Er trank einen Schluck und sah mich mit seinen riesigen blauen Augen an, die wie ein Stück Himmel in dem zerklüfteten Gesicht saßen.»Nie zuviel wissen wollen, Robby! Je weniger man weiß, desto einfacher ist es, zu leben. Wissen macht frei – aber unglücklich. Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört – auf die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück -, auf die herrliche Dummheit, das verlorene Paradies…«
Er saß schwer und massig da, plötzlich in sich selbst und seine Trunkenheit versunken, wie ein einsamer Hügel von unangreifbarer Schwermut. Sein Leben war kaputt, und er wußte, daß er es nicht mehr zusammenbringen konnte. Er hauste in seinem großen Atelier und hatte ein Verhältnis mit seiner Haushälterin. Die Frau war fest und derb. Grau dagegen, trotz seines mächtigen Körpers, empfindsam und haltlos. Er kam nicht los von ihr, und es war ihm wohl auch schon egal. Er war zweiundvierzig Jahre alt.
Obschon ich wußte, daß es die Betrunkenheit war, fühlte ich doch einen leisen, merkwürdigen Schauer, als ich ihn so sah. Er kam nicht oft und trank fast immer allein in seinem Atelier. Das bringt einen rasch 'runter.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drückte mir ein Glas in die Hand.»Trink, Robby. Und rette dich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«
»Gut, Ferdinand!«
Lenz zog das Grammophon auf. Er hatte einen Haufen Negerplatten und spielte ein paar – vom Mississippi, von Baumwollpflückern und von den schwülen Nächten an den blauen tropischen Flüssen.
VI
Patrice Hollmann wohnte in einem großen gelben Häuserblock, der durch ein schmales Rasenstück von der Straße getrennt war. Vor dem Eingang stand eine Laterne. Ich parkte den Cadillac direkt darunter. Er sah in dem bewegten Licht aus wie ein mächtiger Elefant aus fließendem schwarzem Glanz.
Ich hatte meine Garderobe noch weiter vervollständigt. Zu der Krawatte hatte ich noch einen neuen Hut und ein Paar Handschuhe gekauft – außerdem trug ich einen Ulster von Lenz, ein herrliches graues Stück aus feinster Shetlandwolle. So ausgerüstet, wollte ich meinen ersten säuferischen Eindruck nachdrücklich in die Flucht schlagen.
Ich hupte. Gleich darauf flammte wie eine Rakete in fünf Fenstern übereinander die Treppenbeleuchtung auf. Der Lift begann zu summen. Ich sah ihn herunterschweben wie einen hellen Förderkorb, der vom Himmel herabgelassen wurde. Patrice Hollmann öffnete die Tür und kam rasch die Treppe herunter. Sie trug eine kurze braune Pelzjacke und einen engen braunen Rock.
»Hallo!«Sie streckte mir die Hand entgegen.»Ich freue mich so, herauszukommen. Ich war den ganzen Tag zu Hause.«
Ich hatte gern, wie sie die Hand gab – mit einem Druck, der kräftiger war, als man vermutete. Ich haßte Leute, die einem schlaff die Hand hinhielten wie einen toten Fisch.
»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt«, erwiderte ich.»Ich hätte Sie dann schon mittags abgeholt.«
»Haben Sie denn soviel Zeit?«
»Das nicht. Aber ich hätte mich schon frei gemacht.«
Sie holte tief Atem.»Wunderbare Luft! Es riecht nach Frühling.«
»Wenn Sie Lust haben, können wir in der Luft herumfahren, soviel Sie wollen«, sagte ich,»nach draußen, vor die Stadt, durch den Wald – ich habe einen Wagen mitgebracht.«Damit zeigte ich so nachlässig auf den Cadillac, als wäre er ein alter Ford.
»Der Cadillac?«Überrascht sah sie mich an.»Gehört der Ihnen?«
»Heute abend, ja. Sonst gehört er unserer Werkstatt. Wir haben ihn aufgearbeitet und wollen das Geschäft unseres Lebens damit machen.«Ich öffnete die Tür.»Wollen wir zuerst in die ›Traube‹ fahren und essen? Was meinen Sie dazu?«
»Essen schon, aber wozu gerade in der ›Traube‹?«
Ich sah verdutzt auf. Die»Traube«war das einzige elegante Restaurant, das ich kannte.
»Offen gestanden«, sagte ich,»etwas anderes weiß ich nicht. Ich denke auch, der Cadillac verpflichtet uns etwas.«
Sie lachte.»In der ›Traube‹ ist es bestimmt steif und langweilig. Gehen wir doch woanders hin!«
Ich stand ratlos da. Meine seriösen Träume lösten sich in Dunst auf.
»Dann müssen Sie schon etwas vorschlagen«, sagte ich.»Die Lokale, die ich nämlich sonst noch kenne, sind etwas handfest. Ich glaube, das ist nichts für Sie.«
»Warum glauben Sie das?«
»Das sieht man doch so ungefähr…«
Sie blickte mich rasch an.»Wir können es ja mal versuchen.«
»Gut.«Ich warf entschlossen mein ganzes Programm um.
»Dann weiß ich was, wenn Sie nicht schreckhaft sind. Wir gehen zu Alfons.«
»Alfons klingt schon sehr gut«, erwiderte sie,»und schreckhaft bin ich heute abend auch nicht.«
»Alfons ist ein Bierwirt«, sagte ich,»ein guter Freund von Lenz.«
Sie lachte.»Lenz hat wohl überall Freunde?«
Ich nickte.»Er findet sie auch leicht. Das haben Sie ja bei Binding gesehen.«
»Ja, weiß Gott«, erwiderte sie.»Das ging ja wie der Blitz.«
Wir fuhren los.
Alfons war ein schwerer, ruhiger Mann. Vorstehende Backenknochen. Kleine Augen. Aufgekrempelte Hemdsärmel. Arme wie ein Gorilla. Er warf jeden, der ihm in seiner Kneipe nicht paßte, selbst 'raus. Auch die Mitglieder des Sportvereins Heimattreue. Für sehr schwierige Gäste hatte er einen Hammer unter der Theke bereit. Das Lokal lag praktisch; dicht beim Krankenhaus. Alfons sparte so die Transportkosten.
Er wischte mit der behaarten Tatze über die helle Tischplatte aus Tannenholz.»Bier?«fragte er.
»Korn und was zu essen«, sagte ich.
»Und die Dame?«fragte Alfons.
»Die Dame will auch einen Korn«, sagte Patrice Hollmann.
»Heftig, heftig«, meinte Alfons.»Es gibt Schweinerippchen mit Sauerkraut.«
»Selbstgeschlachtet?«fragte ich.
»Klar.«
»Aber die Dame möchte sicher etwas Leichteres essen.«
»Kann nicht ihr Ernst sein«, meinte Alfons.»Schauen Sie
sich erst mal die Rippchen an.«
Er ließ den Kellner eine Portion zeigen.»War eine wunderbare Sau«, sagte er.»Prämiiert. Zwei erste Preise.«
»Da kann natürlich niemand widerstehen«, erwiderte Patrice Hollmann zu meinem Erstaunen mit einer Sicherheit, als verkehre sie schon Jahre in der Kaschemme hier.
Alfons zwinkerte.»Also zwei Portionen?«
Sie nickte.
»Schön! Werde mal selbst aussuchen.«
Er ging in die Küche.»Ich nehme meine Zweifel wegen des Lokals zurück«, sagte ich.»Sie haben Alfons im Sturm erobert. Selbst aussuchen, das macht er sonst nur bei Stammgästen.«
Alfons kam zurück.»Habe euch noch eine frische Wurst 'reingegeben.«
»Keine schlechte Idee«, sagte ich.
Alfons sah uns wohlwollend an. Der Korn kam. Drei Gläser. Eins für Alfons mit.»Na, denn Prost«, sagte er.»Auf daß unsere Kinder reiche Eltern kriegen.«
Wir kippten die Gläser. Das Mädchen nippte nicht, es kippte auch.
»Heftig, heftig«, sagte Alfons und schlurfte zur Theke zurück.
»Schmeckt Ihnen der Korn?«fragte ich.
Sie schüttelte sich.»Etwas kräftig. Aber ich kann mich doch vor Alfons nicht blamieren.«
Die Schweinerippchen hatten es in sich. Ich aß zwei große Portionen, und auch Patrice Hollmann aß bedeutend mehr, als ich ihr zugetraut hatte. Ich fand es großartig, daß sie so gut mitmachte und sich so ohne weiteres in das Lokal fand. Sie trank auch ohne Ziererei noch einen zweiten Korn mit Alfons.
Der zwinkerte mir heimlich zu, er fände die Sache richtig. Und Alfons war ein Kenner. Nicht gerade in bezug auf Schönheit und Kultur – wohl aber in bezug auf Kern und Gehalt.
»Wenn Sie Glück haben, lernen Sie Alfons in seiner menschlichen Schwäche kennen«, sagte ich.
»Das möchte ich mal«, erwiderte sie.»Er sieht aus, als hätte er keine.«
»Doch!«Ich zeigte auf einen Tisch neben der Theke.»Da…«
»Was? Das Grammophon?«
»Nicht das Grammophon. Chorgesang! Alfons hat eine Schwäche für Chorgesang. Keine Tänze, keine klassische Musik – nur Chöre: Männerchöre, gemischte Chöre -, alles, was da an Platten liegt, sind Chöre. Da sehen Sie, er kommt.«