Pat stand vorgebeugt und lauschte, solange noch etwas zu vernehmen war. Dann wandte sie sich mir zu.»Jetzt ist das letzte Schiff abgefahren, Robby.«
»Das zweitletzte«, erwiderte ich.»Das letzte bin ich. Und weißt du, was ich vorhabe? Ich will mir einen andern Ankerplatz suchen. Das Zimmer in der Dependance gefällt mir nicht mehr. Ich sehe nicht ein, weshalb wir nicht zusammen wohnen können. Werde mal versuchen, ein Zimmer in deiner Nähe zu bekommen.«
Sie lächelte.»Ausgeschlossen! Kriegst du nicht! Wie willst du das machen?«
»Freust du dich, wenn ich es schaffe?«
»Was für eine Frage! Es wäre herrlich, Liebling. Fast wie bei Mutter Zalewski!«
»Gut, dann laß mich mal jetzt eine halbe Stunde arbeiten!«
»Schön. Ich spiele so lange mit Antonio Schach. Das habe ich hier gelernt.«
Ich ging ins Büro und erklärte, daß ich längere Zeit bliebe und ein Zimmer in Pats Etage haben möchte. Eine ältere Dame ohne Busen sah mich indigniert an und lehnte meinen Wunsch auf Grund der Hausordnung ab.
»Wer hat die Hausordnung gemacht?«fragte ich.
»Die Direktion«, gab die Dame zurück und strich die Falten ihres Kleides glatt.
Ziemlich widerwillig teilte sie mir schließlich mit, daß der Chefarzt über Ausnahmen zu entscheiden habe.»Er ist aber nicht mehr da«, fügte sie hinzu.»Und abends darf er nur dienstlich gestört werden.«
»Schön«, sagte ich,»dann werde ich ihn mal dienstlich stören. In Sachen der Hausordnung.«
Der Chefarzt wohnte in einem kleinen Hause neben dem Sanatorium. Er empfing mich gleich und gab mir sofort die Erlaubnis.»So leicht habe ich mir das nach dem Anfang nicht vorgestellt«, sagte ich.
Er lachte.»Aha, die alte Rexroth hat Sie wohl erwischt? Na, ich werde gleich mal telefonieren.«
Ich ging zurück ins Büro. Die alte Rexroth verschwand würdig, als sie mein herausforderndes Gesicht erblickte. Ich regelte alles mit der Sekretärin und gab dem Hausknecht Auftrag, mein Gepäck herüberzuschaffen und mir ein paar Flaschen zu trinken zu besorgen. Dann ging ich zu Pat in die Halle.
»Hast du's geschafft?«fragte sie.
»Noch nicht, aber in ein paar Tagen werde ich's schon erreichen.«
»Schade.«Sie warf die Schachfiguren um und stand auf.
»Was wollen wir machen?«fragte ich.»In die Bar gehen?«»Wir spielen abends oft Karten«, sagte Antonio.»Es gibt Föhn, das spürt man. Da ist Kartenspielen das Bequemste.«
»Kartenspielen? Pat?«fragte ich verwundert.»Was kannst du denn für Kartenspiele? Schwarzer Peter und Patience, was?«
»Poker, Liebling«, erklärte Pat.
Ich lachte.»Tatsächlich, sie kann es«, sagte Antonio.»Sie ist nur zu waghalsig. Sie blufft furchtbar.«
»Ich auch«, erwiderte ich.»Das müssen wir doch mal versuchen.«
Wir setzten uns in eine Ecke und begannen zu spielen. Pat pokerte gar nicht schlecht. Sie bluffte wirklich, daß die Fetzen flogen. Nach einer Stunde zeigte Antonio auf die Landschaft draußen vor dem Fenster. Es schneite. Langsam, als zögerten sie noch, fielen die dicken Flocken fast senkrecht herunter.
»Es ist ganz windstill«, sagte Antonio.»Das gibt viel Schnee.«
»Wo mag Köster jetzt sein?«fragte Pat.
»Er ist schon über den Hauptpaß weg«, sagte ich. Einen Augenblick sah ich Karl ganz deutlich vor mir, wie er mit Köster durch die weiße Nacht zog, und alles kam mir plötzlich etwas unwirklich vor – daß ich hier saß, daß Köster unterwegs war und daß Pat da war. Sie lächelte mich glücklich an, die Hand mit den Karten auf den Tisch gestemmt.»Los, Robby!«
Die Kanonenkugel strich durch die Halle, blieb hinter unserm Tisch stehen und begann wohlwollend zu kiebitzen. Wahrscheinlich schlief die Frau, und er suchte Unterhaltung. Ich legte die Karten hin und starrte ihn giftig an, bis er verschwand.
»Freundlich bist du nicht«, sagte Pat vergnügt.
»Nein«, erwiderte ich.»Will ich auch nicht sein.«
Wir gingen noch in die Bar und tranken ein paar Spezial.
Dann mußte Pat schlafen. Ich verabschiedete mich in der Halle von ihr. Sie schritt langsam die Treppe hinauf und sah sich um und blieb stehen, bevor sie in den Korridor einbog. Ich wartete etwas, dann ließ ich mir im Büro meinen Zimmerschlüssel geben. Die kleine Sekretärin lächelte.
»Nummer achtundsiebzig«, erklärte sie.
Es war das Zimmer neben Pat.»Auf Veranlassung von Fräulein Rexroth etwa?«fragte ich.
»Nein, Fräulein Rexroth ist im Missionshaus«, erwiderte sie.
»Missionshäuser sind manchmal ein Segen«, sagte ich und ging rasch hinauf. Meine Sachen waren schon ausgepackt. Eine halbe Stunde später klopfte ich an die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern.»Wer ist da?«rief Pat.
»Die Sittenpolizei«, erwiderte ich.
Der Schlüssel knirschte, und die Tür flog auf.»Du, Robby?«stammelte Pat fassungslos.»Ich!«sagte ich.»Der Besieger von Fräulein Rexroth! Der Kognak- und Porto-Ronco-Besitzer!«Ich zog die Flaschen aus den Taschen meines Bademantels.»Und nun sag mir sofort, wieviel Männer hier schon gewesen sind.«
»Niemand, außer dem Fußballklub und dem verstärkten philharmonischen Orchester«, erklärte Pat lachend.»Ach, Liebling, jetzt sind die alten Zeiten wieder da!«
Sie schlief an meiner Schulter ein. Ich blieb noch lange wach. In einer Ecke des Zimmers brannte eine kleine Lampe. Die Schneeflocken klopften leise gegen das Fenster, und die Zeit schien stillzustehen in dieser matten braungoldenen Dämmerung. Es war sehr warm im Zimmer. Manchmal knackten die Röhren der Zentralheizung. Pat bewegte sich im Schlaf, und langsam, knisternd, rutschten die Decken herunter auf den Boden. Ach, dachte ich, bronzen schimmernde Haut! Schmales Wunder der Knie! Zartes Geheimnis der Brust! Ich fühlte ihr Haar an meiner Schulter und spürte unter meinen Lippen den Puls ihrer Hand klopfen. Du solltest sterben, dachte ich. Du kannst nicht sterben. Du bist das Glück.
Vorsichtig zog ich die Decke wieder herauf. Pat murmelte etwas und verstummte wieder und schob langsam, im Schlaf, ihre Hand um meinen Nacken.
XXVII
Die nächsten Tage schneite es ununterbrochen. Pat hatte Fieber und mußte im Bett bleiben. Viele im Hause hatten Fieber.
»Es ist das Wetter«, sagte Antonio.»Zu warm und föhnig. Richtiges Fieberwetter.«
»Liebling, geh ein bißchen 'raus«, sagte Pat.»Kannst du Schifahren?«
»Nein. Wie sollte ich das können? Ich war ja nie im Gebirge.«
»Antonio wird es dir beibringen. Es macht ihm Spaß. Er mag dich gern.«
»Ich bleibe viel lieber hier.«
Sie richtete sich im Bett auf. Das Nachthemd fiel von ihren Schultern.
Verdammt schmal waren sie. Verdammt schmal war auch der Nacken.
»Robby«, sagte sie,»tu's mir zuliebe. Ich möchte nicht gern, daß du hier so am Krankenbett sitzt. Gestern und vorgestern, das war schon mehr als genug.«
»Ich sitze gern hier«, erwiderte ich.»Habe gar keine Sehnsucht, in den Schnee zu gehen.«
Sie atmete laut, und ich hörte das unregelmäßige Scharren des Atems.»Ich habe darin mehr Erfahrung als du«, sagte sie und stützte sich auf die Ellbogen.»Es ist besser für uns beide. Du wirst es nachher sehen.«Sie lächelte mühsam.»Heute nachmittag und heute abend kannst du noch genug hier sitzen. Morgens macht es mich unruhig, Liebling. Man sieht schrecklich aus, morgens, wenn man Fieber hat.
Abends ist das ganz anders. Ich bin oberflächlich und dumm – ich will nicht häßlich sein, wenn du mich siehst.«»Aber Pat!«Ich stand auf.»Also gut, ich gehe ein bißchen mit Antonio 'raus. Mittags bin ich dann wieder hier. Hoffentlich breche ich mir nicht alle Knochen mit diesen Schidingern.«»Du wirst es rasch lernen, Liebling.«Ihr Gesicht verlor die ängstliche Spannung.»Du wirst sehr schnell wunderbar laufen.«»Und du willst mich sehr schnell wunderbar hier 'raus haben«, sagte ich und küßte sie. Ihre Hände waren feucht und heiß und ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Antonio wohnte im zweiten Stock. Er lieh mir ein Paar Schuhe und Schier. Sie paßten, denn wir waren gleich groß. Wir gingen zur Übungswiese, die ein Stück hinter dem Dorf lag. Antonio blickte mich unterwegs forschend an.»Fieber macht unruhig«, sagte er.»Sonderbare Sachen sind hier an solchen Tagen manchmal schon passiert.«Er legte die Schier vor sich hin und machte sie fest.»Das schlimmste ist das Warten und das Nichtstunkönnen. Das macht verrückt und kaputt.«»Die Gesunden auch«, erwiderte ich.»Dabeistehen zu müssen und nichts tun können.«Er nickte.»Manche von uns arbeiten«, fuhr er fort,»manche lesen ganze Bibliotheken leer. Aber viele werden auch wieder zu einer Schulklasse, die die Liegekur schwänzt wie früher die Turnstunde, und angstvoll kichernd in Läden und Konditoreien flüchtet, wenn der Arzt zufällig vorbeikommt. Heimliches Rauchen, heimliches Trinken, verbotener Budenzauber, Klatsch und dumme Streiche – damit retten sie sich über die Leere hinweg. Und über die Wahrheit. Ein spielerisches, leichtsinniges und wohl auch heroisches Ignorieren des Todes. Was bleibt ihnen schließlich auch anderes übrig.«