Anreiz, aber wir würden auch ohne das tun, was möglich ist; denn das Rufen ist furchtbar. Kat und Kropp gehen sogar nachmittags noch einmal vor. Albert wird das Ohrläppchen dabei abgeschossen. Es ist umsonst, sie haben ihn nicht bei sich.

Dabei ist deutlich zu verstehen, was er ruft. Zuerst hat er immer nur um Hilfe geschrien – in der zweiten Nacht muß er etwas Fieber haben, er spricht mit seiner Frau und seinen Kindern, wir können oft den Namen Elise heraushören. Heute weint er nur noch. Abends erlischt die Stimme zu einem Krächzen. Aber er stöhnt noch die ganze Nacht leise. Wir hören es so genau, weil der Wind auf unsern Graben zusteht. Morgens, als wir schon glauben, er habe längst Ruhe, dringt noch einmal ein gurgelndes Röcheln herüber – Die Tage sind heiß, und die Toten liegen unbeerdigt. Wir können sie nicht alle holen, wir wissen nicht, wohin wir mit ihnen sollen. Sie werden von den Granaten beerdigt. Manchen treiben die Bäuche auf wie Ballons. Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen. Der Himmel ist blau und ohne Wolken. Abends wird es schwül, und die Hitze steigt aus der Erde. Wenn der Wind zu uns herüberweht, bringt er den Blutdunst mit, der schwer und widerwärtig süßlich ist, diesen Totenbrodem der Trichter, der aus Chloroform und Verwesung gemischt scheint und uns Übelkeiten und Erbrechen verursacht.

* * *

Die Nächte werden ruhig, und die Jagd auf die kupfernen

Führungsringe der Granaten und die Seidenschirme der französischen Leuchtkugeln geht los. Weshalb die Führungsringe so begehrt sind, weiß eigentlich keiner recht. Die Sammler behaupten einfach, sie seien wertvoll. Es gibt Leute, die so viel davon mitschleppen, daß sie krumm und schief darunter gehen, wenn wir abrücken.

Haie gibt wenigstens einen Grund an; er will sie seiner Braut als Strumpfbänderersatz schicken. Darüber bricht bei den Friesen natürlich unbändige Heiterkeit aus; sie schlagen sich auf die Knie, das ist ein Witz, Donnerwetter, der Haie, der hat es hinter den Ohren. Besonders Tjaden kann sich gar nicht fassen; er hat den größten der Ringe in der Hand und steckt alle Augenblicke sein Bein hindurch, um zu zeigen, wieviel da noch frei ist.»Haie, Mensch, die muß ja Beine haben, Beine«- seine Gedanken klettern etwas höher -,»und einen Hintern muß die dann ja haben, wie – wie ein Elefant.«

Er kann sich nicht genug tun.»Mit der möchte ich mal Schinkenkloppen spielen, meine Fresse…«

Haie strahlt, weil seine Braut soviel Anerkennung findet, und äußert selbstzufrieden und knapp:»Stramm isse!«

Die Seidenschirme sind praktischer zu verwerten. Drei oder vier ergeben eine Bluse, je nach der Brustweite. Kropp und ich brauchen sie als Taschentücher. Die andern schicken sie nach Hause. Wenn die Frauen sehen könnten, mit wieviel Gefahr diese dünnen Lappen oft geholt werden, würden sie einen schönen Schreck kriegen. Kat überrascht Tjaden, wie er von einem Blindgänger in aller Seelenruhe die Ringe abzuklopfen versucht. Bei jedem andern wäre das Ding explodiert, Tjaden hat wie stets Glück.

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